Die Inzidenzzahlen sinken, gleichzeitig bereiten Mutationen zunehmend Sorgen. Befürworter von Verlängerungen des Lockdowns beziehungsweise von Lockerungen ringen um den richtigen Weg. Und das in einem Mammut-Wahljahr.
Corona-Rituale bestimmen derzeit die Bundespolitik. Immer freitags um 10 Uhr tritt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der Bundespressekonferenz an. Spahn persönlich hat dieses Ritual eingeführt. Flankiert von Lothar Wieler, dem Leiter des Robert Koch-Instituts, werden dann Zahlen um Zahlen präsentiert und einmal mehr der Versuch unternommen, das zu erklären, was die Woche vorher auch schon erklärt werden sollte, aber viele nicht so richtig verstanden haben. Vielleicht auch nicht verstehen konnten, weil sich manches nicht so recht erschließen will.
Von der zu dieser Jahreszeit üblichen Grippewelle ist derzeit nichts zu sehen. Nach Angaben von RKI-Chef Wieler sind in dieser Saison bislang keine Grippe-Toten vermeldet worden. Dafür grassiert das Coronavirus. Beide Viren verbreiten sich über Aerosole, was wissenschaftlich nachgewiesen ist. Damit stellt sich die Frage, wie es sein kann, dass sich Menschen mit Mundschutz und unter Beachtung von Hygienebestimmungen mit Corona infizieren, von der Grippe aber keine Spur ist, wenn die Übertragungswege gleich sind. Eine schlüssige Erklärung lässt auf sich warten.
Stufenpläne machen die Runde
Dafür gehen die aus den letzten Wochen bekannten Diskussionen weiter. Bundesweit sinken die Zahlen der Neuinfektionen, gleichzeitig sorgen die Mutationen für warnende Stimmen. Ein zu früher Einstieg in Lockerungen birgt die Gefahr, den mühsam erreichten Stand wieder zu gefährden.
Stufenpläne werden ebenso erarbeitet wie über Verlängerungen des Lockdowns bis Ostern diskutiert, ein möglichst einheitliches Vorgehen soll zurückgehende Akzeptanz aufrechterhalten, andere verweisen auf regional unterschiedliche Entwicklungen, die nicht einheitlich zu beantworten sind. Bekannte Diskussionen aus dem vergangenen Jahr.
Wenn Geschäfte absehbar wieder öffnen dürfen, bleibt die spannende Frage, wie viele der früheren Kunden den Weg zurück findet – und wie viele Läden überhaupt wieder den Neustart versuchen.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) hat jedenfalls gewarnt, nicht zu früh zu öffnen, weshalb sich viele Geschäftsleute fragen, wann sie ihrem Gewerbe denn wieder nachgehen können. Bei etlichen geht es um die Existenz.
Weitere Verlängerungen sind nicht nur Hiobsbotschaften für Unternehmer und Geschäftstreibende, sondern vor allem auch für Familien mit Kindern. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel, Gesundheitsminister Jens Spahn und auch Wirtschaftsminister Altmaier sind sich sicher: Dies ist der richtige Weg aus der Pandemie.
Dagegen formiert sich seit fast einem Jahr nicht nur Widerstand von den selbst ernannten Querdenkern dieser Republik, sondern zunehmend auch von den im Bundestag vertretenen Parteien. Die Position der AfD dabei ist klar: „Alle Maßnahmen sofort aufheben", so AfD-Sprecher Tino Chrupalla. Auch der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Marco Buschmann, hält im FORUM-Interview nicht hinter dem Berg: „Hier geht es um Staatsbürgerrechte, die wir ohne konkrete Gefahrenanalyse und den entsprechenden Belegen nicht länger aussetzen dürfen." Selbst in der mitregierenden SPD wird die Luft für eine Fortsetzung des Lockdown dünner. Die Sozialdemokraten gaben sich bislang immer gern staatstragend, doch Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) macht sich mittlerweile Sorgen um den sozialen Frieden in Deutschland. „Kinder müssen endlich wieder geregelt in den Unterricht gehen, Homeschooling ist hier auf Dauer nicht die Lösung". Giffey geht es vor allem um Schüler aus sozial schwachen und bildungsfernen Schichten, die da offenbar komplett zu entgleiten drohen. Darum, so Giffey, sollen die Schulen so schnell wie irgend möglich wieder in den Präsenzunterricht wechseln. „Dem Staat droht hier endgültig die soziale Kontrolle zu entgleiten", so die Bundesfamilienministerin im FORUM-Gespräch.
Die Inzidenzzahlen sind bundesweit im Durchschnitt seit fast drei Wochen inzwischen deutlich unterhalb von 100 pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, dem Wert, den die Bundesregierung als Begründung für den Lockdown ausgegeben hat. Bis auf Ausnahmen wie dem Saarland wird dieser Wert unterschritten. Die Öffnung oder Lockerung der Corona-Maßnahmen wäre nach Lesart der Dezember-Argumentation von Bund und Ländern also längst fällig. Aber nicht nur deshalb fällt vielen Ministerpräsidenten die Entscheidung zur erneuten Verlängerung nicht leicht.
Regional große Unterschiede
Sechs Landesregierungschefs stecken zusätzlich neben der Corona-Pandemie im Landtagswahlkampf, allen voran Malu Dreyer (SPD) in Rheinland-Pfalz und Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) in Baden-Württemberg. Wahltag der beiden Länder im Südwesten der Republik ist der 14. März, also wohl noch mitten im Lockdown, der sich womöglich bis Ostern ziehen könnte.
Wahlkampf im Winter ist ohnehin nichts für Anfänger, doch so dicke hatte es dann doch niemand erwartet. Ministerpräsidentin Malu Dreyer kämpft mit sinkenden Umfragewerten, und für ihren grünen Amtskollegen im Nachbarland läuft es auch nicht so richtig rund.
Beide, sowohl die Sozialdemokratin als auch der Grüne, leben wahlkampftechnisch vom Marktplatz, von großen Auftritten mit viel Publikum und schönen Fernsehbildern. Was bekanntlich aber in Pandemiezeiten nicht möglich ist.
Hoch oben im Norden eine ähnliche Situation, wenn auch zeitlich um ein halbes Jahr verschoben. Denn dort wird mit der Bundestagswahl zusammen in drei weiteren Bundesländern erst im September gewählt. In Thüringen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern sind die Länderchefs höchst nervös. Gerade hier sind die Inzidenz-Zahlen relativ niedrig. Alle drei Länder leben vom Tourismus, vor allem an der Ostsee und in Berlin. Darum die dringende Forderung nach Öffnung und einem Herunterfahren der Pandemie-Maßnahmen. Das Ostergeschäft steht vor der Tür und damit der touristische Start ins Jahr 2021.
Dabei ist ein Paradox zu beobachten: Je mehr die politisch Verantwortlichen wie die mecklenburgische Landeschefin Manuela Schwesig (SPD), ihr bayerischer Amtskollege Markus Söder (CSU) oder Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) bei der Rücknahme der Corona-Maßnahmen auf die Bremse traten und sich gegen Lockerungen aussprachen, desto besser wurden ihre Umfragewerte. Malu Dreyer (SPD) in Rheinland-Pfalz oder Armin Laschet (CDU) in Nordrhein-Westfalen konnten dagegen mit ihren Öffnungskonzepten nicht wirklich punkten.
Wie aussagekräftig Umfrage-Zwischenstände vor Wahlen sind, war aber schon bei den letzten Wahlen kritisch zu sehen. Und für derart außergewöhnliche Situationen wie derzeit gibt es keinerlei Erfahrungswerte. Was den beiden Landtagswahlen am 14. März eine noch größere Beachtung sichert, als es ohnehin zum Auftakt ins Bundestagswahljahr der Fall gewesen wäre.