Prof. Lisa Herzog gilt als aufgehender Stern am akademischen Philosophen-Himmel. Mit ihrer radikalen Forderung nach deutlich mehr Mitbestimmung in den Unternehmen rüttelt die junge Professorin an einem Dogma.
Frau Prof. Herzog, wie stark beeinträchtigt der Lockdown Ihre akademische Arbeit?
Zu Beginn der Pandemie vor einem Jahr fiel es mir schwer, mich auf die Forschung zu konzentrieren. Ich fühlte mich von der Unsicherheit und dem Drang, die Nachrichtenlage mit den neuesten Zahlen ständig zu verfolgen, stark abgelenkt. Mir fehlte das Reisen, ich war so lange ununterbrochen an einem Ort wie schon lange nicht mehr. Inzwischen finden Lehre und Forschung komplett digital statt. Alles hat sich eingependelt. Was ich aber vermisse, ist das Diskutieren mit Kolleginnen und Kollegen in ungezwungener Atmosphäre, zum Beispiel bei einem Abendessen oder einem Glas Wein.
Als politische Philosophin beschäftigen Sie sich mit den Wechselwirkungen zwischen Arbeit, Politik und Gesellschaft. Welche Auswirkungen von Homeoffice auf die Gesellschaft beobachten Sie?
Positive wie auch negative. So hat zum Beispiel in den Köpfen vieler Chefinnen ein Umdenken stattgefunden. Sie haben endlich gemerkt, dass die Mitarbeiter auch so gute Arbeit liefern, ohne dass sie ihnen ständig über die Schultern schauen. Gleichzeitig hat die Belastung für Eltern, insbesondere für alleinerziehende Mütter, wegen Schulschließungen und Homeschooling stark zugenommen. Ein weiterer negativer Aspekt: Homeoffice fördert das Einzelkämpfertum. Auf Dauer schwächt die Vereinzelung die Arbeitnehmerschaft. Das macht die Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen nicht einfacher.
Welche Bedeutung hat denn die Arbeit für ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen?
Die Arbeit hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wie die Menschen den Staat und die Gesellschaft wahrnehmen. Die empirische Forschung zeigt, dass je größer ihre Mitbestimmung in einem Unternehmen ist, desto positiver ist ihr Bild von der demokratischen Gesellschaftsordnung. Arbeitnehmer sind zwar gleichberechtige Staatsbürger, aber nicht gleichberechtigte Wirtschaftsbürger. Deshalb fordere ich eine Demokratisierung der Wirtschaftswelt, damit die Gesellschaft insgesamt demokratischer wird.
Konkret fordern Sie ein Mitspracherecht für alle Mitarbeitenden und nicht nur für die Kapitalgeber. Soll demnach eine Angestellte die gleichen Rechte wie eine Aktionärin haben?
(lacht) Sogar mehr Rechte, sie investiert schließlich ihr „Humankapital"! Schon heute geht die Mitarbeiterbeteiligung in Deutschland ziemlich weit, aber eben noch nicht weit genug. In größeren Unternehmen sitzen Vertreter der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat. Ein erster Schritt, um die Demokratisierung voranzutreiben, könnte sein, einfach das 51:49-Verhältnis in den Aufsichtsräten von der Kapital- zur Arbeitnehmerseite zu drehen.
Faktisch führt das zu einem Quasi-Vetorecht, mit dem wichtige Entscheidungen blockiert werden können. Die Macht der Kapitalgeber würde dadurch gebrochen und könnte Investoren abschrecken.
Diese Gefahr sehe ich nicht. Die deutschen Unternehmen mit ihrer Arbeitnehmerbeteiligung sind im internationalen Vergleich sehr wettbewerbsfähig. Außerdem gibt es das Modell der Genossenschaften, bei denen die Firmen den Arbeitnehmern selbst gehören. Das wohl bekannteste Beispiel ist die spanische Mondragón Corporación Cooperativa (MCC). Mit einem Gesamtjahresumsatz von rund zwölf Milliarden Euro gilt sie als erfolgreichstes genossenschaftlich organisiertes Unternehmen der Welt. Weitere Beispiele sind die deutschen Volks- und Raiffeisenbanken, die in der Regel ordentliche Dividenden an ihre Anteilseigner ausschütten.
Was machen Genossenschaften besser?
Genossenschaften sind so organsiert, dass die Angestellten auch Miteigentümer sind. Bei der spanischen MCC sind die Beschäftigten zu gleichen Teilen am Grundkapital und den Gewinnen der Genossenschaft beteiligt und in die Entscheidungen des Führungspersonals durch demokratische Abstimmungsprozesse eingebunden. Dieses Geschäftsmodell ist auch auf digitale Plattformen übertragbar, etwa wenn es um die gerechte und transparente Nutzung der riesigen Datensätze der Nutzerinnen und Nutzern geht.
Sie wollen den Neoliberalismus überwinden, sprechen sich jedoch explizit gegen freie Märkte aus, die ein Grundpfeiler unseres Wohlstandes sind. Ein Widerspruch?
Nein, denn ich spreche mich nicht komplett gegen Märkte aus. In einer sozialen Marktwirtschaft werden Märkte aber staatlich reguliert, um volkswirtschaftlich und sozial schädliche Auswüchse eines ungezügelten Kapitalismus zu unterbinden. Das ist gesellschaftlicher und politischer Konsens. Interessanter ist doch diese Frage: Wie passen Unternehmen, die hierarchisch organisiert sind und wo die Menschen fremdbestimmt sind, zu einer liberalen und demokratischen Gesellschaft?
Wären die Angestellten denn kompetent genug, um ein Unternehmen mitzuführen?
Steht hinter dieser Frage nicht ein veraltetes Bild von hierarchischer Befehlskultur? Ich bestreite nicht, dass es bestimmte Management-Aufgaben gibt, für die manche Menschen besser geeignet sind als andere, zum Beispiel wenn es darum geht, andere zu motivieren. Die Angestellten erkennen das in der Regel aber sehr gut und würden sich vermutlich genau für diese Chefinnen und Chefs entscheiden, wenn sie wählen könnten.
Sie fordern einen staatlich gelenkten Arbeitsmarkt mit einer staatlichen Jobgarantie. Was passieren wird: Ein Teil der Arbeitnehmerschaft wird unproduktive und staatlich hoch subventionierte Jobs haben. Wäre es nicht klüger, wenn stattdessen die Steuern gesenkt würden, um die Innovationskraft von Unternehmen zu stärken und damit neue Jobs entstünden?
Die Vorstellung, dass die Früchte eines Wirtschaftswachstums nach und nach durch Konsum und Investitionen der Reichen in die unteren Schichten der Gesellschaft durchsickern, ist eine Illusion. Selbstverständlich brauchen wir wettbewerbsfähige Innovationen. Nur: Der Markt kann nicht alles regeln. Durch die Digitalisierung werden viele neue Arbeitsplätze geschaffen. Es werden auch viele verschwinden. Der Staat muss auf diese Entwicklung reagieren. Dazu gehört auch eine höhere Besteuerung von internationalen Tech-Giganten wie Amazon oder Google. Die zusätzlichen Einnahmen könnten für sozialpolitische Maßnahmen verwendet werden.
Sie gehören einer internationalen Arbeitsgruppe an, die über die gerechte Verteilung von Impfstoff nachdenkt. Ein Großteil des weltweit verfügbaren Impfstoffs ist von den reichen Industrieländern reserviert worden. Ist das gerecht?
Nein, aus ethischer Sicht ist das inakzeptabel. Kein Land darf bei der Belieferung von Impfstoff bevorzugt behandelt werden, nur weil es am meisten Geld dafür bietet. Deshalb gibt es eine internationale Organisation, Covax, die die Impfstofflieferungen insbesondere an ärmere Länder sicherstellen soll. Denkbar wäre auch, den Patentschutz für Impfstoff vorübergehend aufzuheben. Allerdings sehe ich hier die Gefahr, dass so falsche Anreize gesetzt werden. Würden sich die Pharmaunternehmen auch in Zukunft um die Entwicklung neuer Impfstoffe bemühen? Solange die Medikamenten-Entwicklung über private Märkte organisiert ist, muss man da vorsichtig sein und sie mittelfristig vielleicht wieder stärker in die öffentliche Hand legen.