Die deutsche Außenpolitik dürfte nach Angela Merkel unsteter werden
Europa, die Welt starrt mit einem Tunnelblick auf Corona. Tagein, tagaus beherrscht das Virus die politische Agenda, auch in Deutschland. Kommt der Impf-Zug langsam in Fahrt? Wie bedrohlich ist die britische, die südafrikanische oder die brasilianische Corona-Mutation? Auch in der letzten Etappe ihrer Amtszeit scheint es nur darum zu gehen, welchen Job Bundeskanzlerin Angela Merkel als Krisenmanagerin macht.
Krisen sind der rote Faden in der Ära Merkel. In der Finanzkrise 2009 garantierte sie die Spareinlagen der Bundesbürger. Es war ein psychologischer Schutzwall, um zu verhindern, dass sich angesichts der weltweiten Schwindsucht der Banken Panik ausbreitet. Auch in der Eurokrise ab 2010 trug Merkel mit dazu bei, dass die EU nicht kollabierte. Durch eine Reihe von Hilfspaketen bekamen hoch verschuldete Staaten wie Griechenland einen Rettungsring, Geldhäuser erhielten eine Frischzellenkur.
Die Flüchtlingskrise im Sommer 2015 führte bei Merkel zu einer Abkehr von ihrem rationalen Politik-Stil. In einem Akt der Humanität öffnete sie die Grenzen für Migranten, was ihr im eigenen Land wie auch in Europa viel Sympathie, aber auch viel Gegnerschaft einbrachte. In der Corona-Pandemie vertrat sie von Anfang an einen harten Kurs. Angesichts der wirtschaftlichen Verwerfungen im Zuge der Lockdown-Phasen zeigte die Kanzlerin Solidarität im großen Stil: Sie warf ihre auf Sparsamkeit ausgerichtete Politik der schwäbischen Hausfrau über Bord und unterstützte einen europäischen Rettungsfonds in Höhe von 750 Milliarden Euro. Eine Geste, die ihr beim französischen Präsidenten Emmanuel Macron viel Kredit einbrachte.
Merkel – von der „New York Times" einst zur „Führerin der freien Welt" geadelt – ist in der internationalen Politik einer der wenigen Stabilitätsanker. Sie erkannte die Gefahr, die von dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump ausging, ließ sich aber nicht provozieren. Die aggressive Interventionspolitik des russischen Staatschefs Wladimir Putin kritisierte sie deutlich, ohne die Kanäle des Dialogs mit Moskau zuzuschütten.
Nach der Bundestagswahl am 26. September sitzt ein anderer Spitzenpolitiker im Kanzleramt. Ganz gleich, ob es Markus Söder (CSU), Armin Laschet (CDU), Robert Habeck (Grüne), Annalena Baerbock (Grüne) oder Olaf Scholz (SPD) ist: Ein internationales Schwergewicht à la Merkel kann es (zunächst) nicht sein. Alle Kandidaten müssen ihren außenpolitischen Kurs noch definieren.
Vieles hängt von der Regierungskoalition ab. Sollte es ein schwarz-grünes Bündnis geben, sind Konflikte beim Umgang mit Moskau programmiert. In der Union – zumal mit Söder und Laschet – drängt man auf eine Fortführung von Merkels Marschroute. Sie lautet: Auf der einen Seite rhetorisch klare Kante zeigen und etwa die Vergiftung sowie die Verhaftung des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny anprangern. Auf der anderen Seite soll aber die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 zwischen Russland und Mecklenburg-Vorpommern zu Ende gebaut werden. Die Grünen sind indessen finster entschlossen, das Prestige-Projekt von Präsident Wladimir Putin zu torpedieren. Ein Stopp oder zumindest ein Moratorium soll als Hebel dienen, um den Kreml im Fall Nawalny zu Zugeständnissen zu bewegen. Auch mit Blick auf China fordern die Grünen mehr politischen Druck für Menschenrechte, zum Beispiel in Bezug auf Hongkong, während CDU und CSU die wirtschaftlichen Beziehungen in den Vordergrund stellen.
Auch bei einer rot-rot-grünen Koalition dürfte das deutsch-russische Verhältnis zum Zankapfel werden. SPD und Linkspartei wollen Pragmatismus, die Grünen sehen sich als Bannerträger von Demokratie und politischer Teilhabe. Eine „wertegeleitete Außenpolitik" heißt für sie: Megafon-Diplomatie ist kein Tabu, auch wenn sie praktisch kaum Ergebnisse bringt. Die Fortsetzung der großen Koalition – nach den derzeitigen Umfragen rechnerisch möglich, aber unwahrscheinlich – wäre die Weiterschreibung des Status quo.
Söder? Laschet? Baerbock? Habeck? Scholz? Sie würden sich durch Stil und Auftritt im Kanzleramt unterscheiden. Die Parteienkonstellation im Regierungsbündnis wäre für die politische Richtung prägender. Nach den alles in allem relativ stabilen Merkel-Jahren dürfte die Berliner Republik zunächst unsteter und unberechenbarer werden.