Im August vergangenen Jahres übernahm Nathan Friedenberg die Leitung des Mitte Museums. FORUM sprach mit dem Experten für Erinnerungskultur während eines Rundgangs durch den Kiez.
Ein grauer Januartag, die Wolkendecke ist dicht, die Schneeregenwahrscheinlichkeit hoch. Nicht gerade das schönste Wetter für einen Spaziergang durch den Kiez rund um das Mitte Museum – aber Museumschef Nathan Friedenberg hat heute endlich Zeit. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen steht er vor „seinem Museum" und spricht über das Besondere von Berlin-Mitte, spannend für einen Historiker wie Friedenberg, weil so geschichtsträchtig. Aber nicht weniger interessant ist für ihn die Badstraße gleich um die Ecke. Ihre Geschichte soll auch in der neuen Ausstellung thematisiert werden, die momentan vorbereitet wird. Und so wird der heutige Spaziergang ein Ausflug in den Wedding um die Jahrhundertwende.
Doch schon nach ein paar Schritten ein erster Stopp, Friedenbergs Blick fällt nämlich auf das blaue Schild, das den Weg zum Museum weist. Heimatmuseum steht da, aber diesen Begriff hört der Museumsleiter gar nicht so gern. Und hat deshalb veranlasst, dass dieses Schild bis zur Eröffnung der neuen Ausstellung ausgetauscht wird. Heimat – da werden viele etwas nostalgisch, sagt Friedenberg. Es drängt sich die Frage auf: Kann eine Stadt Heimat sein oder Heimat werden? Wie wird die Stadt wahrgenommen? Wer verändert sie wie und warum? Gibt es ein Recht auf Stadt? Wer bestimmt über den öffentlichen Raum? Und wie können verloren gegangene Freiräume wieder zurückgeholt werden?
Die neue Dauerausstellung im Mitte Museum will diesen Fragen nachspüren, die Antworten sind Angebote mit Anregungen zum Diskurs. Das Grundkonzept zur Dauerausstellung gab es bereits, als Nathan Friedenberg letztes Jahr dazu kam. Er konnte sich in die Umsetzung einbringen, bei der Auswahl der Objekte und dabei, was diese zu erzählen haben. Im Raum „Architekturen der Macht" wird es zum Beispiel um die Folgen der Industrialisierung für Gesellschaft und Arbeit gehen. Darum, mit welchen neuen architektonischen Entwicklungen Herrschende und Großindustrielle versuchten, die Arbeiterschaft und Bevölkerung zu steuern und zu kontrollieren.
Natürlich spielt auch die Gegenwart eine große Rolle. „Ein ganz toller Raum ist ‚Stadt. Bild. Text.‘, erzählt Museumsleiter Friedenberg weiter und kommt dabei etwas ins Schwärmen. „Zu sehen sind künstlerische Werke, Fotos, Literatur und Musik, die über die Jahrhunderte entstanden sind. Und die zeigen, wie die Menschen ihre Stadt erlebten und wie sie sich fühlten, wonach sie strebten, aber auch, worunter sie litten und wie sie die Stadt veränderten." In einem anderen Raum geht es um das „Recht auf Stadt". Dort werden die Lebenserfahrungen von Migranten aufgegriffen und dargestellt. „Wir machen deutlich, dass sie nicht passiv sind oder Opfer. Sie werden aktiv und organisieren sich, sie finden zu einer eigenen Stimme und holen sich so einen Teil des Stadtraumes zurück. Die ‚Ghettostreber‘, eine Initiative junger Leute aus dem Wedding, haben uns erzählt, wie sie ihren Stadtteil erleben." Auf kreative Art sollten sich Kinder und Jugendliche mit dem Thema Stadt auseinandersetzen. Das geht derzeit wegen der Schulschließungen noch nicht, Nathan Friedenberg hofft aber, dass sich später doch noch eine Möglichkeit findet, weil daraus ein Film entstehen soll.
Noch ist das Museum geschlossen, der Wiedereröffnungstermin erst einmal auf den 29. April verschoben. Zusammen mit einer Weddinger Agentur wurde ein neues Corporate Design erarbeitet, das nicht nur die Ausstellung mit Publikationen verbindet, sondern besonders den Internetauftritt neu erfindet. Der wird gerade aktualisiert und soll demnächst online gehen. Es gibt also auch im Lockdown reichlich zu tun für Museumschef Friedenberg, der ja auch für das Sachgebiet Erinnerungskultur und Geschichte verantwortlich ist.
Berliner Senat will die Kolonialgeschichte aufarbeiten
Für den Historiker, der in Wien und London studierte und in Tel Aviv promovierte, eine Herzensangelegenheit. „In meiner Doktorarbeit habe ich mich zwar mit deutschsprachigen Juden in Palästina beschäftigt, aber viele von denen kamen auch aus Berlin. Obwohl in Hamburg geboren, bin ich quasi Berliner, habe die meiste Zeit hier gelebt. Mich fasziniert besonders die jüdische Geschichte, die gerade in Mitte in der Vergangenheit einerseits so furchtbar war, andererseits aber auch so vielfältig war und ist." Friedenberg ist Mitherausgeber eines im Dezember vom Mitte Museum und dem Bezirksamt herausgegebenen Buches „Systematik der Deportationen. Erinnerungen und Gedenken an die Deportationen der Juden aus Berlin 1941–45".
Der zweite Band der dreiteiligen Reihe soll Ende 2021 erscheinen und wird sich mit Dekolonialismus im Stadtteil Mitte beschäftigen. Darunter versteht man einerseits die politischen Umwälzungen als auch die gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen in den ehemaligen Kolonien sowie deren globale Auswirkungen. Ein Beispiel: die seit Jahren geführte Debatte um Straßennamen mit kolonialem Bezug wie im Afrikanischen Viertel in Berlin-Wedding. Im vergangenen November luden Bezirksamt Mitte und das Mitte Museum zusammen mit dem Verein Each One Teach One (EOTO) zu einem Online-Forum ein. Im Fokus stand der Austausch über einen postkolonialen Lern- und Erinnerungsort am Standort der heutigen Mohrenstraße und nicht die Diskussion über die Umbenennung. Die Bezirksverordnetenversammlung Mitte hatte die Umbenennung der Straße beschlossen, nach heutigem Demokratieverständnis sei der bestehende rassistische Kern des Namens belastend, hieß es.
Als neuen Namen schlagen die Bezirksvertreter Anton Wilhelm Amo vor. Der Philosoph und Rechtswissenschaftler war zu Beginn des 18. Jahrhunderts der erste Gelehrte afrikanischer Herkunft an einer preußischen Universität.
Auch der Senat will Geschichte und Folgen des Kolonialismus im Land Berlin aufarbeiten. Dazu wurde 2019 mit der Initiative für postkoloniales Erinnern in der Stadt ein Aufarbeitungs- und Erinnerungskonzept beschlossen. Der Leitgedanke: „Berlin übernimmt Verantwortung für seine koloniale Vergangenheit". Bis Ende 2024 soll es in diesem Rahmen verschiedene Veranstaltungen und Ausstellungen geben, dazu die lokale Kolonialgeschichte erforscht und der Bezug zur Gegenwart deutlich gemacht werden. Im Wedding finden sich dazu auch Bezüge, die das Mitte Museum thematisiert. „Die Gegend um die Badstraße war mal ein beliebtes Ausflugsziel mit Biergärten, Theatern und Kinos", erklärt Nathan Friedenberg. „Was weniger bekannt ist: Zur Unterhaltung gab es auch in einigen Vergnügungsstätten sogenannte Spezialitätenaufführungen. Neben Gesangsdarbietungen wurden unter anderem auch Menschen aus fernen Ländern präsentiert."
Zurück am Museum ist es ziemlich windig geworden. Nathan Friedenberg fröstelt, jetzt schützt auch der Mantelkragen nicht mehr. Es gäbe noch viel zu der Problematik zu vermitteln, sagt er mit Blick zum Museum, aber der Platz sei begrenzt. „Wir haben noch Ausstellungsflächen im Rathaus Tiergarten. Ich möchte diese gerne ab August als eine Art Dependance nutzen, um wichtige Themenbereiche wie die DDR-Zeit, die wir in der Dauerausstellung nicht so umfassend darstellen konnten, noch ausführlicher zu beleuchten. Im Rathaus ist immer viel Publikumsverkehr und ich hoffe deshalb, dass wir so auch mehr Menschen neugierig machen können auf einen Besuch bei uns im Mitte Museum."