Die Toten der Kriege sollen nicht vergessen werden. Das ist Bundeswehr-Reservist Sven Herchet ein Anliegen. Deshalb sammelt er unermüdlich Spenden für die Pflege von Kriegsgräbern.
Wer sich an einer zugigen Straßenecke stundenlang die Beine in den Bauch steht, dem nasskalten, trüben Wetter trotzt und dennoch lächelnd vorüber eilende Passanten anzusprechen versucht, der muss von einer besonderen Mission beseelt sein. Man kennt diese lauernde Körperhaltung, diese offensive Mimik von Tierschützern oder religiösen Fanatikern in belebten Fußgängerzonen.
Sven Herchet ist keiner von beiden. Aber auch er hat ein Anliegen, und dass es ihm ernst ist, erkennt man an seiner Uniform und seiner Sammelbüchse. Der Mann ist zuallererst Soldat, Panzergrenadier, aktiver Reservist der Bundeswehr und so einer lässt sich nicht kleinkriegen, schon gar nicht von diesem Nieselwetter mit Temperaturen knapp über null. Direkt vor einer der letzten Postfilialen im Berliner Westend steht er. Da kommen die Leute hin, die noch kein Online-banking machen und tagsüber viel Zeit haben. Eine taktisch geschickte Ortswahl, ein schlauer Plan. Aufdringlich ist der Oberstabsgefreite der Reserve Herchet nicht, aber voller Begeisterung und Energie. Straff und gerade steht er da, die Stimme deutlich, niemals schneidig. Ob und wie viele Orden Sven Herchet womöglich trägt, man sieht es nicht unter seinem geschlossenen Mantel. Auch kann der Zivilist nicht einschätzen, welchen militärischen Rang er bekleidet, aber das soll heute auch zweitrangig sein, wo Herchet keine Waffe, sondern eine Sammelbüchse in seinen Händen hält. An dem sichtbaren, hellblauen Vergissmeinnicht jedoch, der Symbol-Blume für das Gedenken an Kriegstote, kann man klar erkennen, worum es dem Kameraden Herchet geht: Er sammelt für den Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge. Und das macht er seit Langem schon, verstärkt in den Monaten Oktober, November – den Monaten der Sammeloffensiven.
Man muss kein Pazifist sein
Der gemeinnützige Verein wurde 1919 gegründet und pflegt Kriegsgräberstätten, seit den 1960er-Jahren die Ruhe- und Gedenkstätten für alle Opfergruppen: Soldaten, aber auch Bombenopfer, Opfer der Shoa und weitere Verfolgte. In Zahlen ausgedrückt: die Gräber von 2,8 Millionen Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft auf 832 Friedhöfen in 46 Ländern. Die Zeiten haben sich dann doch geändert: Was früher eher der Verherrlichung blinden Gehorsams und männlicher Landser-Ehre diente, bekennt sich heute zu deutscher Kriegsschuld und fühlt sich gerade der Jugend gegenüber zu friedenspädagogischer Arbeit und Aufklärung verpflichtet. Missverständnisse sind seine Sache nicht und deshalb stellt Sven Herchet unmissverständlich klar: Der 8. Mai 1945 war nicht der Tag der Niederlage, sondern der Tag der Befreiung. Ein Pazifist muss man deshalb als Spendensammler für den Volksbund noch lange nicht sein. Schließlich ist nicht jeder Tierschützer auch Vegetarier. Kein Zweifel: Sven Herchet ist nicht für Gewaltfreiheit um jeden Preis. Und er denkt und redet auch nicht so. Er ist Soldat aus Überzeugung, und natürlich schießt er im Verteidigungsfall.
Schule war für den heute 47-jährigen Berliner nicht das Ding. Es gibt Stress mit Lehrern; vielleicht auch deshalb, weil der Sven in seiner Klasse auch ohne Bestnoten beliebt ist. Und den anderen zeigt, dass man auch so gut durchkommen konnte: in der Disco, auf Partys und Reisen, bei den Mädels. Kein Vorbild, wie es die Lehrer gern hätten. Taschengeld hat er immer: Das verdient er sich vor und nach der Schule in einem Blumenladen. Und neben dem Schulalltag entdeckt er schon früh seine Leidenschaft für alles Militärische. Nicht wirklich verwunderlich, da englische und amerikanische Soldaten damals im Südwesten des geteilten Berlins im Straßenbild präsent waren, schneidig und schnieke. Die beeindrucken ihn sehr, und er kauft sich ähnliche Klamotten in einem Militärshop, spielt Krieg mit seinen Freunden direkt an der Mauer. Der Vater, ein Stahlgießer, die Mutter eine Hausfrau, die vier älteren Geschwister lassen ihn. Das ist nun ganz seine Welt: Abenteuer, Kameradschaft, Zelten, Lagerfeuer, einer für alle, alle für einen, da geht vielen jungen Männern das Herz auf. Er lernt nun Blumenhändler, aber eigentlich will er nur noch zur Bundeswehr. Und weil das für einen Westberliner vor dem Mauerfall nicht geht, würde er auch sofort nach Hamburg umziehen. So sein Plan. Er meldet sich dort schon mal an. Es dauert, aber 1992 wird er eingezogen, wird Panzergrenadier. Nach seiner aktiven Zeit bleibt er Reservesoldat, ihm gefallen die Übungen, die mehrmals im Jahr stattfinden, und ihn erfüllt auch die stolze Gewissheit, weiter dazuzugehören.
Durch Zufall kommt Sven Herchet mit der Kriegsgräberfürsorge in Kontakt, und deren Arbeit macht auch ganz persönlich Sinn für ihn. Sein Großvater fiel im Zweiten Weltkrieg, er liegt an der dänischen Küste begraben. Er und all die anderen Toten der Kriege sollen nicht vergessen werden. Hitler, den er einen „Giftzwerg" nennt, darf sich nicht wiederholen. Deshalb geht es um mehr als um Grabpflege, Kranzniederlegungen und Gedenken. Mit den Leuten darüber reden, wie schlimm es wirklich war und die Erinnerung wachhalten, das kann er am besten, wenn er auf der Straße für den Volksbund sammelt. Nicht alles, was er in Büchern gelesen hat, stimmte. Oft muss es schlimmer gewesen sein zwischen Siegern und Besiegten. Wenn er den Passanten seine Sammelbüchse entgegenhält, stößt er nicht immer auf Verständnis. Dumme Sprüche, so sagt er kopfschüttelnd, kennt er zur Genüge. Ob er Geld für neue Panzer sammle, wird er manchmal höhnisch gefragt. Oder ob es nicht besser wäre, diese ganzen Soldatenfriedhöfe einzuebnen, damit mehr Platz wäre für den Bau von Moscheen, die überall hochgezogen würden. Mit solchen Leuten zu diskutieren erscheint ihm sinnlos, er bleibt freundlich, aber dann hört er einfach nicht mehr hin. In manchen Berliner Bezirken sammelt er nicht, in Kreuzberg oder Neukölln. Dort fordert der Zeitgeist allergische Reaktionen auf einen Mann in Bundeswehr Uniform. Die Dummen sterben nicht aus, aber solch aggressive Nörgler sind die Minderheit. Wer hingegen ein paar Münzen in seine Sammelbüchse steckt, tut es bewusst, und wenn sich ein Gespräch entwickelt, hört man einander zu. Das gilt für Junge und Alte, und es sind eben auch nicht nur Deutsche, die da spenden. Manchmal klingelt Sven Herchet auch direkt an den Türen von Botschaften und Konsulaten. Zur Sicherheit trägt er dann eine kleine Schrifttafel mit sich, auf der sein Anliegen in Englisch unmissverständlich erklärt wird. Bei den Amerikanern und Franzosen läuft es am besten, sagt er.
Manch einer rümpft die Nase
Wenn er für die Kriegsgräberfürsorge sammelt, packt ihn der Ehrgeiz. 50 bis 60 Spender braucht er pro Tag, wenn er seine selbstgesteckten Ziele erreichen will. Und wenn er zwischen Oktober und November den ganzen Tag über sammelt, an Straßenkreuzungen, auf Friedhöfen, vor Supermärkten, dann will er jedes Jahr wieder der erfolgreichste Sammler in ganz Berlin sein.
2019 hat er exakt 3.006 Euro zusammen bekommen, bis Anfang Dezember 2020 kam er auf 3.148,23 Euro. Das rechnet er gern vor.
Sven Herchet sieht sich stets als Soldat, das sieht, wer ihn zu Hause besucht. Urkunden und Abzeichen zieren die Wände, in der Küche stehen Kaffeebecher mit Logos aus der Welt des Militärs im Regal. Mancher würde darüber die Nase rümpfen, weil er denkt, dass nur ein überzeugter Pazifist sich mit reinem Herzen für die Kriegsgräberfürsorge engagieren könnte. Darüber zerbricht sich Sven Herchet nicht den Kopf. Als Soldat der Reserve kann und will er in Friedenszeiten auch auf diese Weise seinem Land dienen. So einfach und so richtig ist das für ihn. Dafür opfert er viel Freizeit, in einem Blumenladen arbeitet er nicht mehr, der Vater von drei Kindern hat sich als Lasertechniker selbstständig gemacht.
Er freut sich, wenn dies auch öffentliche Anerkennung findet. Wer sich für eine gemeinnützige Sache engagiert, stärkt seine Selbstachtung. Als sich der Bezirksbürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf mit ihm bei einer Sammelaktion gemeinsam fotografieren ließ, veröffentlichte er das Bild auf seiner Facebook-Seite. Die Landesnadel in Bronze der Reservistenlandesgruppe Berlin wurde ihm auch verliehen. Und eine Urkunde des Volksbundes, die ihn für seine erfolgreiche Sammlung 2019 ehrt, hat man ihm ebenfalls überreicht. Und so gehört er immer dazu, wenn sich Politiker, Militärs und andere öffentliche Persönlichkeiten treffen, um einmal im Jahr der Kriegstoten zu gedenken.