Die Pandemie hat ein langjähriges Wachstum jäh unterbrochen. Die Zeichen stehen auf Erholung. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) über globale Herausforderungen, disruptive Veränderungen, einen starken Staat und die soziale Marktwirtschaft.
Herr Altmaier, wo stehen wir heute, knapp ein Jahr nach dem ersten Lockdown?
Wir sind bisher sehr viel besser durch diese Krise gekommen als viele unserer Nachbarn. Aber sie ist noch nicht überstanden. Wir müssen weiter zusammenhalten und gemeinsam dafür arbeiten, dann werden wir auch die aktuelle Phase bewältigen. Mit den begonnenen Impfungen haben wir eine konkrete Perspektive auf eine schrittweise Rückkehr zur Normalität. Je schneller wir mit dem Impfen vorankommen, desto schneller geht es auch mit der Wirtschaft wieder bergauf.
Dass unsere Wirtschaft widerstandsfähig ist, hat sie im letzten Jahr eindrucksvoll bewiesen. Nach einem scharfen Konjunktureinbruch im Frühjahr vorigen Jahres hat die Wirtschaft insgesamt wieder schnell Tritt gefasst. Wir verzeichnen seither ein begrenztes, aber stetes Wirtschaftswachstum, wenn auch in den einzelnen Branchen sehr unterschiedlich. Die Industrie hat sich rasch erholt, Dienstleistung und Handel leiden aber natürlich weiter unter den Einschränkungen.
Auf der einen Seite wirkt die Krise als Innovationstreiber, auf der anderen Seite hat der Lockdown wirtschaftliche Tätigkeiten zum Erliegen gebracht. Was wiegt schwerer?
Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen der Situation des Einzelnen und der Perspektive des Landes insgesamt. Dem Betreiber einer Eckkneipe oder eines guten Restaurants nutzt es wenig, wenn die Krise als Innovationstreiber im Bereich der Digitalisierung wirkt, weil sein Betrieb geschlossen ist und die Umsätze fast bei null liegen. Umgekehrt ist es in der Tat so, dass unsere Art zu leben und zu arbeiten um die digitale Dimension bereichert worden ist. Vieles, das früher mit zeitraubenden Reisen verbunden war, wird heute in Telefon- oder Videokonferenzen erledigt. Es gibt eine Reihe neuer innovativer Geschäftsmodelle, die dazu beitragen werden, dass zukunftsfähige Arbeitsplätze in neuen Bereichen entstehen. Länder, die als Erstes die Pandemie besiegt haben – ich denke da nicht nur an China, sondern auch an Südkorea, Japan, Australien und Neuseeland –
treiben jetzt ihre wirtschaftlichen Aktivitäten sehr stark voran. Deshalb ist es wichtig, dass Deutschland, bei aller Diskussion um die richtige Corona-Strategie, fest im Blick behält, dass sich unsere Zukunft im wirtschaftlichen Wettbewerb mit den großen Regionen in Asien, in den USA, zunehmend auch in Latein- und Südamerika, entscheidet. Deshalb investieren wir schon jetzt sehr viel in Zukunftstechnologien.
Verschieben sich durch die Pandemie die Gewichte?
Die Pandemie wirkt in vielen Bereichen wie ein Brennglas und zeigt unsere Stärken und Schwächen deutlicher als zuvor. Aber im globalen Wettbewerb hat sich bereits seit den 60er-Jahren sehr viel verschoben und beschleunigt. China hat als wirtschaftliche Großmacht vor 30 Jahren noch nicht existiert, jetzt ist eine dynamische Entwicklung zu beobachten mit einem enormen technologischen Fortschritt. China ist heute ein ernst zu nehmender wirtschaftlicher Wettbewerber und längst nicht mehr „verlängerte Werkbank". Neben der Digitalisierung ist auch der Klimaschutz ein Treiber der Transformation unserer Volkswirtschaften. Das führt dazu, dass zum Beispiel neue Antriebsarten wie Elektromobilität, Wasserstoff und Brennstoffzellen marktfähig werden. Das müssen wir nicht fürchten, weil Deutschland immer wieder bewiesen hat, dass es mit solchen auch disruptiven Veränderungen gut umgehen kann. Made in Germany gilt weltweit als Qualitätssiegel. Wir dürfen uns aber nicht in Selbstsicherheit wiegen. Deshalb wird und muss Wirtschaftspolitik in den nächsten Jahren noch mehr im Zentrum stehen, als es jetzt schon der Fall ist.
Es gibt die Kritik, etwa im Blick auf die Automobilindustrie, dass man in Deutschland bei Entwicklungen hinterherhinkt. Würden Sie dem zustimmen?
In dieser Form nicht, nein. Deutschland hat aus den letzten drei Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung sicher einige ungelöste strukturelle Probleme, die wir angehen müssen. Wenn Sie aber den Umgang mit der Corona-Krise betrachten, dann ist kaum ein anderes Land in Europa besser durch diese Krise gekommen als Deutschland. Das gilt auch im Blick auf Großbritannien oder die USA. Es ist immer wichtig, Lehren aus Krisen und dem Krisenmanagement zu ziehen, wir brauchen unser Licht aber nicht unter den Scheffel zu stellen. Die Wirtschaft ist in Deutschland weniger stark geschrumpft als anderswo, die Zahl der Arbeitslosen ist längst nicht so stark gestiegen wie in anderen Ländern. Die Bundesregierung hat seit Beginn dieser Krise zügig und entschlossen gehandelt und einen umfassenden Rettungsschirm für Unternehmen und Beschäftigte aufgespannt. So haben wir unsere Wirtschaft bislang mit über 80 Milliarden Euro unterstützt und über 23 Milliarden Euro an Kurzarbeitergeld ausgezahlt. Das hat viele Jobs erhalten und Betriebe vor der Insolvenz bewahrt. Auf unser wirtschaftliches Durchhaltevermögen dürfen unsere Unternehmen mit Recht stolz sein, ausruhen dürfen wir uns darauf aber nicht. Wir haben eine umfangreiche Reformagenda zu bewältigen und müssen unsere Unternehmen stärken und entlasten, vor allem von unnötiger Bürokratie. Ich habe eine Industriestrategie vorgelegt, die darauf abzielt, technologische Schlüsselkompetenzen in Deutschland zu stärken. Über diese Strategie gab es zunächst eine heftige Diskussion, inzwischen ist aber allgemein akzeptiert, dass wir eine aktivierende Industriepolitik brauchen, wenn wir auch in Zukunft vorne mit dabei sein wollen. Wir machen auf dieser Grundlage eine gemeinsame Politik, gemeinsam mit den Unternehmen und mit den Arbeitnehmern. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die Stahlindustrie. Europa hat sich verpflichtet, bis spätestens 2050 CO2-neutral zu sein. Das bedeutet, dass sich alle Wirtschaftszweige, auch unsere Stahlproduktion, grundlegend umstellen müssen. Das ist möglich, weil wir durch grünen Wasserstoff auch grünen Stahl produzieren können, bei dem kein zusätzliches fossiles CO2 in die Umwelt gelangt. Aber das ist mit hohen Kosten verbunden. Deshalb habe ich bereits im vorvergangenen Jahr einen gemeinsamen Diskussionsprozess in Gang gesetzt. Das Ergebnis ist eine Strategie, die wir im Bundeskabinett beschlossen haben. Wir werden die Stahlindustrie, auch im Saarland, bei den Milliarden-Investitionen, die notwendig sind, unterstützen. Denn Politik für Klimaschutz muss Hand in Hand mit Politik für Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit gehen.
Sie haben die Programme des Staates angesprochen. Manche sehen darin die Wiederentdeckung eines starken Staates, sozusagen als Gegenpol zu einer sehr liberalen Politik. Wird uns diese Diskussion absehbar weiter begleiten?
Ich glaube, dass es weniger eine Diskussion ist als eine Feststellung. Es ist ein Irrglaube, dass Marktwirtschaft einen schwachen Staat voraussetzt, im Gegenteil. Wir wissen, dass eine starke, wettbewerbsfähige, global agierende Marktwirtschaft einen starken Staat voraussetzt, der einerseits eine soziale Komponente durch Gesetzgebung absichert, der zum anderen aber auch immer wieder dafür sorgt, dass die Dinge, die durch Angebot und Nachfrage allein nicht geregelt werden können, nicht aus dem Blick entschwinden. Denken Sie beispielsweise an die aggressive protektionistische Subventionspolitik anderer Staaten, die keinen fairen Wettbewerb für unsere Unternehmen zulassen, da kann das Produkt noch so gut sein. Deshalb sind es ja gerade auch die Unternehmen selbst, die in den letzten Monaten nach einer starken Rolle des Staates gerufen haben. Die ganzen staatlichen Unterstützungsprogramme wurden ja nicht gegen, sondern mit den Unternehmen entwickelt. Das zeigt, dass Soziale Marktwirtschaft und staatliche Flankierung kein Gegensatzpaar sind, sondern sich gut ergänzen müssen.
Die Krise hat gleichzeitig aber auch Kreativität freigesetzt, Stichworte Gründungen und Start-Ups. Gibt es da einen neuen Push?
Ich würde mir einen neuen Push wünschen, weil wir nur dann das erhalten können, was uns lieb und teuer ist. In der Pandemie sind Millionen von Menschen ins Internet ausgewichen, weil die Geschäfte geschlossen waren. Das hat das Problem für die Einzelhändler, die schon in den letzten Jahren kämpfen mussten, weiter verschärft. Es gibt aber spannende Initiativen mit innovativen Modellen. Ich habe einen Prozess mit den Beteiligten angestoßen, um Modelle zu entwickeln und zu unterstützen, mit denen wir lebensfähige, spannende, liebenswürdige Innenstädte erhalten können. Dazu gehören sicherlich Kunst und Kultur, aber auch Möglichkeiten für den Einzelhändler, beispielsweise seine Theke ins Internet zu verlängern. Das werden manche Einzelhändler aber alleine nicht bewältigen können. Es setzt voraus, dass wir nationale Plattformen schaffen, die die unterschiedlichen Beteiligten zusammenbringen und Fragen der Logistik unterstützen. Mein Ziel ist es, mit dem Verband der Einzelhändler, der Industrie, den kommunalen Verbänden und jungen Start-ups eine große gemeinsame Initiative in Gang zu setzen.
Sie haben das Thema Stahl schon gestreift. Ist dieses erste Quartal 2021 das entscheidende für die notwendigen Weichenstellungen, wie es von den Unternehmen heißt?
Wir haben mehrere Baustellen. Wir haben auf den Stahlmärkten, auch durch unzulässige Subventionen anderer Staaten, eine Überproduktion, die zum Teil nach Europa schwappt. Deshalb brauchen wir globale Regelungen, die bisher auch an den USA gescheitert sind. Ich hoffe, dass wir mit der neuen Administration hier Fortschritte erreichen können. Das zweite ist das Ziel der Klimaneutralität, das wir nur im europäischen Verbund bewältigen können. Die Europäische Kommission wird in den nächsten Monaten dazu Vorschläge vorlegen. Ich bin mit der Kommissions-Vizepräsidentin Vestager ständig im Gespräch. Wir haben alle Interesse daran, noch vor der Bundestagswahl möglichst viel aufs Gleis zu setzen, auch weil niemand weiß, wie lange es nach der Wahl dauert, bis eine neue Regierung im Amt ist.
Der Automobilindustrie ist vielfach vorgeworfen worden, Entwicklungen wie etwa E-Mobilität verschlafen zu haben. Ist man dort inzwischen hellwach?
Die Zeichen der Zeit sind von allen erkannt. Manche sagen: spät. Ich sage: nicht zu spät. Deutschland ist das Land des Verbrennersystems, was in den letzten Jahrzehnten zu ungeahnten Leistungssteigerungen und weltweitem Erfolg geführt hat. Trotzdem ist klar, dass Klimaschutz nur möglich ist, wenn wir zur Klimaneutralität kommen. Deshalb ist es nötig, dass wir den Blick auf andere Möglichkeiten richten, denn die individuelle Mobilität ist ein wichtiger Teil der Freiheit des Einzelnen. Wir unterstützen diesen Prozess mit einem Milliardenprogramm, um zum Beispiel innovative Batteriezellenfertigung und die ganze Wertschöpfungskette dazu wieder nach Europa zu holen. Und hier sehen wir konkrete Erfolge. SVolt wird im Saarland investieren und Arbeitsplätze schaffen. Denken Sie aber auch an die große Fabrik, die Opel in Kaiserslautern errichtet, an die Investition von BASF und natürlich an die Gigafactory von Elon Musk in Brandenburg. Da ist eine enorme Dynamik in Gang gekommen. Die brauchen wir auch, denn im Zuliefererbereich gibt es enorme Transformationsprobleme, die Tausende von Arbeitsplätzen gefährden könnten. Wir können das aber zum größten Teil kompensieren, wenn wir mutig auf neue Technologien setzen. Deshalb stellen wir fünf Milliarden Euro für diesen Transformationsprozess zur Verfügung, insbesondere für Zulieferschwerpunkte wie das Saarland, um neue Entwicklungen und Kooperationsmodelle voranzutreiben. Ich bin überzeugt, wir werden in 30 Jahren in Deutschland immer noch die besten Autos bauen, aber sie werden neue Antriebe haben.
Bei all den Summen, über die wir gesprochen haben, ist inzwischen eine Diskussion entbrannt, wie das alles zu stemmen ist. Der Unions-Fraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus hat seine Überlegungen zur Schuldenbremse eingebracht und damit auch Widerspruch ausgelöst, aber die Debatte ist eröffnet.
Als Wirtschaftsminister habe ich ein hohes Interesse daran, dass finanzielle Solidität ein anerkanntes Markenzeichen Deutschlands bleibt und die Wirtschaft nicht mit Steuererhöhungen belastet wird. Deshalb sollten wir versuchen, dieses Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Drei Dinge sind wichtig: Es war richtig, dass wir auf ausgeglichene Haushalte und Begrenzung staatlicher Schulden gesetzt haben. Das hat das Vertrauen gestärkt, und es führt dazu, dass sehr viele Schulden, die wir jetzt aufnehmen mussten, zu negativen Zinssätzen bedient werden können. Zweitens ist solide Haushaltspolitik nicht nur ein Selbstzweck, sondern hat uns die Spielräume geschaffen, mit denen wir jetzt in der Krise ein Hilfsprogramm geschnürt haben, das es so in Deutschland und der Welt bislang noch nicht gegeben hat. Drittens: Wir können nie wissen, wann die nächste große Herausforderung auf uns zukommt. Deshalb ist es richtig, dass wir, solange die Krise anhält, unsere Unternehmensstruktur großzügig stabilisieren, dann aber auch wieder zu unserer bewährten Politik zurückkehren, damit wir auch bei der nächsten Krise handlungsfähig sind und künftigen Generationen nicht die finanziellen Spielräume nehmen.
Der Wahlkampf hat inzwischen längst begonnen. Sie treten wieder im Wahlkreis Saarlouis als Direktkandidat an, wieder gegen den Kabinettskollegen Heiko Maas (SPD).
Da haben die Menschen in meinem Wahlkreis eine wirkliche Wahl zwischen zwei Kandidaten, die die meisten ja auch kennen. Mit 20 Jahren in Führungsverantwortung innerhalb der Bundespolitik habe ich einen großen Erfahrungsschatz, den ich für eine zukunftsweisende, menschliche Politik einsetzen werde. Ich setze darauf, dass wir dann eine stabile Regierung haben werden. Mit dem Kollegen Heiko Maas verbinden mich die ein oder andere Unterschiedlichkeit in der Sache, aber doch das gemeinsame Bewusstsein, dass wir eine Verantwortung für unser Land haben.
Sie würden gern weiter mit ihm im Kabinett arbeiten?
(lacht) Ich habe nie den Fehler gemacht, eine bestimmte Regierungskoalition auszuschließen. Zur Demut vor der Entscheidung der Wählerinnen und Wähler gehört auch, dass man keine Entscheidung vorwegnimmt. Die demokratischen, staatstragenden Parteien der Mitte müssen untereinander koalitionsfähig sein, dazu gehören für mich SPD, FDP und Grüne. Wir wissen aber auch, dass die Frage von Koalitionen nicht unsere freie Entscheidung ist, sondern vom Wahlergebnis vorgegeben wird. Wichtig ist die Bildung einer handlungsfähigen, stabilen Regierung.