Der New Yorker Manny Kirchheimer zählt zu den bekanntesten im Saarland geborenen Regisseuren und war regelmäßig beim Filmfestival Max Ophüls Preis vertreten. Nun wurde der Regisseur, der am 2. März 90 Jahre alt wird, zum Ehrenbürger von Saarbrücken ernannt.
Herr Kirchheimer, herzlichen Glückwunsch zur Saarbrücker Ehrenbürgerschaft!
Vielen Dank! Damit hätte ich niemals gerechnet. Eine große Ehre! Sobald Corona es zulässt, soll es eine Feier im Rathaus geben, und ich freue mich sehr, dann auf ein Wiedersehen nach Saarbrücken zu kommen.
Ihr Vater stammte ursprünglich aus Bremerhaven. In Dortmund, wo er als Karikaturist arbeitete, hat er Ihre Mutter kennengelernt. Was hat Ihre Eltern damals nach Saarbrücken verschlagen?
Die Arbeit: Mein Vater wurde als Chefdekorateur im Kaufhaus E. Weil Söhne angestellt, dem heutigen Peek & Cloppenburg in der Bahnhofstraße. Und 1931 wurde ich dann geboren, im Stadtteil St. Arnual. Ich bin also ein echtes „Daarler Knießje"!
Im Zuge der Judenverfolgung im Dritten Reich emigrierten Sie 1936 mit Ihren Eltern nach New York. Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Kindheit in Saarbrücken?
Nicht wirklich, ich war zu jung. Ich weiß nur noch, wie mein Kindermädchen mich im Kinderwagen spazieren fuhr und den Rotenbühl hinaufschob. Wir wohnten damals in der Schmollerstraße 23.
Wissen Sie noch, wann Sie Ihr Elternhaus als Erwachsener zum ersten Mal wiedergesehen haben?
Ja, das war 1986. Ich hatte meinen Film „We Were So Beloved" fertiggestellt. Dafür hatte ich Dutzende in Deutschland geborene Juden interviewt, die ab den 1930er-Jahren in Washington Heights, einem Stadtteil von New York, Zuflucht gefunden hatten. Mit diesem Film war ich in der Forum-Reihe der 36. Berliner Filmfestspiele vertreten. Ich dachte, das wäre eine gute Gelegenheit, Saarbrücken zu besuchen. Also hinterließ ich eine Nachricht im Pressefach von Michael Beckert, dem Ressortchef der Filmredaktion der „Saarbrücker Zeitung". Ich schrieb einfach „Ich bin ein Saarbrücker" auf einen Zettel. Michael war schon abgereist, aber er erhielt meine Nachricht trotzdem und lud mich zu sich nach Hause ein. Ich wusste nicht, wie ich mich nach all den Jahren zurück in Saarbrücken fühlen würde. Aber als Michael mir das Zimmer seiner Tochter zeigte, das genauso unaufgeräumt war, wie das Zimmer meines Sohnes, fühlte ich mich gleich zu Hause. (lacht) Er zeigte mir die Stadt, fuhr mich an Stellen, von denen mir meine Eltern erzählt hatten, zum Rotenbühl, zum ehemaligen Kaufhaus E. Weil Söhne und natürlich auch in die Schmollerstraße. Nach genau 50 Jahren sah ich mein Elternhaus wieder.
Wie war das für Sie? War das Haus noch dasselbe?
Ich weiß nicht. Ich konnte mich an nichts erinnern, außer an die Spazierfahrten mit meinem Kindermädchen. Aber ich denke, es hatte sich nicht viel verändert. Die Nummer 23 war ein schmales Haus, das zwischen zwei anderen Häusern stand. Unsere Wohnung war im zweiten Stock gewesen.
Begann in diesem Jahr, 1986, auch Ihre lange Beziehung zum Filmfestival Max Ophüls Preis?
Michael Beckert vermittelte eine Retrospektive meiner Filme – zu der Zeit waren es sechs – in das Filmkunststudio Camera, das von Albrecht Stuby, dem Gründer des Festivals, geleitet wurde. 1988 lud mich Stuby ein, Mitglied der Ophüls-Jury zu werden, und dann bat er mich, mit einem eigenen Programm alljährlich zum Festival zurückzukehren. Ab 1989 präsentierte ich also jedes Jahr Kurzfilme meiner Studenten, die ich an der New Yorker School of Visual Arts unterrichtete.
All Ihre Filme sind unverkennbar New Yorker Filme. Sie feiern immer einen ganz bestimmten Aspekt der Stadt: die Architektur, die Hafenarbeiter, die Widerstandskraft der menschlichen Seele, und so weiter. New York hat Ihre Filmkunst geprägt. Ich frage mich, ob Sie auch Filmemacher geworden wären, wenn Ihre Eltern in eine andere Stadt ausgewandert wären, zum Beispiel Chicago oder San Francisco. Was meinen Sie?
Wer weiß? Ich habe in New York beim wunderbaren Hans Richter am Filminstitut des City College studiert. Richter war von Berlin aus die Flucht über die Niederlande und die Schweiz nach Amerika gelungen. Er war Dadaist und experimenteller Filmemacher, arbeitete mit Max Ernst und Man Ray. Irgendwann ging ich zum Filminstitut und fragte ihn ganz offen: „Professor Richter, gibt es denn irgendwelche Möglichkeiten beim Film?". Und er antwortete: „Ja, Möglichkeiten gibt es viele, aber Arbeit gibt es keine!" (lacht) Wir verstanden uns auf Anhieb. Richter hatte in New York das erste Dokumentarfilm-Institut Amerikas auf die Beine gestellt. Ich war also permanent umgeben von Dokumentarfilmern, und genau dieses Genre faszinierte mich ganz besonders. Ich wusste, das wollte ich werden, und dafür war ich genau am richtigen Fleck. Spielfilme wurden in Hollywood gemacht, aber die Heimat der Dokumentarfilme war New York. In den 1940er- und 50er-Jahren begegnete ich vielen großen Regisseuren, von denen einige meine Mentoren wurden, wie zum Beispiel Sidney Meyers und Leo Hurwitz. Ich lernte so viel in dieser Zeit. Um also Ihre Frage zu beantworten: Die Tatsache, dass ich Regisseur geworden bin, verdanke ich Hans Richter und der Stadt New York. Sie müssen auch bedenken, dass ich heute digital arbeite, aber damals noch auf Film drehte, das war sehr teuer. Man war auf Stipendien und Fördergelder angewiesen, die habe ich selten erhalten – zwei in meinem ganzen Leben, um genau zu sein. Wenn ich also in New York drehte, konnte ich schon mal die Reisekosten sparen, und so war schon fast ein halber Film finanziert. Außerdem gab es in der Stadt, die niemals schläft, eine Million Geschichten, das heißt, ich konnte eine Million Dokumentarfilme drehen. Natürlich gilt das auch heute noch: Ich spaziere einfach aus meiner Wohnung heraus und kann einen Film machen.
Wie hat sich Ihre Arbeit unter Corona verändert? Gehen Sie unter diesen speziellen Umständen trotzdem noch nach draußen, um zu filmen, oder halten Sie sich eher drinnen auf und schneiden altes Material?
Tatsächlich tue ich Letzteres. Von 1957 bis 1960 arbeitete ich mit einem Filmpartner an einem Projekt, für das wir ein Skript hatten. Wir versuchten Material, das wir gefilmt hatten, für dieses Projekt zu schneiden, aber wir konnten uns nicht einigen. Die künstlerischen Differenzen waren zu groß. Also blieb das Material erst einmal liegen. 1966 schnitt ich dann daraus meinen ersten Film, den 30-minütigen „Claw".
In „Claw" sehen wir, wie eine Abrissklaue ihrer Arbeit nachgeht. Es ist eine poetische Studie städtischer Zerstörung. 1980 hat Ihr Film in Saarbrücken eine ganz bestimmte Rolle gespielt.
Ja, er wurde als eine Art Propagandamittel eingesetzt, um den Abriss von Walters Eck zu verhindern, einem Gebäude mit wunderschöner Jugendstilfassade in der Viktoriastraße. Leider hat es nicht funktioniert. Heute steht dort ein C&A. Aus demselben alten Material, das wir zwischen 1957 und 1960 gedreht hatten und aus dem ich „Claw" geschnitten hatte, habe ich noch mindestens sechs weitere Filme gemacht, zum Beispiel „Bridge High" (1975) und „Tall" (2006). „Dream Of A City" (2017) hat am New York Film Festival teilgenommen und „Free Time" (2020) auch. In gewisser Weise ist „Free Time" mein erfolgreichster Film, er wird in 21 Kinos in ganz Amerika gespielt.
Herzlichen Glückwunsch, das ist ja fantastisch!
Ja, eine wunderbare Überraschung! Ein Kritiker nannte „Free Time" sogar den besten Film des Jahres 2020!
Faszinierend, dass Sie mit diesem Schatz an 60 Jahre altem Material auch heute noch arbeiten. Das ist das Wunderbare an New York. Die zeitlose Stadt. Es gibt so viele Ecken und Winkel, Gebäude, Straßenzüge, die in Form und Stil unvergänglich sind und diese einzigartige Atmosphäre, diesen nostalgischen Charme erzeugen. Das ist es auch, was mich an vielen Ihrer Filme beeindruckt. Sie besitzen dieselbe Unvergänglichkeit.
Danke sehr.
Nehmen wir zum Beispiel „Bridge High". Die Hauptrolle spielt eine Brücke, es kommen keine Menschen darin vor. Man kann sich diesen Film jederzeit ansehen und denken, er wäre erst gestern entstanden, dabei ist er von 1975. Man kann diese Brücke als ein Himmelsportal sehen, als ein abstraktes Gemälde, als einen Teil der Natur. Ihre Filmsprache ist sehr poetisch.
Ich habe eine ganz bestimmte Arbeitsmethode, und zwar wechsele ich hin und her zwischen sogenannten Talking-Heads-Filmen, also Interviewfilmen, in denen Menschen zu Wort kommen, und Montagefilmen oder lyrischen Dokumentationen, wie ich sie gern nenne, denn sie haben etwas Poetisches. „Stations Of The Elevated" zum Beispiel war ein Montage-film über U-Bahn-Graffiti. Es folgte „We Were So Beloved", ein Interviewfilm. Danach „Tall", wieder ein Montagefilm. Ich wechsele also immer ab, weil ich beides mag. Meine letzten Filme waren „Middle Class Money, Honey", ein Interviewfilm, in dem ich junge und alte New Yorker über ihre Beziehung zum lieben Geld befragt habe, dann „Dream Of A City", ein lyrischer Dokumentarfilm, gefolgt von „Daughters", einem Film, für den ich neun Frauen über ihre Mütter interviewt habe.
Hat Corona Ihre künstlerische Sicht auf das Leben verändert? Fühlen Sie sich vielleicht zu neuen Themen hingezogen?
Nein. Da ich zurzeit nicht mit meiner Crew unterwegs sein kann, um neues Material zu drehen, habe ich aus meinem alten Filmmaterial noch zwei weitere Filme geschnitten: „Up The Lazy River" und „One Last Time". Ich glaube der Titel „Ein letztes Mal" ist Programm, denn ich habe jetzt wirklich den letzten Rest aus dieser Schatztruhe herausgeholt.
Was steht als Nächstes an?
In den letzten Monaten haben sich ganz schön viele Zeitungen gestapelt, die werde ich jetzt erst mal lesen.