Der zwölfte Platz bei der WM 2021 in Ägypten ist einer der Tiefpunkte in der deutschen Handballgeschichte. Doch statt in Trübsinn über das Scheitern zu verfallen, sprechen DHB-Verantwortliche von Olympia-Gold in Tokio – obwohl man für die Spiele in Japan noch gar nicht qualifiziert ist.
Selbst der erhoffte versöhnliche Abschluss einer rundum verkorksten WM blieb der deutschen Handball-Nationalmannschaft in Ägypten versagt. Im bedeutungslosen letzten Hauptrundenspiel kam das deutsche Team gegen das ebenfalls vorab schon ausgeschiedene Polen nicht über ein enttäuschendes Remis hinaus. Und hatte in den Schluss-Sekunden sogar noch Glück, dass Stammkeeper Andreas Wolff mit einer Glanzparade wenigstens noch das Unentschieden retten konnte. Einziger Trost für das durch Absagen und Verletzungen schon vor dem WM-Start arg gebeutelte DHB-Team, das sich daher nur das Erreichen des Viertelfinales als Minimal-Ziel vorgenommen hatte, war es denn auch, dass ihm diesmal ein ungeliebtes Platzierungsspiel erspart blieb. Anhand der Ergebnisse wurde Deutschland auf Position zwölf
eingestuft – zweifelsohne ein Tiefpunkt in der gesamten deutschen Handballgeschichte. Ein absolutes Debakel, für das nicht nur die erheblichen Mängel in der neu zusammengestellten Abwehr verantwortlich waren. Auch wenn deutsche Handball-Teams schon traditionell ihre größten Erfolge einem perfekt funktionierenden Defensivbollwerk und weniger einem kreativen Angriffsfeuerwerk verdankt haben. Aber wenn es einem Team an Spielwitz und Leichtigkeit völlig mangelt und man in der Offensiv-Abteilung fast einzig und allein auf oft schlecht vorbereitete Gewaltwürfe aus dem Rückraum durch Fabian Böhm, Julius Kühn oder Paul Drux angewiesen ist, was sich schon im Eröffnungsspiel gegen die völlig überforderten Uruguayer abgezeichnet hatte, dann müssen sich daraus zwangsläufig in Niederlagen mündende Probleme gegen stärkere Mannschaften wie das aufstrebende Ungarn oder erfahren-abgezockte Weltklasse-Formationen wie Spanien ergeben. Das schon seit Jahren beklagte Fehlen eines echten deutschen Spielmachers wurde auch in Ägypten wieder als absolutes Manko offenkundig.
Ein Hochkaräter in der Angriffsmitte à la Markus Baur oder Michael Kraus ist noch nicht in Sicht. Paul Drux ist eigentlich kein gelernter Spielmacher, hat seine Stärken eher im Eins-gegen-eins und sucht auch gern selbst den Abschluss. Auch Philipp Weber ist kein kreativer Virtuose, sondern ähnelt in seinem Spiel und seinem direkten Tordrang dem Kollegen Drux. Beide konnten am Nil in der Rolle des Spielmachers nicht überzeugen. Schon eher der junge Juri Knorr, der im Sommer den Karrieresprung von Minden zu den Rhein-Neckar-Löwen angehen wird. Bei seinen WM-Kurzeinsätzen ließ er sein Spielmacher-Talent aufblitzen und könnte vielleicht der künftige Hoffnungsträger auf dieser Position werden. Und damit womöglich helfen, Peinlichkeiten, wie sie die letzte Spielminute im Match gegen Polen offenbart hatte, zu vermeiden. Wenn es einem Team in Überzahl und bei eigenem Ballbesitz nicht gelingt, in 60 Sekunden auch nur einen einzigen Wurf auf das Tor des Gegners abzufeuern und sich stattdessen die Kugel nur ratlos bis zum Zeitspiel-Pfiff der Schiris hin und her zuzuwerfen, dann dürfte das Bände sprechen. Und wenn dazu noch Linksaußen und Kapitän Uwe Gensheimer, eigentlich ein Weltklasse-Handballer, eine für seine Ansprüche mehr als schwache WM mit reichlich Tor-Fehlversuchen gezeigt hatte, dann konnte für das Team mit seiner brüchigen Abwehr nur ein indiskutabler Platz herausspringen. Wobei überraschenderweise keinerlei Kritik an Alfred Gislason, dem früheren Kieler Meistermacher, laut geworden war, der den Job des Bundestrainers im März 2020 von dem glücklosen Christian Prokop übernommen hatte, unter dessen Leitung aber immerhin bei der WM 2019 der vierte und bei der EM 2020 der fünfte Platz gelungen war.
Auch Torleute waren nicht in Bestform
Ernüchternd war das Kurz-Fazit der WM 2021, für deren Gewinn der DHB immerhin 500.000 Euro Prämie ausgelobt hatte: Zwei Siege gegen Uruguay und Brasilien, Gewinner am grünen Tisch gegen das coronabedingt ausgeschlossene Kap Verde, Niederlagen gegen Ungarn und Spanien, Unentschieden gegen Polen = Ausscheiden in der Hauptrunde vor dem Viertelfinale. Beim ersten Härtetest gegen Ungarn waren die deutschen Keeper Andreas Wolff und Johannes Bitter weit von ihrer Topform entfernt gewesen. Was aber auch daran lag, dass der neue Abwehr-Mittelblock mit dem jungen Johannes Golla und WM-Debütant Sebastian Firnhaber keinen Zugriff gegen Ungarns Kreisläufer Bence Banhidi und Rückraum-Shooter Máté Lékai finden konnte. Trotz einer deutschen Aufholjagd behielten die Mayaren mit einem Tor die Überhand.
Auch Spanien nutzte gnadenlos die Schwäche des deutschen Abwehr-Mittelblocks aus. Wobei sich die Iberer vor allem auf Firnhaber konzentrierten und diesen schon in den ersten zehn Minuten zu zwei Zeitstrafen provozierten. Das machte späteres Zupacken Firnhabers wegen des bei einer dritten Zeitstrafe drohenden Spielausschlusses praktisch unmöglich. Dennoch wäre ein Sieg über Spanien durchaus möglich gewesen, hatte das deutsche Team doch einen Drei-Tore-Rückstand zur Pause in einen Drei-Tore-Vorsprung nach dem Wechsel drehen können, als sich das Team eine Viertelstunde lang in einen regelrechten Rausch gespielt hatte. Doch mangelnde Effizienz im Abschluss samt fast elf torlosen Minuten sollten letztlich zur 28:32-Niederlage führen. „Wir haben sie an die Wand gespielt", sagte DHB-Vizepräsident Bob Hanning, „aber wir haben nicht die Konstanz gehabt, das durchzuziehen." Ähnlich sah das Abwehrchef Johannes Golla: „Die Spanier waren erfahrener und individuell stärker besetzt als unsere junge Mannschaft, wir wussten um die Größe der Aufgabe. Es war bitter und hart, dass wir uns wie gegen Ungarn zuvor nicht für unsere Aufholjagd belohnt hatten."
Dennoch nahm man beim DHB das schlechte WM-Abschneiden nicht weiter tragisch, da man von Vornherein damit rechnen musste und das WM-Turnier nur als Aufgalopp oder als nützlichen Lernprozess für Nachwuchstalente im Hinblick auf die Olympischen Spiele in Tokio eingestuft hatte. Für die muss man sich allerdings erst noch gegen starke Konkurrenz aus Schweden, Slowenien und Algerien in einem Vier-Nationen-Turnier qualifizieren, das vom 12. bis 14. März in der Berliner Max-Schmeling-Halle über die Bühne gehen wird. Die beiden Gruppenersten werden im Sommer 2021 nach Japan fahren – falls denn die Spiele tatsächlich stattfinden sollten.
Olympia-Gold als Ziel ausgegeben
„Ich ziehe viel Positives aus dem Turnier", sagte DHB-Sportdirektor Axel Kromer. „Wir werden aus vermeintlichen Fehlern lernen, der Kader wird größer für die kommenden Aufgaben." Schon erstaunlich, dass der DHB sich so locker mit einer unzureichenden WM-Performance umzugehen traut. Schließlich beklagt man sich doch ständig über mangelnde TV-Präsenz. Und nun hatte man mal wieder die Riesen-Chance, Werbung für den deutschen Handball vor einem Riesenpublikum zu machen. Und enttäuschte 4,7 Millionen Zuschauer vor der Glotze beim Ungarn-Spiel und 4,95 Millionen Zuschauer beim Spanien-Match mit einer erheblich ersatzgeschwächten, neu zusammengewürfelten und kaum eingespielten Mannschaft.
Eine WM-Absage wegen Corona und den im Vorfeld viel diskutierten angeblich unzureichenden ägyptischen Hygienevorschriften kam für den DHB nicht infrage. „Klar geht es dabei auch um wirtschaftliche Auswirkungen", so der DHB-Vorstandsvorsitzende Mark Schober. „Aber es nur darauf zu reduzieren, das ist mir zu kurz gesprungen. Viel entscheidender ist, dass wir uns in der Handballwelt isoliert, das Recht auf eine Teilnahme an den nächsten vier Weltmeisterschaften verwirkt hätten, also auch als Ausrichter der WM 2027."
An Überheblichkeit kaum zu toppen waren dann noch vor Ort in Ägypten getätigte Aussagen von DHB-Verantwortlichen, die als Ziel für die Olympischen Spiele den Gewinn der Goldmedaille beinhaltet hatten. Schon im Jahr 2013 hatte Bob Hanning erstmals diese ambitionierte sportliche Vorgabe für Tokio in den Mund genommen. Und obwohl die letzte deutsche Medaille bei großen Turnieren mit Bronze bei Olympia in Rio 2016 schon geraume Zeit zurückliegt (Anfang 2016 hatte Deutschland zudem letztmals den EM-Titel gewonnen), hatte sich Hanning jüngst nicht gescheut, diese Zielsetzung zu wiederholen: „Wir haben die Zielsetzung, Olympisches Gold zu holen. Heute sage ich, dass ich ganz fest daran glaube, dass es funktionieren wird." Genauso optimistisch gab sich DHB-Präsident Andreas Michelmann: „Bei der Ausgeglichenheit der Weltspitze und den Reserven, die wir noch haben an Spielern, halte ich das für ein realistisches Ziel."
Fraglos wird die Abwehr mit der Rückkehr der freiwillig aus Corona-Gründen bei der WM pausierenden Cracks Hendrik Pekeler (Deutschlands Spieler des Jahres 2020), Patrick Wiencek, Steffen Weinhold und Finn Lemke ihre gewohnte Stabilität wieder erhalten. Und auch mit Rückkehr der verletzten Spieler wie Jannik Kohlbacher (eminent wichtiger Anspielpunkt am gegnerischen Kreis), Franz Semper und Tim Suton wird die Qualität des Kaders erheblich gewinnen können. Aber ob das ausreichen kann, um das Team auf das Niveau der derzeit in einer ganz anderen Liga spielenden Nationen wie Dänemark, Spanien, Norwegen oder Frankreich katapultieren zu können, scheint zumindest fragwürdig zu sein.