Sami Khedira und Shkodran Mustafi wurden 2014 mit Deutschland Fußball-Weltmeister. Zuletzt stockten ihre Karrieren. Bei Spitzenclubs waren sie nur noch dritte Wahl. Nun sollen sie zwei Traditionsvereine vor dem Absturz retten.
Wenn man als Tabellenletzter plötzlich einen Weltmeister in seinen Reihen hat, dann lässt man diesen auch unter allen Umständen spielen. So dachte offenbar Christian Gross, der Trainer des FC Schalke 04. Zwar hatte Shkodran Mustafi wegen der nach seinem Wechsel vom FC Arsenal nötigen Quarantäne vor dem Spiel gegen RB Leipzig noch kein einziges Mal mit seinem neuen Team trainiert. Dennoch stand er in der Startelf. Gross’ kuriose Begründung: Er kenne Mustafi, schließlich habe er diesen schon mal in einem Benefizspiel in seiner Mannschaft gehabt. In der Nachspielzeit der ersten Halbzeit gerieten die Schalker dann in Rückstand – durch einen Stellungsfehler von Mustafi, dem schlicht und ergreifend die Spielpraxis fehlte. Denn in der Premier League spielte er für Arsenal seit dem 1. November gerade mal eine einzige Minute, nur in der Europa League durfte er im dort aufgebotenen B-Team ran. Das Spiel gegen Leipzig endete schließlich 0:3, Mustafi erhielt im Fachmagazin „Kicker" die Note 5. Und TV-Experte Marcel Reif lästerte tags darauf in der Sendung „Doppelpass" bei Sport1 über den Startelf-Einsatz Mustafis: „Lotto spielen ist sinnvoller."
Die besten Zeiten liegen bereits hinter ihnen
Pal Dardai dachte und handelte anders als Christian Gross. Der neue alte Trainer von Hertha BSC hatte vor dem Spiel gegen den FC Bayern München plötzlich auch einen Weltmeister von 2014 zur Verfügung. Doch er bot Sami Khedira nicht in der Startelf auf. Er wolle „kein Eigentor machen", sagte Dardai und brachte Khedira nicht zur Pause beim Stand von 0:1. Auch nicht bei seinem zweiten Wechsel in der 56. Minute. Und auch nicht beim dritten in der 63., sondern erst neun Minuten vor Schluss. Diese neun Minuten waren freilich die ersten Pflichtspielminuten, die Khedira seit mehr als einem halben Jahr bestritt. Überhaupt hatte er seit November 2019 in rund eineinviertel Jahren nur einmal für 28 Minuten im Pokal für Juventus Turin auf dem Platz gestanden. In dieser Saison gehörte er kein einziges Mal zum Kader.
Man darf die beiden Transfers angesichts dieser Umstände durchaus hinterfragen. Denn Hertha BSC und vor allem das abgeschlagene Schlusslicht aus Schalke brauchen eigentlich Soforthilfen. Am grundsätzlichen Leistungsvermögen gibt es wenig Zweifel. Nicht bei Mustafi, der bei der WM 2014 zwar erst als Nachrücker für den verletzten Marco Reus in den Kader rutschte, dann aber drei von vier Spielen bis zu einer eigenen Verletzung absolvierte und danach auf ordentlichem Niveau zwei Jahre in Valencia und viereinhalb Jahre bei Arsenal spielte. Und wohl erst recht nicht bei Khedira, der für Real Madrid und Juventus Turin insgesamt rund 300 Pflichtspiele absolvierte und dessen Visitenkarte stolze 21 Titel schmücken.
Hertha-Coach Dardai will Khedira langsam heranführen
Doch während Mustafi bei Arsenal der Notnagel war, war Khedira bei Juve nicht mal mehr das. Kein einziges Mal seit Saisonbeginn hatte er im Kader gestanden. Und das, obwohl er vollkommen fit war. Aber Trainer Andrea Pirlo konnte mit ihm nichts anfangen. Der ehemalige Stratege, der auf derselben Position wie Khedira spielte, wollte bei seinem Amtsantritt als Trainer-Novize im Sommer eine neue, junge Mannschaft aufbauen. Er ignorierte Khedira selbst nach einem veritablen Fehlstart und obwohl das Fachblatt „Gazzetta dello Sport" Ende November schrieb: „Dem Mittelfeld von Juve scheint es an Charisma, Führung und Erfahrung zu mangeln. Paradox: Alle drei Qualitäten sind in jenem Spieler zu finden, der eigentlich nicht mehr für das Projekt vorgesehen ist." Khedira eben.
Doch er kam nicht mehr zum Zug. Und deshalb wechselte er. Von einer „alten Dame" zur anderen. Denn sowohl Juve als auch die Hertha tragen diesen Spitznamen. Auf den ersten Blick war der 33-Jährige auch eine Riesenverpflichtung für die Hertha. Doch die Frage muss sein: Wieso leihen die Berliner am 19. Spieltag einen Profi, den sie dann noch langsam heranführen müssen? So lange ist die Saison ja nicht mehr.
Und Khedira, sonst der Leader, stellte auch gar keine Ansprüche. „Ich komme jetzt nicht hierhin, bin der Big Boss und erzähle allen, was gemacht werden muss", sagte er nach seiner Ankunft. Er sei „ein ganz normaler Fußballer" und spiele sich nicht „als der große Retter" auf. Zudem sei es für ihn, der sogar mit dem VfB Stuttgart 2007 Meister wurde (und auch noch das entscheidende Tor zum Titel schoss), ehe er zu den Titelgaranten Real und Juve wechselte, schon ungewohnt, „dass es jetzt nicht mehr um Titel geht, sondern dass ich mit jungen, talentierten Spielern den Abstieg verhindern will. Da muss ich meine Rolle finden." Eine doppelte Umstellung also, die die Aufgabe nicht einfacher macht.
Immerhin: Khedira erklärte im „Kicker", er habe „richtig Bock auf die Aufgabe". Und in Sachen Fitness brauche er zwar „Trainingseinheiten und Spielzeit nach einer schwierigen Zeit", habe aber grundsätzlich „keinerlei Zweifel, dass es reicht". Auch Dardai hat diese grundsätzlich angeblich nicht. „Er ist intelligent als Mensch und fußballintelligent, das werden wir schon nutzen", sagte der Ungar. Schon bei seinem Neun-Minuten-Debüt habe er „Ruhe ausgestrahlt und Halt gegeben". Gegen die Bayern war aber der andere Last-Minute-Transfer, der Serbe Nemanja Radonjic, die eindeutig größere Soforthilfe. Er durfte eine halbe Stunde spielen und zeigte laut Dardai „genau das, weswegen wir ihn geholt haben".
Eine Chance für beide, die eigentlich keine ist
Das muss Sami Khedira erst noch zeigen. Doch seine Motivation ist nach der langen und ungewohnten Rolle als Abgeschobener in Turin riesig. „Alleine wieder im Stadion zu sein und gebraucht zu werden" habe sich „unheimlich gut" angefühlt, sagte er nach seinem Debüt. Die Frage ist, ob er in der nicht einmal ganzen Halbserie, die er bei der Hertha zunächst unter Vertrag steht, am Ende wirklich schon zur prägenden Figur werden kann.
Dies gilt noch mehr für Mustafi, auch wenn dieser zumindest vereinzelt in dieser Saison auf dem Platz gestanden hatte. Doch der 28-Jährige kam in eine noch verunsichertere Mannschaft, er hatte noch weniger Anlaufzeit. Und er wurde im Endeffekt nicht als zusätzliche Verstärkung geholt, sondern als Ersatz für Ozan Kabak. Der hochtalentierte junge Türke war in dieser Saison zwar zum ständigen Unsicherheitsfaktor geworden. Dennoch sieht Jürgen Klopp in ihm so viel, dass er ihn zum FC Liverpool lotste.
Auch deshalb wurde Mustafi gegen Leipzig direkt ins kalte Wasser geworfen. „Klar hätte ich mir etwas anderes gewünscht", sagte er nach seinem Debüt für Schalke. Und in der Tat ersten Bundesliga-Spiel, denn der im hessischen Bebra geboren Mustafi war schon mit 17 zum FC Everton nach England gewechselt. „Ich wusste vorher, dass es nicht einfach wird, weil es der erste Tag mit der Mannschaft war. Ich habe die Herausforderung aber angenommen", sagte Mustafi, wie Khedira ein zweifellos intelligenter und auch eloquenter Vertreter seiner Zunft.
Und Trainer Gross? Der war „unterm Strich mit seiner Leistung nicht zu 100 Prozent zufrieden. Aber mit seiner Einstellung schon. Er hat die Mannschaft stabilisiert und Anweisungen gegeben. Er wird uns in Zukunft enorm helfen." Die Frage ist nur: Wird dies vor dem 22. Mai sein, wenn Schalke in Köln sein vielleicht vorerst letztes Bundesliga-Spiel bestreitet?
Die einzige Chance für Schalke und Mustafi sei die, dass sie keine haben, schrieb „Spiegel Online": „Schalke und Mustafi, das ist so wie zwei Cowboys, die ihre besten Tage hinter sich, aber noch einen einzigen Kampf zu bestreiten haben. Eigentlich ist er aussichtslos, aber es gibt genug Western, die davon leben, dass aussichtslose Kämpfe gewonnen werden und die Jungs am Ende gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten."
Klingt zu kitschig, um wahr zu werden. Eines macht den Fans beider Vereine aber wirklich Hoffnung: Denn sowohl Mustafi als auch Khedira sind in ihrer Karriere noch nie abgestiegen.