Videospiel- und Internetabhängigkeit ist ein immer weiter verbreitetes Problem. Facharzt Dr. Daniel Illy spielt selbst, und kann deshalb auf Augenhöhe mit seinen Klienten arbeiten.
Herr Illy, wie kommt es, dass unter den Spielern die einen süchtig werden, die anderen aber nicht?
Das kann man nur individuell beantworten. Es gibt eine Veranlagung dafür, eine Sucht zu entwickeln, weil in der Familie vielleicht noch andere Suchterkrankungen eine Rolle spielen, die Genetik spielt mit hinein. Das findet man nicht immer klar heraus. Da kumulieren dann einige Faktoren, die so eine Sucht auslösen – die reine Zeit, die jemand mit Videospielen verbringt, ist noch nicht mal ausschlaggebend. Wir schauen deshalb gezielt nach Kriterien der Abhängigkeit.
Wann ist jemand süchtig?
In der Internet Gaming Disorder gilt, dass fünf von den folgenden neun Kriterien erfüllt sein müssen, um die Diagnose stellen. Die Kriterien sind, kurz gefasst: Betroffene beschäftigen sich gedanklich übermäßig stark mit Computerspielen. Sie werden unruhig, ängstlich oder kommen in traurige Stimmung, wenn sie diese Angebote nicht nutzen können. Sie verwenden immer mehr Zeit für Computerspiele oder versuchen erfolglos, diese Aktivität einzuschränken. Sie verlieren das Interesse an früheren Hobbys und anderen Vergnügungen oder setzen die Nutzung von Computerspielen fort, obwohl ihnen die Probleme bewusst sind. Sie täuschen andere über den Umfang ihrer Nutzung von Computerspielen oder nutzen sie, um negative Stimmungen abzubauen. Und sie setzen durch das Computerspielen wichtige Beziehungen, ihren Arbeitsplatz oder Ausbildungs- und Berufschancen aufs Spiel.
Enthalten Computerspiele gewisse Trigger, die süchtig machen können?
Seit Jahren weise ich immer wieder darauf hin, bei der Altersfreigabe stärker die Bindungsfaktoren zu berücksichtigen, die so ein Spiel hat, also den Suchtfaktor. Typische Beispiele solcher für Süchtige gefährlichen Spiele sind die, die es darauf anlegen, immer wieder gespielt zu werden, sogenannte Service Games, bei denen in einem Videospiel fortlaufend neue Spielinhalte bereitgestellt werden. Damit sollen der Wiederspielwert und die Langzeitmotivation gesteigert werden. Oder Free-to-Play-Spiele, das sind Computerspiele, bei denen mindestens die grundlegenden Spielinhalte kostenlos genutzt werden können. Der Hersteller verdient meist an Werbung und kostenpflichtigen Zusatzangeboten, die dem Spieler Vorteile gegenüber anderen Spielern verschaffen, das Spiel für den Spieler individualisieren oder vom Hersteller geschaltete Werbung entfernen. Man kann es nicht beweisen, aber viele Patienten, die ich kenne, spielen solche Spiele, deshalb liegt ein Zusammenhang nahe. Belohnungseffekte spielen dabei sicherlich eine große Rolle. Bei manchen Spielen kann man sogar geldwerte Vorteile als Belohnung gewinnen.
Bisher haben wir über Einzelspieler geredet, was ist mit Multiplayerspielern?
Das ist eine gute Möglichkeit, mit einem Freund, den ich jetzt aktuell nicht sehen kann oder jetzt in der Corona-Zeit nicht sehen darf, in Kontakt zu bleiben. Ich spiele ja selbst solche Spiele, und so bleibe auch ich beispielsweise mit einem entfernt wohnenden Freund in Kontakt. Die Gefahr ist aber, dass sich manche Nutzer in dieser Online-Welt verlieren und in der Realität überhaupt keine Kontakte mehr haben.
Gibt es mehr weibliche oder mehr männliche Süchtige?
In den Beratungsstellen landen mehr männliche Spieler. Frauen aber sind eine Risikogruppe, gerade in der frühen Jugend, im Alter von 14 bis 16. Jungs werden mehr wahrgenommen, weil sie zum Beispiel Shooterspiele spielen, und das gefällt den Eltern nicht. Mädchen dagegen scheinen nur mit ihren Freundinnen zu chatten, dabei nutzen sie Medien genauso intensiv wie ihre männlichen Altersgenossen. Dazu läuft gerade in Mainz eine ganz interessante Studie. Oft haben Frauen, die süchtig werden, auch noch eine begleitende psychische Störung. Außerdem haben sie eine größere Scham, sich in Behandlung zu begeben. Also Frauen sind genauso betroffen wie Männer, kommen aber schlechter im Beratungssystem an.
Wie funktioniert denn die freiwillige Selbstkontrolle, die es ja auch in der Spieleindustrie gibt?
Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle schaut in der Regel auf Gewalt, Sexualität und Drogenkonsum, die süchtig machenden Eigenschaften eines Spiels werden aus meiner Sicht nicht hinreichend berücksichtigt. Ein Beispiel dafür wäre das Fußballspiel Fifa mit seinem „Ultimate Team-Modus".
In welchem Stadium kommen die Spielsüchtigen zu Ihnen? Ist es dann manchmal schon zu spät?
Man kann auch noch etwas tun, wenn es vermeintlich zu spät ist. Manche kommen, weil ihre Eltern so besorgt sind – der Junge geht nicht mehr in die Schule, spielt das ganze Wochenende durch. Das ist sehr unterschiedlich. Die meisten Jugendlichen kommen zu mir, weil die Eltern ein Problem sehen.
In welchem Alter?
Der Schwerpunkt sind die 14- bis 18-Jährigen. Bei den unter 14-Jährigen muss man in der Regel viel mit den Eltern arbeiten. Die Gruppentherapie richtet sich dann eher an die 14-Jährigen und älteren, die selbst an ihrer Abhängigkeit arbeiten wollen.
Ist das nicht abschreckend für die Jugendlichen? Sie als Therapeut im Auftrag der Eltern?
Das ist die hohe Kunst, diesen Eindruck, der ja auch nicht korrekt ist, nicht aufkommen zu lassen, und schon im Erstgespräch klarzumachen, dass ich jetzt nicht im Auftrag der Eltern mit ihnen arbeite und sage, das ist doch alles blöd, was du da spielst – hör besser auf damit. Ich bin da auch ein bisschen konfrontativ, was die Eltern angeht. Und ich sage von Anfang an, dass ich selbst spiele.
Wie helfen Sie Spielsüchtigen?
Wir haben ein Therapieprogramm entwickelt, das wird im Frühling veröffentlicht. Es gibt auch einen Ratgeber für Betroffene. Ich arbeite in Einzel- und Gruppentherapie, mit sechs bis acht Teilnehmern. Es geht vor allem darum, selbstbestimmt und kontrolliert zu spielen. Die Therapie ist auf zehn Wochen ausgelegt. In der Regel dauert eine solche Behandlung drei, vier Monate lang. Die Therapieform ist von uns neu entwickelt worden und mischt Elemente der Verhaltenstherapie mit Suchtbehandlung. Auch die aus unserer Sicht essenziell wichtigen spielimmanenten Faktoren finden einen entsprechenden Stellenwert. Es geht dann zum Beispiel um Alltagsstrukturierung, Stimuluskontrolle und natürlich darf auch Sport nicht zu kurz kommen.
Und Ihr Ziel?
Das Ziel sollte sein: Videospiele sind ein toller Zeitvertreib, das muss man vielleicht gar nicht unbedingt aufgeben. Wir versuchen zunächst immer, mit Betroffenen an den Punkt zu kommen, an dem sie kontrolliert spielen können. Sollte das nicht möglich sein, bleibt nur der Weg zur vorübergehenden Totalabstinenz. Spielen wird zum Problem, wenn andere Lebensbereiche darunter leiden – darum gilt es, immer kritisch hinter den Konsum zu schauen und die Spiele zu hinterfragen.
Was sollte Spiele-Industrie tun?
Die Spieleindustrie sollte sich ihrer Verantwortung stärker bewusst werden. Videospiele sind wie gesagt ein toller Zeitvertreib. Die Minderheit der Nutzer, die aber von Spielen abhängig werden, sollten wir entsprechend schützen und spezifisch behandeln. Dazu bedarf es aus meiner Sicht noch vielen weiteren Maßnahmen wie etwa der Beobachtung von süchtig machenden Bindungsfaktoren der Spiele in der Altersfreigabe. Die Diskussion wird sich mit Sicherheit im nächsten Jahr wieder beleben, da wird eine neue Klassifikation eingeführt.