Die Miniserie „Chernobyl" rekonstruiert die Katastrophe von 1986, ist bei Sky zu sehen und unter anderem bei Amazon Prime zubuchbar. Dass man sich dem Sog kaum entziehen kann, liegt an den menschlichen Details – das Anschauen lohnt sich.
Es ist der 26. April 1988, und Waleri Legassow erhängt sich. Der sowjetische Wissenschaftler war Leiter des Untersuchungskomitees, das nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl exakt zwei Jahre zuvor kurz nach der Explosion gegründet wurde. Vor seinem freiwilligen Abschied aus dem Leben bespricht er einige Tonbänder, die seine Sicht auf den Ablauf schildern und unter anderem das zu geringe Strafmaß für Anatoli Djatlow anprangern.
Dessen Streben nach Karriere macht er mit hauptverantwortlich für den Gau, der die verwaiste und verstrahlte Stadt Prypjat heute zum Mahnmal gegen Atomkraft macht. Der vom Anbieter HBO produzierte Fünfteiler „Chernobyl" geht mit einem Knall weiter, den man in der Distanz sieht – aus der Wohnung eines Feuerwehrmannes, der in einer der grauen Plattenbauten in der ehemaligen Sowjetunion lebt.
Die Explosion in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl wird später ausführlich und umso spektakulärer gezeigt. Es ist ein künstlerischer Kniff, der auch bereits in James Camerons „Titanic" und Clint Eastwoods „Sully" fulminant funktionierte. Der Kamerad Wassili Ignatenko (Adam Nagaitis) jedenfalls wird wegen seiner nuklearen Verstrahlung in einem Moskauer Krankenhaus später langsam dahinsiechen und seine schwangere Frau Ljudmila (Jessie Buckley) zurücklassen.
Vonseiten der Regierung wird Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård) zur Untersuchung geschickt. Dem schluffigen Apparatschik stellt man besagten Waleri Legassow (Jared Harris) zur Seite. Dieser erkennt sofort die Gefahr der sich anbahnenden Katastrophe, von der große Teile Europas und Asiens betroffen sein könnten. Direkt durch das Verseuchen des Wassers in unmittelbarer Nähe und von großen Teilen der Landwirtschaft, was das Abschneiden der Lebensmittelversorgung für Hunderttausende oder gar Millionen bedeutet. Indirekt bedroht sind benachbarte Länder wie auch Deutschland, wo Fallout, also radioaktiv verseuchter Niederschlag, ebenfalls kaum mehr beherrschbaren Schaden anrichtet.
Atmosphäre erzeugt Angstschweiß
Die langsame Annäherung von Sowjet-System und mahnender Wissenschaft wird anhand der schauspielerischen Leistungen der beiden glänzenden Hauptdarsteller perfekt dargestellt. Kongenial unterstützt werden die Protagonisten durch Emily Watson als Ulana Chomjuk. Diese fiktive Figur ist die symbolische Verkörperung der zahlreichen Wissenschaftler, die im Nachgang dabei halfen, die Vorgänge zu rekonstruieren. Dabei im Fokus: Anatoli Djatlow (Paul Ritter), der als stellvertretender Chefingenieur des Atomkraftwerks für einen Test verantwortlich zeichnet, der letztlich zu dem Unglück führte.
Die brillante Darstellerriege wird unterstützt von der unaufgeregten und immer das große Ganze im Blick behaltenden Regie des Schweden Johan Renck. Hinzu kommt das unglaublich gute Script von Craig Mazin, der vorher – man glaubt es kaum – die Drehbücher von je zwei Teilen der „Scary Movie"- und der „Hangover"-Filme verfasste. Auf diesem Fundament zeigt sich sehr gut, wie sehr das damalige Sowjet-Regime die Ereignisse klein halten wollte und wie knapp die Welt an einem kaum vorstellbaren Unglück vorbeischlitterte. Kostüme, Frisuren und Sets unterstreichen die Atmosphäre, die einem regelrecht den Angstschweiß auf die Stirn treibt – oder ist das bereits atomares Fieber?
Bei der Dramatisierung als Fernsehserie nahmen sich die Produzenten einige Freiheiten. So ist die Darstellung von Djatlow als fiesem Bösewicht, dem man seine Strahlenverseuchung mal so richtig gönnt, wohl etwas überzeichnet (aber schauspielerisch eben famos). In einigen Einstellungen erkannten einige Kritiker Plastikfenster an den Häusern, die es seinerzeit nicht gab. Die Erschießungen von nach der Evakuierung Prypjats umherstreunenden Haustieren habe sich an anderen Plätzen abgespielt. Auch hätten die Bergleute nicht blankgezogen wegen der großen Hitze untertage. Wenn auch nicht alles historisch korrekt wiedergegeben wird – es sind diese angepassten Details, die „Chernobyl" emotional packen und dem Apparat menschliche Antlitze verleihen.