Lange galt der moderne Mensch als perfekter Abschluss der Evolution. Vor rund 15 Jahren wurde diese Annahme durch eine rasant an Fahrt aufnehmende wissenschaftliche Diskussion und inzwischen durch Entdeckungen wie eine dritte Unterarm-Arterie oder ein Knie-Knöchelchen immer mehr infrage gestellt.
Als der renommierte britische Genetik-Professor Steve Jones, heute Direktor des Instituts für Biologie am University College London, 2008 die provokante These „Die menschliche Evolution ist beendet" aufstellte, erregte er damit nicht nur weltweit mediale Aufmerksamkeit, sondern löste auch heftigen Widerspruch in Wissenschaftskreisen aus. Zur Erklärung verwies Prof. Jones auf das aus seiner Sicht nicht mehr Vorhandensein einer „natürlichen Auslese", weil vor allem in den westlichen Ländern aufgrund der vorherrschenden soziokulturellen Bedingungen prinzipiell eine Fortpflanzung aller fortpflanzungswilligen Individuen möglich sei. Klassische Selektionsverfahren seien durch die modernen Gesellschaftssysteme erloschen. Laut Jones erreichten rund 98 Prozent aller Kinder in der westlichen Welt ein Alter, in dem sie sich fortpflanzen können. „Gene, die anfällig für Krankheiten und Hunger gemacht haben, hatten kaum eine Chance, weitergegeben zu werden", so Jones. „Heute kommt jeder durch. Wir haben uns glücklicherweise vom Darwinismus verabschiedet."
Die Jones-Kritiker führten seinerzeit kaum direkte wissenschaftliche Gegenargumente an. Eine Ausnahme bildete beispielsweise der Evolutionsbiologe Prof. Thomas Juncker von der Universität Tübingen, der auf eine „massive pränatale Auslese" im Mutterleib verwies, der bis zu 30 Prozent der Embryonen zum Opfer fallen würden. Sein Kollege Prof. Claus Wedekind von der Universität Lausanne bezeichnete die Jones-These einfach nur als „abstrus", weil Evolution nicht nur durch Selektion entstehe. „Durch die hohe Mobilität heutzutage werden Gene aus aller Welt durchmischt", so Prof. Wedekind. „Die Menschen ändern sich – das ist Evolution." Der französische Anthropologe Prof. Jean-Jacques Hublin, heute Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, erklärte es für „sehr unwahrscheinlich", dass die Evolution des Menschen tatsächlich abgeschlossen sei. Vor allem die Gentechnik wird laut Prof. Hublin die Entwicklungsgeschichte des Menschen verändern. „Wir werden selbst an unserem Genom arbeiten", so Prof. Hublin. „Es wird Evolution geben, aber sie wird anders sein als die, die wir kennen." Eine ebenso kühne wie möglicherweise zutreffende Prognose, wenn man sich die ungeahnten Möglichkeiten vor Augen führt, die die 2020 mit dem Chemie-Nobelpreis gekrönte Entwicklung der Genschere Cripr eröffnen könnte.
„Evolution schreitet voran. Man braucht nicht einzugreifen"
2013 erhielt Prof. Jones allerdings für seine auf dem Stopp der „natürlichen Auslese" beruhende These vom Ende der Evolution Unterstützung durch keinen Geringeren als den legendären britischen Naturforscher und Tierfilmer Sir David Attenborough. „Ich denke, dass wir die Evolution gestoppt haben. Denn wenn die natürliche Auslese – wie von Darwin dargelegt – den Hauptmechanismus der Evolution darstellt, dann haben wir die natürliche Auslese gestoppt. Unser evolutionärer Prozess ist jetzt kultureller Art, Menschen haben ein großes kulturelles Erbe – so wie sie ein physisches, genetisches Erbe haben. Wir können das Wissen über Computer, Fernsehen, Elektronik, Flugzeuge und so weiter vererben. Jede Generation hat alle diese Bücher, in denen solche Dinge stehen, und so schreitet unsere kulturelle Evolution mit außerordentlicher Geschwindigkeit voran." Prof. Jones war natürlich von Attenboroughs Einschätzung hellauf begeistert: „Die Dinge sind für unsere Spezies einfach zum Halten gekommen. Nichts ändert sich mehr. Wir haben Stagnation erreicht."
Ähnlich sah das seinerzeit der US-amerikanische Paläontologe und Biologie-Professor Peter Ward von der University of Washington in Seattle: „Ich glaube nicht, dass wir noch Veränderungen sehen werden – abgesehen von denen, die wir selbst vornehmen, wenn wir zum Beispiel Menschen genetisch durch ‚Bio-Engineering’ verändern, indem wir Gene in ihre Körper einbringen, die sie länger leben lassen oder sie stärker und gesünder machen." Natürlich gab es auch wieder jede Menge gegenteilige wissenschaftliche Meinungen. So verkündete beispielsweise der britische Paläoanthropologe Prof. Chris Stringer vom Natural History Museum in London: „Die Evolution schreitet unablässig voran. Da braucht man gar nicht einzugreifen. Das ist alles völlig unvorhersehbar. Zum Beispiel hat unsere Gehirngröße in den vergangenen 10.000 Jahren wieder abgenommen." Sein Landsmann, der Genetikforscher Dr. Adam Rutherford, stimmte Attenborough zwar in dem Punkt zu, dass sich der Auslesedruck auf den Menschen elementar verringert habe, aber eine so klare Aussage über den Stand der Evolution, wie sie Attenborough gemacht habe, sei absolut nicht möglich: „Die Frage, ob die Menschen sich noch weiterentwickeln, muss eindeutig mit ‚das wissen wir nicht’ beantwortet werden, denn dafür sind die Zeiträume viel zu kurz."
Bis heute hält die Diskussion über Ende oder Fortschreiten der Evolution unverändert an. In angesehenen deutschsprachigen Massenmedien von „Zeit" über „Welt" bis hin zu „Standard" oder „Neue Zürcher Zeitung" wird eine muntere Fortsetzung der Evolution propagiert.
Als Einzelbeispiele dafür werden stets wissenschaftliche Entdeckungen ins Feld geführt oder meist nur Pro-Evolutionsbefürworter wie Prof. Hublin oder der Anthropologe und Biologe Prof. Philipp Mitteröcker vom Departement für Evolutionsbiologie der Universität Wien zu Wort kommen gelassen. In der „Zeit" wurden sogar Autisten mit einer genialen Inselbegabung, dem sogenannten Savant-Syndrom, als eine eventuell mögliche neue Stufe der menschlichen Evolution vorgestellt. Nicht unbedingt wahrscheinlich, vor allem nicht im Vergleich zu anderen Evolutionen der Menschheit während der letzten Jahrhunderte oder Jahrtausende.
Reproduktionserfolge sind ausschlaggebend
So hat sich seit dem Mittelalter im Laufe der evolutionären Entwicklung als direkte Folge der Ernährungsumstellung der Unterkiefer verkleinert und dadurch einen Überbiss und einen Rückgang der Weisheitszähne herausgebildet. Um die vormals natürliche Unverträglichkeit von Milchprodukten zu überwinden, haben vor allem Europäer durch genetische Mutation eine Laktosetoleranz ausbilden können. Auch die Abkehr von der ursprünglich dunklen Hautfarbe als Folge der Einwanderung in Regionen mit geringerer Sonneneinstrahlung ist an dieser Stelle zu nennen, weil nur hellere Haut im neuen Umfeld die Bildung von Vitamin D ermöglichen konnte. Hochinteressant ist eine aktuell in Afrika zu beobachtende menschliche Evolution, die dem massiven, auf Malaria zurückführbaren Selektionsdruck geschuldet ist. Aufgrund eines Gendefekts haben manche Menschen auf dem Schwarzen Kontinent eine Resistenz gegen die gefährliche Infektionskrankheit ausgebildet, allerdings macht sie genau dieser Gendefekt sehr anfällig für die Sichelzellenanämie, eine erbliche Erkrankung der roten Blutkörperchen, die in Afrika für extrem hohe Kindersterblichkeiten verantwortlich zeichnet.
Dank Prof. Mitteröcker ist die internationale Wissenschaft auf ein weiteres aktuelles Evolutionsproblem aufmerksam geworden: das zunehmende Missverhältnis zwischen dem schmalen Frauenbecken und immer größeren Babys beziehungsweise Babyköpfen. Der medizinische Fortschritt in Gestalt des Kaiserschnitts habe den evolutionären Selektionsdruck ausgebremst: „Weil seitdem auch Frauen mit schmalem Becken problemlos große Kinder zur Welt bringen können, verschwanden die Selektionsdrücke für einen weiten Geburtskanal und kleine Neugeborene fast vollständig." Darüber hinaus konnte Prof. Mitteröcker in einer Studie nachweisen, dass Frauen, die durch Kaiserschnitt zur Welt gekommen waren, ihrerseits deutlich häufiger ein Schädel-Becken-Missverhältnis entwickelt hatten als Frauen, die ohne diesen operativen Eingriff geboren worden waren. Für Prof. Mitteröcker steht außer Frage, dass Evolution letztlich hauptsächlich auf genetischen und phänotypischen Unterschieden basiert, die direkt mit dem Reproduktionserfolg in Verbindung stehen. Generell müsse man zur Kenntnis nehmen, dass die moderne Medizin auch einen ganz wesentlichen Einfluss auf evolutionäre Prozesse haben könne.
In einer 2017 im Fachmagazin „Plos Biology" veröffentlichten Studie entdeckten US-Wissenschaftler der New Yorker Columbia University laut eigenem Bekunden schwache Beweise für eine auf Genveränderungen zurückführbare natürliche Selektion von Anlagen für Alzheimer und Tabaksucht. Weitaus mehr internationale Beachtung fand eine Untersuchung, die Wissenschaftler vom Imperial College London Ende 2019 im „Journal of Anatomy" publiziert hatten. Denn nach Auswertung von insgesamt 66 Studien aus 27 Ländern, die in der Zeit von 1875 bis 2018 erschienen waren, konnten sie das immer häufigere Auftauchen eines rätselhaften Knöchelchens namens Fabella nachweisen, das sich an der Hinterseite des Kniegelenks gebildet hatte. Laut den Forschern hat sich die Verbreitung des auf den ersten Blicks völlig nutzlos erscheinenden Sesambeins im Laufe der letzten 100 Jahre mehr als verdreifacht, vor allem in Asien, wo bis zu 50 Prozent der untersuchten Knie eine Fabella aufgewiesen hatten, die mit Schmerzen und Arthrose einhergehen kann. Auch seien Männer und ältere Menschen davon häufiger betroffen als Frauen und junge Menschen. Eine in die Sehnen eingelagerte Fabella entsteht durch die allmähliche Verknöcherung von Knorpelzellen. Als Auslöser machten die Wissenschaftler genetische Veranlagungen, aber auch Umweltfaktoren oder mechanische Reize verantwortlich. Auch einen Zusammenhang mit gewandelten Ernährungsgewohnheiten, sprich besserer Nährstoffversorgung, und mit dem weltweit steigenden Körpergewicht der Bevölkerung wollten die Forscher nicht ausschließen. Auf die Frage, wie das verstärkte Wiederauftauchen der Fabella aus evolutionsbiologischer Sicht eingeordnet werden kann, hatten die US-Wissenschaftler keine Antwort parat.
Schon früh Forschung an Menschen
Diesbezüglich waren die australischen Forscher der Flinders University in Adelaide und der University of Adelaide erfolgreicher, die die erstaunliche Vermehrung einer dritten Unterarm-Arterie festgestellt hatten. Sie konnten in ihrer im September 2020 im „Journal of Anatomy" publizierten Studie einen klaren evolutionären Selektionsvorteil in Gestalt einer besseren Durchblutung der Arme anführen. Für ihre Untersuchung werteten die Wissenschaftler anatomische Literatur und Berichte über Obduktionen seit dem späten 19. Jahrhundert aus und führten selbst noch Forschungen an 78 Menschen aus, die in den Jahren 2015 und 2016 im Alter zwischen 51 und 101 Jahren verstorben waren. Dabei fanden sie heraus, dass sich die Zahl der Menschen, die über eine dritte Unterarm-Arterie verfügten, die als Median-Arterie bekannt ist, deutlich erhöht hatte. „Die Prävalenz lag bei Menschen, die Mitte der 1880er-Jahre geboren wurden, bei etwa zehn Prozent, während sie bei denjenigen, die im späten 20. Jahrhundert geboren wurden, bei 30 Prozent liegt. Das ist ein signifikanter Anstieg in einer sehr kurzen Zeit – wenn man den Zeitmaßstab der Evolution anlegt." Innerhalb von Jahrzehnten konnte daher eine medizinische Ausnahme zur anatomischen Normalität aufsteigen.
„Wenn dieser Trend anhält", so die australischen Forscher, „dann könnten bis 2100 alle Menschen diese Median-Arterie im Unterarm besitzen." Was aus anatomischer Sicht ziemlich überraschend wäre, weil diese spezielle Arterie lange als rein embryonale Struktur galt, „die normalerweise etwa in der achten Schwangerschaftswoche wieder rückgebildet wird", so die australischen Wissenschaftler. Die Median-Arterie war eigentlich nur für das frühe Embryostadium vorgesehen, während dessen sie als Hauptschlagader die entstehende Hand und den Unterarm mit Blut versorgt, und sollte eigentlich mit dem Vorhandensein der Ellen- und Speichen-Arterie, Arteria ulnaris beziehungsweise Arteria radialis, wieder verschwinden. Als Grund für die anatomische Veränderung führen die Forscher genetische Mutationen ins Feld.
„Aber auch Gesundheitsprobleme der Mutter in der Schwangerschaft oder beides könnten dazu führen, dass diese Arterie nicht rückgebildet wird." Allerdings steht dem daraus resultierenden Selektionsvorteil einer besseren Durchblutung laut den Wissenschaftlern ein höheres Risiko einer Erkrankung am sogenannten Karpaltunnelsyndrom entgegen, bei dem durch die Verengung einer durch die vom Unterarm bis zur Hand reichenden Röhre ein Nerv geschädigt wird – mit erheblichen Beeinträchtigungen für die Gesundheit der Hand. Aus Sicht der australischen Forscher sind ihre neuen Erkenntnisse rund um die Arteria mediana ein klarer Beweis für die Fortdauer der menschlichen Evolution: „Die Median-Arterie ist ein perfektes Beispiel dafür, dass wir uns noch immer weiterentwickeln."