In vielen Metropolen wird leidenschaftlich über die Verkehrswende diskutiert. Doch wie können kleine Städte mithalten? Ein Besuch in Bocholt, wo das Fahrrad schon lange regiert.
Ja ja, die Sache mit dem Knackarsch. Da investiert eine Gemeinde Millionen in den Radverkehr, stellt öffentliche Luftpumpen auf, baut neue Radwege und bezuschusst Lastenräder. Doch alles, was hängen bleibt, ist dieses Plakat. „Warum einen Bleifuß, wenn ich einen Knackarsch haben kann?", steht darauf. Es zeigt einen jungen Mann, der mit hochgekrempelten Jeans in die Pedale tritt – noch heute lachen die Menschen darüber, wenn sie die Website der Stadt Bocholt besuchen.
2015 hing das Plakat auch in der Öffentlichkeit. Im „Europäischen Jahr für Entwicklung" warb es dafür, vom Autositz auf den Sattel umzusteigen, wenngleich man dafür in Bocholt eigentlich niemanden überreden muss: Mit 74.000 Einwohnern ist es die fahrradfreundlichste Mittelstadt Deutschlands. Sechsmal hintereinander hat Bocholt den „Fahrradklimatest" des Radverkehrsclubs ADFC in der entsprechenden Kategorie gewonnen. Fast 40 Prozent aller Wege werden in der Stadt per Fahrrad zurückgelegt; schon am Kreisverkehr am Ortseingang thront eine Zweirad-Skulptur. Was macht Bocholt richtig? Und was können andere Gemeinden daraus lernen? Daniel Zöhler hat diese Fragen schon oft gehört. Als Stadtbaurat ist er für die Verkehrsplanung zuständig und empfängt regelmäßig Delegationen aus anderen Städten. „Bei uns wurde der Radverkehr schon immer mitgedacht", sagt Zöhler. Er hat eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet, auf der historische Fotos zu sehen sind. Eines zeigt eine Gruppe von Radfahrern im Jahre 1927, ein anderes einen Schichtwechsel in der örtlichen Weberei: Alle Arbeiter verlassen die Firma per Fahrrad. Selbst in den 1960er-Jahren, dem Autojahrzehnt schlechthin, reihen sich in der Bocholter Fußgängerzone die „Fietsen", wie die Zweiräder im lokalen Dialekt heißen. „Unsere Nähe zu den Niederlanden spielt sicherlich eine Rolle", räumt Zöhler ein. Die Grenze ist nur zehn Kilometer entfernt.
2,4 Millionen für breite Radlerbrücke
Schließlich schwingt sich Zöhler selbst auf seine Fietse. Er möchte dem Reporter die Highlights der Bocholter Verkehrsplanung zeigen, so viel Stolz muss sein. Kaum ist er losgefahren, fallen einige grundlegende Dinge auf: eigene Ampeln für Radfahrer, spezielle Haltebereiche an Kreuzungen, klar vom Autoverkehr abgetrennte Wege. Andere Kommunen können von so etwas nur träumen – in Bocholt sind sie selbstverständlich. Ebenso die „Lufttankstellen" und E-Bike-Ladestationen, die an mehreren Orten aufgestellt wurden.
Schließlich die Highlights. Daniel Zöhler hält am Theodor-Heuss-Ring an, einer vierspurigen Hauptverkehrsstraße. „Den Ring zu überqueren, wäre für Radfahrer richtig gefährlich", sagt der Stadtbaurat. Zwar gibt es an der nächsten Kreuzung eine spezielle Abbiegespur, der direkte Weg ist aber durch den Autoverkehr versperrt. Die Lösung: Neben dem Fluss Aa wird ein neuer Radweg gebaut, der unter dem Ring hindurchgeführt wird. „Versunkene Brücke" nennt man das in Bocholt, Kosten: 1,5 Millionen Euro.
Hinter der Unterführung erstreckt sich das „Kubaai"-Quartier, eine ehemalige Industriebrache, die in ein Wohn- und Freizeitviertel umgebaut wird. Eine 3,5 Meter breite Promenade führt zu einer weiteren Fluss-Überquerung, der sogenannten Podiumsbrücke. Das stählerne Bauwerk ist 47 Meter lang und 12,90 Meter breit – ein normaler Radweg würde über achtmal hineinpassen. „Das ist Qualität", schwärmt Zöhler. „Hier kommen sich Fußgänger und Radfahrer nicht in die Quere." Laut Stadtverwaltung hat die Brücke 2,4 Millionen Euro gekostet. 60 Prozent davon wurden durch ein Förderprogramm finanziert.
Können sich kleine Städte solche Investitionen leisten? „Es geht gar nicht so sehr ums Geld", antwortet Zöhler. „Es ist vielmehr eine Frage der Philosophie." Straßen würden ohnehin regelmäßig saniert – da müsse man den Fahrradverkehr eben konsequent mitdenken. So bietet Bocholt ganz bewusst keine kostenfreien Parkplätze in der Innenstadt an, um den Umstieg aufs Fahrrad zu fördern. Darüber hinaus gibt es immer wieder spezielle Aktionen, um das Thema in den Köpfen zu verankern – auch das berühmte Knackarsch-Plakat zählte dazu. Oder auch dieser Anreiz: Wer in Bocholt ein Lastenrad kauft, erhält einen Zuschuss von 1.000 Euro von der Gemeinde. Die Stadt verkauft darüber hinaus einen vergünstigten Fahrradanhänger an ihre Bürger, den sogenannten „Klimashopper". In ihm lässt sich Gepäck leicht transportieren.
Auch wirtschaftlich spielen Fietsen in Bocholt eine wichtige Rolle. Der Fahrradhersteller Rose Bikes hat hier seit 1907 seinen Sitz. Vom klassischen Händler entwickelte sich die Firma in den 1980er-Jahren zum Katalogversand, bevor sie ins Internetgeschäft einstieg. „Heute beschäftigen wir 500 Mitarbeiter und verkaufen 80 Prozent unserer Ware online", sagt Geschäftsführer Thorsten Heckrath-Rose. Doch nicht alles läuft digital: So betreibt Rose in der Nähe der Produktionshalle einen 4.000 Quadratmeter großen Shop, in dem vom Rennrad bis zur Radlerhose so ziemlich jedes Produkt verkauft wird, das mit Fahrradfahren zu tun hat.
Auf dem Land mehr Fahrrad-Pioniere
Heckrath-Rose sieht seine Heimat nüchterner als die offiziellen Stadtvertreter. „Die Fahrradkultur hier ist ziemlich einzigartig", sagt der Unternehmer. Es gebe viele gute Ansätze, den Radverkehr zu fördern. Doch dann folgt das Aber: Die Infrastruktur sei veraltet, viele Räder würden geklaut, neue Projekte bräuchten ewig, um umgesetzt zu werden. „Ein Freund von mir war letztens mit dem Fahrrad auf dem Markt, um Eier zu kaufen", erzählt Heckrath-Rose. „Als er zu Hause ankam, waren alle Eier kaputt. So ist der Zustand unserer Radwege." Stadtbaurat Daniel Zöhler räumt ein, dass noch nicht alles perfekt ist: Nach wie vor gebe es zu wenig Abstellplätze und zu viele alte Kies-Radwege. Zudem ließen separate Radschnellwege auf sich warten. Und ja, auch der Diebstahl bereite Probleme. Die Kriminalitätsstatistik der Polizei bestätigt diesen Eindruck. 1.029 Fahrräder wurden im Jahr 2019 in Bocholt geklaut. Wenn man den gesamten Landkreis betrachtet, stammt ein Drittel aller entwendeten Räder aus dem Fietsen-Eldorado Bocholt. Immerhin: Die Zahlen sind leicht rückläufig. Allerdings wird der Gesamtwert der gestohlenen Gegenstände immer höher, weil die Stadtbewohner sich zunehmend E-Bikes anschaffen. Und dann wäre da noch die Unfallstatistik: Auch hier schneidet Bocholt im Vergleich zu weniger fahrradfreundlichen Städten schlecht ab. Was aber nicht verwundert: Wo viel geradelt wird, passieren auch mehr Unfälle.
Sind solche Dinge nun Luxusprobleme? Oder sollten sich andere (Klein-)Städte Bocholt zum Vorbild nehmen? „Ein Erfolgsrezept gibt es in diesem Bereich leider nicht", weiß Jana Kühl, Professorin für Radverkehrsmanagement an der Ostfalia-Hochschule in Salzgitter. Zwar seien die Distanzen in Kleinstädten oft deutlich kürzer, aber auch schwerer überwindbar: „Wenn ich als Radfahrer erst mal eine Bundesstraße überqueren muss, um ans Ziel zu gelangen, habe ich ein Problem."
Auch Kühl findet, dass eine fahrradgerechte Verkehrsplanung gar nicht so oft am Geld scheitert – der Neu- und Ausbau von Autostraßen sei schließlich deutlich teurer als der eines Radwegs. Außerdem gebe es auch auf dem Land vielerorts Pioniere, die sich für einen besseren Radverkehr einsetzen. Doch diese würden schnell als Außenseiter abgestempelt. „Es ist wichtig, dass die Verwaltung mitzieht", sagt Kühl. „Das ist in Bocholt der Fall." Natürlich spiele auch die Topografie eine Rolle: In einer mittelalterlichen Altstadt mit engen Gassen gebe es kaum Platz für zusätzliche Radwege. Bergige Regionen hätten es traditionell schwerer. Andererseits: „In Zeiten von E-Bikes kann man diesen Aspekt relativieren."
Einige allgemeingültige Vorschläge hat die Expertin dann aber doch. So könne es sich beispielsweise lohnen, bestehende Schotterwege für den Radverkehr aufzuwerten. Oder Wirtschaftswege freizugeben, die ohnehin neben Landstraßen verlaufen. Und: auf die Pioniere hören. „Die braucht es, um etwas voranzubringen."
In Bocholt will der Fahrradhersteller Rose Bikes nun zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: einerseits etwas gegen den Fahrraddiebstahl unternehmen, andererseits daran verdienen. „Wir arbeiten an einer GPS-Alarmanlage, die wir in unsere Räder einbauen können", sagt Geschäftsführer Heckrath-Rose. Er ist überzeugt, dass sich das Produkt gut verkaufen wird – besonders in Bocholt, wo die Fietse so geliebt wird, dass sie schnell mal den Besitzer wechselt.