Eine Folge nach 16 Wochen Lockdown: ein nie gekanntes Geschäftesterben. Vor allem kleinere stationäre Einzelhändler sind die Opfer – und zunehmend Edelboutiquen. Beobachtungen auf dem Berliner Kurfürstendamm.
Ein zuckerweißes Wintermärchen, dieser erste Samstag im Februar, nicht nur in der Bundeshaushauptstadt. Erstmals seit zwölf Jahren ist Berlin unter einer geschlossenen Schneedecke versunken, minus fünf Grad, dazu strahlender Sonnenschein. Ideales Shoppingwetter für Winterklamotten, und das obendrein im Winterschlussverkauf. Doch eine der beliebtesten Einkaufsstraßen Deutschlands ist an diesem Samstagmittag verwaist. Nicht einmal Spaziergänger verirren sich derzeit noch hierher. Was sollen sie auch „uff‘n Kudamm", alle Geschäfte sind geschlossen, und flanieren, um sich zumindest ein bisschen Kaufappetit später für den Einkauf im Internet zu holen macht auch keinen Sinn.
Denn viele Auslagen der Schaufenster sind mittlerweile leer, die Regale dahinter ausgeräumt. Doch sind es nicht nur die „kleinen Krauter", die wirtschaftlich unter dem Lockdown zusammenbrechen, sondern auch Luxus-Boutiquen. Zum Beispiel hat der italienische Edeldesigner Gucci bereits vor Weihnachten seine Berliner Filiale geräumt. Versace war zum Jahreswechsel raus aus den Fillialen. Anfang Januar hat Escada nach der Lockdown-Verlängerung per Internet mit dem Ausverkauf der Waren in seiner Boutique auf dem Kurfürstendamm begonnen. Die erste Edel-Boutique verabschiedete sich bereits am 16. Dezember, dem Tag, als der Lockdown in Deutschland inkraft trat: Das exklusive italienische Sportswear-Label Paul & Shark setzte das staatlich verordnete Verkaufsverbot noch in der Nacht des Inkrafttretens in Taten um – und räumte seinen Laden aus. Boutique-Betreiber Oliver Hala hatte damals im FORUM-Interview beinahe schon hellseherische Eingebungen: „Wenn die zwei Wochen vor Weihnachten alles zumachen, dann glauben Sie doch wohl nicht im Ernst, wenn die Menschen Weihnachten und Sylvester trotzdem zusammen feiern dürfen, dass ich dann meinen Laden hier wieder Mitte Januar aufmachen kann." Leider behielt der Ladeninhaber recht. Oliver Hala zweifelte darüber hinaus daran, dass bis Ostern der Lockdown für den stationären Einzelhandel wieder aufgehoben wird.
Leerstand mit Fototapete verdeckt
Der zunehmende Leerstand auf dem Berliner Prachtboulevard unter anderem im Segment der Luxus-Boutiquen ist auch dem dortigen Interessenverband von Geschäften und Hotels, der Arbeitsgemeinschaft City, nicht entgangen. „Wir haben noch keine Rückmeldung von den Vermietern oder den Labels, ob die jetzt für immer rausgehen. Wir hoffen, dass sie nur vorübergehend ihre Ware ausgeräumt haben. Denn die Situation ist ja auch ein Sicherheitsrisiko bei der exquisiten Ware", so der Sprecher der AG-City für den Einzelhandel, Uwe Timm. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Mittlerweile gehen die Vermieter dazu über, die Schaufenster der geräumten Ladengeschäfte zu verkleben. So bekommen Passanten im Vorbeilaufen den Leerstand erst gar nicht zu Gesicht. Übrigens nicht nur ein Kudamm-Phänomen: In der Kölner Innenstadt, auf der „Kö" in Düsseldorf, in der „Kaufinger" in München agiert man ähnlich. Dass es überhaupt so weit gekommen ist, dafür macht der Vertreter der Kudamm-Kaufleute vor allem die Politik verantwortlich. „Mit der Auszahlung der Hilfen für die Gastronomie aus November und Dezember wurde erst im Januar begonnen, und da weiß ich bislang nur von Abschlagszahlungen. Damit kann man keine Mieten bezahlen. Die Anträge für die Überbrückungshilfen III für den Handel sind erst seit Mitte Februar abrufbar." Dass es die Überbrückungshilfen für den stationären Einzelhandel in seiner jetzigen Form überhaupt gibt, ist auch dem Handelsverband Deutschland (HDE) zu verdanken. HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth schaffte es, dass sich Bundesfinanzminister Olaf Scholz in der Potsdamer Innenstadt vor Ort einen Eindruck von der prekären Lage der Händler verschaffte und mit diesen persönlich sprach. Aus Händlerkreisen wurde anschließend kolportiert, dass Scholz wohl davon ausging, dass die Textil-Händler bereits Hilfen bekommen würden.
Das Überbrückungsgeld III sieht einen staatlichen Schadenersatz von bis zu 90 Prozent des Einkaufspreises zum Beispiel auf Textilien oder verderbliche Waren vor. Sowohl der Handelsverband (HDE), aber auch der Textilverband (BTE) sind in ihrer Freude über das Erreichte aber noch zurückhaltend. Zwar können die betroffenen Händler jetzt, mit „hohem bürokratischen Aufwand", so ein Sprecher des BTE, die Hilfen beantragen. Aber niemand weiß, wann die Gelder tatsächlich überwiesen werden. Nach den Erfahrungen bei der Auszahlung der November- und Dezemberhilfen sind zehn Wochen nach Antragstellung eher wahrscheinlich, frühere Überweisungen der Händler-Corona-Hilfen könne man ausschließen, heißt es. Denn die Bundesländer, verantwortlich für die Auszahlung, räumten bereits ein, dass damit frühestens Mitte März begonnen werden kann.
Damit ist klar: Wenn die Hilfen die Händler erreichen, ist es für die Frühjahrsmode zu spät. Denn diese wird Anfang Januar bestellt, doch zu diesem Zeitpunkt waren die Lager noch voll mit der Winterkollektion. Und die Kassen der Händler leer. Die Überbrückungsgeld-III-Regelung könnte allerdings für die Verbraucher einen positiven Effekt haben. Die könnten in den kommenden Monaten vermutlich in den Outlets, sobald sie denn wieder geöffnet werden, geradezu mit hochwertiger Winterware überschwemmt werden. Denn die Boutiquen werden wahrscheinlich in großer Eile ihre Winterlager leeren, um neue Ware einzukaufen – entsprechend dem typischen Zyklus des Mode-Business. Sie könnten dabei ihre Bestände, egal zu welchem Preis, an die Restpostenhändler verkaufen. Denn den Rest ihres Verlustes zahlt der Staat.
Viele Fragezeichen für den Einzelhandel
Haute Couture aus Paris und Mailand zu Ramschpreisen im Schnäppchenmarkt? Dies hilft den Einzelhändlern in den Innenstädten bundesweit auch nicht weiter: Zwar werden sie, wie beschrieben ihre Winterware beinahe verlustfrei los. Das Frühjahrsgeschäft können sie aber, wie beschrieben, vergessen – dies hat ohnehin traditionell schon längst angefangen. Damit rennt ihnen erneut die Zeit weg. Einen entsprechenden Öffnungsplan für den Einzelhandel gibt es auf Entscheidungsebene des Bundes derzeit noch nicht. Auf Verdacht bereits die Sommerkollektion bestellen, dieses Risiko werden viele nicht eingehen.
Damit droht eine etwas merkwürdige Situation, wenn die Geschäfte wieder aufmachen dürfen: Gerade im Bereich der Mode-Boutiquen in den Innenstädten könnten die Regale recht übersichtlich gefüllt sein. Dazu kommt der Umstand, dass kein Handelsexperte abschätzen kann, welcher Anteil der ehemaligen Kundschaft weiterhin lieber von der Couch aus einkauft, anstatt über den Boulevard zu flanieren. Vor allem, wenn durch Zugangsbeschränkungen vor den meisten Geschäften die Kunden in langen Schlangen stehen, um auf Einlass zu warten. Erinnerungen werden wach an die absurde Situation im vergangenen Frühling: drei Verkäufer für drei Kunden im riesigen Laden, während draußen auf dem Kudamm vor der Tür die Kauflustigen dichtgedrängt warten.
Aber bevor es überhaupt wieder zu den Geschäftsöffnungen kommt, bleibt die bange Frage, wie viele Läden überhaupt wieder öffnen können: Über nicht wenigen stationären Einzelhändlern schwebt ein weiteres finanzielles Damoklesschwert. Während des ersten Lockdowns im März und April vor einem Jahr wurden für viele Geschäftstreibende die Mietzahlungen ausgesetzt. Jetzt, ein Jahr später, können die Vermieter die noch ausstehenden Mieten von damals einfordern. Spätestens damit könnte sich dann der eigene Laden endgültig erledigt haben.