Der Kinderschutzbund schlägt Alarm: Psychische Erkrankungen von Kindern nehmen im Lockdown zu. Die Zahl der meldepflichtigen Schutzfälle in Kliniken aber steigt nicht – der Gang zum Arzt wird so lange wie möglich hinausgezögert. Saar-Verbandschef Stefan Behr und der Kinder- und Jugendmediziner Prof. Dr. Jens Möller drängen auf Veränderungen.
Herr Behr, der Lockdown dauert weiter an, und Sie läuten die Alarmglocke. Warum?
Stefan Behr: Unsere Daten aus bundesweit erhobenen repräsentativen Studien des vergangenen Jahres zeigen, dass schon im ersten Lockdown das Risiko für psychische Schäden bei Kindern von 20 auf 30 Prozent gestiegen ist. Dabei reden wir über Depressionen, Angststörungen, Essstörungen. Die befragten Jugendlichen leiden darunter, dass es in Familien häufiger zu Streit kommt und dass sie kaum oder wenig Kontakt zu ihren Freunden haben. Die schulischen Anforderungen finden sie derzeit belastend, unabhängig davon, ob sie sich im Wechselunterricht oder im Homeschooling befinden. Das Wort Einsamkeit fiel sehr oft. Wir leiten daraus ab, dass sich die Situation ein halbes Jahr später, mit geschlossenen Kitas und Schulen, weiter verschärft hat.
Streit in der Familie, bedeutet das auch mehr Gewalt in der Familie?
Behr: Davon gehen wir aus, nicht unbedingt körperliche Gewalt, sondern auch psychische Gewalt. Diese haben wir im öffentlichen Diskurs nicht immer im Blick. Wenn Eltern mit Kindern streiten, wird nicht immer geschlagen. Die psychische Belastung für Kinder beginnt beim lauten Schreien, bei Beschimpfungen und Respektlosigkeit.
Herr Prof. Möller, können Sie die Befunde in Ihrem Alltag als Kinder- und Jugendmediziner bestätigen?
Jens Möller: Statistisch ist dies für uns Ärzte schwer zu belegen. Wir können nur Tendenzen feststellen, und diese sind, dass es mehr physische und psychische Gewalt in den Familien seit dem ersten Lockdown gibt. Ich habe seit Jahren nicht mehr erlebt, dass ein achtjähriges Kind in die Notaufnahme kommt, das von seinem Vater geschlagen worden war. Im Gespräch fanden wir heraus, dass die Gewalt in der Familie exponentiell zunimmt, auch den anderen Geschwistern und der Mutter gegenüber. Diese Einzelfälle häufen sich auffallend. Die Zahl der Kinderschutzfälle steigt jedoch nicht. Dies liegt daran, dass eine klassische Klientel, die üblicherweise bei uns auffällt, nicht mehr in die Klinik kommt. Und das sind Eltern mit psychischen Problemen oder Eltern mit Drogenproblemen. Mit diesen hatten wir praktisch seit Beginn des Lockdowns keinen Kontakt mehr.
Warum, glauben Sie, bleibt diese Klientel der Klinik derzeit fern?
Möller: Unterschwellig ist es sicher so, dass Eltern wie auch ihre Kinder generell Angst vor Infektionen haben, wenn sie in die Klinik kommen. Daher verschleppen sie Erkrankungen wie Blinddarm- oder Hirnentzündungen, sitzen die Symptome länger aus, bis es ohne klinische Hilfe wirklich nicht mehr geht.
Saar-Bildungsministerin Streichert-Clivot hat dem Wechselunterricht – abgesehen vom dreistufigen Öffnungsplan nach dem Lockdown – recht früh klar eine Absage erteilt. Zu Recht?
Möller: Die Bildungsministerin ist sicher auf der Ebene der politischen Akteure noch die sensibelste Person, was Kinder aus problematischen Kontexten angeht. Armut und Krankheit hängen immer miteinander zusammen, Sie werden in einer Klinik daher immer überproportional Kinder aus sozial schwächeren Milieus finden. Aus Gesprächen mit deren Familien – und daher nicht repräsentativ, aber sicher ein Hinweis – höre ich: Videounterricht und Homeschooling scheint vor allem in sozial schwächeren Familien nur fragmentarisch abzulaufen, anders als in anderen Schichten der Bevölkerung. Dort wird uns dann mit großer Freude erzählt, wie kreativ dieser Unterricht abläuft.
Behr: An der Schule, an der ich arbeite, sind im Normalfall 190 Kinder. Derzeit im Notbetrieb kommen ohnehin schon täglich 80 Kinder. So aber bringen wir nur die gut versorgten Kinder in psychische Belastungssituationen und die weniger gut versorgten in noch größere Schwierigkeiten. Ihnen fehlen ansonsten zentrale Dinge: Die Tagesstruktur etwa, die vor allem für sozial benachteiligte Kinder essentiell wichtig ist. Es fehlt der Kontakt zu Freunden und zu den erwachsenen Bezugspersonen in der Schule oder der Kita. Deshalb fordern wir den Wechselunterricht mit klarem Hygienekonzept.
Die Infektionszahlen sind im Saarland derzeit im Bundesvergleich hoch, auch unter jüngeren Menschen. Wie sind Ihre beruflichen Beobachtungen, Prof. Möller?
Möller: Die Debatte um die Infektionen von Kindern ist sicherlich kontrovers. Die Bundesregierung zitiert hierbei aus Studien der Universität Oxford, die feststellt, dass die Mutation B 1.1.7 Kinder mehr betrifft. Das können wir im Augenblick nicht bestätigen, insgesamt sinkt nach unserer Beobachtung glücklicherweise die Zahl der Kinder mit positiver Corona-Infektion seit November. Sie werden insgesamt auch in geringerem Ausmaß krank. Wir hatten bereits Jugendliche, die mit Covid-19 hospitalisiert werden mussten, bislang jedoch noch keine Klein- oder Grundschulkinder. Wir haben selbst über 3000 Kinder auf Corona getestet, 20 davon waren positiv, aber kein einziges wurde krank. Wir wissen aber auch, es gibt Infektionsherde in Schulen und Kitas. Der Eintrag der Infektion aber geschah von außen, von Erwachsenen in der Familie auf ihre Kinder. Nun erfolgt die Erwägung des Infektionsschutzes unter dem Aspekt, Erwachsene vor der Infektion durch Kinder zu schützen. Das Argument, sie als Träger des Virus dafür verantwortlich zu machen und sie deshalb von ihren Freunden und dem Schulalltag abzuschneiden, ist aber so nicht haltbar. Sie opfern einen Teil ihres Wohlbefindens für das Wohl der Allgemeinheit.
Behr: Und dabei werden noch nicht einmal die Kinder selbst gefragt, ob sie das überhaupt wollen.
Inwiefern?
Behr: Kinder werden nicht gefragt, ob sie Beeinträchtigungen wie mehr Streit, mehr Einsamkeit gerne in Kauf nehmen wollen, um damit vor allem vulnerable Gruppen der Bevölkerung zu schützen. Sie kommen in der politischen Debatte nicht vor. Die Politik unterstellt in ihrer Abwägung zwischen dem Schutz der vulnerablen Personen und dem Wohl und der gesunden Entwicklung der Kinder, dass der Schutz um den Preis unter anderem des Kindeswohles im Vordergrund steht. Leider gibt es keinen Diskurs darüber, ob die Kinder, die Jugendlichen, ob eine Mehrheit der Bevölkerung bereit ist, diesen Preis zu zahlen. Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen gibt es seit 20 Jahren. Sie besagt, dass Kinder überall dort, wo politische Entscheidungen ihre Zukunft betreffen, gehört werden müssen. Derzeit diskutiert die Regierung über eine Änderung des Grundgesetzes auf Grundlage der Konvention. Dies wäre eine gesetzliche Verpflichtung. Hätten wir bereits diese Umsetzung, müsste die Politik sie nun fragen. Aber es sieht nicht danach aus, als würde es eine entsprechende Grundgesetzänderung geben. Stattdessen soll eine Staatszielbestimmung eingefügt werden, also ohne Anspruch der Kinder, gehört zu werden.
Was befürchten Sie auf lange Sicht?
Behr: Die psychischen Folgen zu verarbeiten, wird dauern. Auch deshalb, weil zu wenig Psychologen in Deutschland praktizieren.
Möller: Es wird mehr Angststörungen und Depressionen bei den Kindern geben. Das Abbrechen von Kontakten ist ein Trauma, das verarbeitet werden muss.