Die paar Narren, die am Fastnachtssonntag über die breiten Boulevards hüpfen, zählen nicht. Der Rosenmontag wird strikt ignoriert. Doch im Mai, wenn woanders alles vorbei ist, schlägt Berlin zu. Dann steigt das größte Straßenfest der Republik – außer es ist Corona.
Ausgerechnet im 25. Jahr seines Bestehens muss er wieder ausfallen – der weltbekannte Berliner Karneval der Kulturen. Auch wenn er erst Ende Mai stattfinden sollte, das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg hat alles abgesagt, auch das traditionelle Myfest und das „LesBiSchwule"-Parkfest im Volkspark Friedrichshain. Zur Begründung hieß es, aktuell sei nicht absehbar, wann sich die Lage entspannt. Auch bei sinkenden Infektionszahlen in den warmen Monaten sei es, solange keine Herdenimmunität vorliegt, keine gute Idee, wieder zu öffentlichen Festen und Großveranstaltungen zu laden. Angesichts des langen Planungsvorlaufs sei sinnvoll und fair für alle Beteiligten, bereits jetzt zu entscheiden, dass sie nicht stattfinden werden, sagte Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne). Bitter – denn das ist bereits das zweite Mal, dass der Karneval der Kulturen abgesagt werden muss. Denn dieses besondere Pfingstfest bietet für Berlin die einmalige Gelegenheit zu zeigen, wie bunt, vielfältig und divers die Stadt ist. Jedes Jahr besuchen über eine Million Menschen das Ereignis. Mehr als 5.000 Gruppen beteiligen sich an dem Umzug – balinesische Tempeltänzerinnen, südamerikanische Tango-Gruppen, chinesische Trommler, afrikanische Krieger, arabische Bauchtänzerinnen – die Auswahl ist riesig in Berlin, wo 180 Nationen zusammenleben. Kulturvereine, Schulklassen, Musikgruppen und Tanzbegeisterte, Künstlerkollektive – jede Gruppe wählt ein eigenes, ihr wichtiges Thema, mit dem sie sich intensiv auseinandersetzen und es – häufig in monatelanger Vorarbeit – künstlerisch umsetzen. Am Pfingstsonntag wird die Straße zur Bühne, wenn die Arbeit der vergangenen Wochen zur Aufführung auf der knapp 3,5 Kilometer langen Umzugsstrecke gebracht wird. Im Unterschied zu vielen anderen Karnevals auf der Welt hebt der Karneval der Kulturen keine bestimmte Karnevalstradition hervor. Alles sind gleichberechtigt – und gleich willkommen.
180 Nationen präsentieren ihre Kultur
Als 1996 alles begann, war es nur ein Umzug. Heute dauert das Fest von Freitag bis Pfingstsonntag. Hunderte von Buden und Streetfood-Küchen bieten an, was auf der Welt gegessen wird. Dazwischen Trödel, Kostüme, exotische Mitbringsel. Und Dutzende von Bühnen, auf denen von anatolischem Jazz über Afrobeat bis zu japanischem Fusionrock, Mestizo-Musik und Balkan-Beats zu hören ist, was das Ohr begehrt.
Stärker noch als heute, hatte das Fest auch einmal eine gezielt politische Funktion. Christiane Dramé von Piranha Arts, dem Träger und Orgaisator des Festivals, schreibt: „Als der Karneval der Kulturen 1996 zum ersten Mal durch die Straßen Kreuzbergs zog, verstand er sich als Antwort auf fremdenfeindliche Ausschreitungen, die mit den rassistischen Angriffen in Rostock-Lichtenhagen eine erste bestürzende Zäsur setzten. Ein Vierteljahrhundert später errichtet Europa neue Grenzzäune, während die Stimmung im Land von engagierter Willkommenskultur bis zu offener Gewalt gegen Menschen aus anderen Kulturen sehr verschiedene Gesichter zeigt.
Damals wie heute bilden Berliner Communitys mit diversem kulturellen Hintergrund den Kern des Karnevals. Die Gruppen nehmen sich mit dem Karneval den öffentlichen Raum als klarem und sichtbarem Teil unserer Gesellschaft. Damit trägt der Karneval der Kulturen zum Empowerment derjenigen bei, die über das gesamte Jahr kulturell und integrativ aktiv sind."
Hoffen auf viele kleine Paraden im Kiez
So ganz möchte sich Piranha Arts vom Karneval der Kulturen in diesem Jahr nicht verabschieden. In einem Statement dazu heißt es:
„Es ist natürlich – leider – korrekt, dass es den Karneval der Kulturen im klassischen Format Pfingsten nicht geben kann, wie es das BA Friedrichshain-Kreuzberg bereits kommuniziert hat. Das heißt aber nicht, dass es gar nichts gibt.
Wir haben uns letzte Woche mit der Kulturverwaltung verständigen können, dass wir einen Karneval der Kulturen veranstalten, wenn auch dezentral und signifikant kleiner. An einem Tag im August (außerhalb der Ferien) möchten wir Auftrittsmöglichkeiten für Gruppen des Straßenfests und des Umzugs an einigen dezentralen Orten in der Stadt schaffen. Abhängig von den unterschiedlichen Gegebenheiten vor Ort sind sowohl Bühnenauftritte als auch kleine Paraden denkbar. Wir sehen den Karneval als eine zutiefst analoge Veranstaltung, die auf der Straße passiert und sich als digitales Format nicht eignet. Von daher war und ist diese Variante für uns keine Option."