US-Forscher haben eine erstaunliche Strategie zur erfolgreichen Arterhaltung am Beispiel von Singvögeln nachgewiesen. Sie werfen die noch nicht flugfähigen Küken aus dem Nest heraus.
Jahr für Jahr, sobald Anfang März die Brutsaison beginnt, werden Tier- und Naturschutzorganisationen hierzulande regelmäßig mit Anfragen und Hilfsgesuchen von besorgten Menschen überschüttet, die im heimischen Garten ein scheinbar wehrloses, meist lautstark zwitscherndes Vogelküken außerhalb des schützenden Nestes entdeckt haben. Der menschliche Beschützer-Urinstinkt treibt sie zum Handeln, um das Leben des Jungtiers zu retten. Dass sie von den Experten am Telefon in der Regel den Rat erhalten, sich möglichst von dem Küken fernzuhalten, es nicht hinter die schützenden häuslichen Mauern mitzunehmen, sondern das weitere Geschehen auf dem Gartenboden aus ausreichender Entfernung abwartend zu beobachten, dürfte viele Tierfreunde sicherlich ziemlich enttäuschen. Hintergrund dieses Experten-Rats ist der Sachverhalt, dass in den meisten Fällen die häufig schon voll befiederten Jungvögel nicht etwa hilflos und verlassen sind, sondern das Nest im Zuge ihrer natürlichen Entwicklung im noch nicht flugfähigen Zustand verlassen haben. Sie werden weiterhin von ihren Eltern mit Nahrung versorgt, wobei sie diese lärmend mit Bettelrufen ununterbrochen einzufordern pflegen.
Nur wenn ein Jungvogel offensichtlich verletzt ist oder das Tier von den Eltern tatsächlich nicht mehr gefüttert wird, erlaubt das Bundesnaturschutzgesetz ausdrücklich eine Inobhutname des Kükens. Das setzt allerdings grundlegende Kenntnisse über die präferierte Nahrung voraus, weshalb der Jungvogel dann besser in sachkundige Hände, beispielsweise offizielle Vogelpflegestationen, übergeben werden sollte. Gänzlich anders liegt der Fall bei nackten oder halbnackten Vogelbabys, weil diese versehentlich aus dem Nest gefallen sein können oder gar von den Eltern ganz bewusst aus dem schützenden Hort herausbefördert wurden. In beiden Fällen werden die Kleinen von den Eltern nicht mehr mit Nahrung versorgt, für eine Rettung durch menschliches Zutun sind die Erfolgschancen verschwindend gering. Diese natürliche Auslese zu akzeptieren, die durch eine vergleichsweise große Brut vorab ausgeglichen wird, fällt vielen Menschen ziemlich schwer. Dass dahinter sogar ein ganz gezieltes, erfolgreiches und letztlich der Arterhaltung dienendes evolutionäres Prinzip steckt, haben US-Forscher unlängst am Beispiel verschiedener Singvögel-Spezies nachweisen können.
Eine natürliche Auslese akzeptieren
Dazu hatte ein Team um den Ornithologen Todd Jones von der University of Illinois 18 Singvogelarten beim Brüten an acht verschiedenen Standorten in den Bundesstaaten Florida, Illinois, Ohio, Pennsylvania und Texas beobachtet. Mit dem überraschenden, im Dezember 2020 im Fachmagazin „PNAS" veröffentlichten Ergebnis, dass die Eltern von zwölf der untersuchten Singvogel-Spezies einige Exemplare ihres Nachwuchses ganz bewusst lange vor dem Flüggewerden aus dem Nest gedrängt hatten. Der negative Aspekt der Opferung eines Teils der Nachkommenschaft sei durch erhebliche Überlebensvorteile für die restlichen Nestbewohner aufgefangen worden. Das mache aus der Vogeleltern-Perspektive durchaus Sinn, auch wenn die Überlebenschancen für die Ausgestoßenen als gering einzuschätzen seien, weil diese leichte Beute für alle möglichen Raubtiere werden könnten. Mit ihren Erkenntnissen dürften Jones und sein Team die hitzige wissenschaftliche Kontroverse unter Ornithologen weiter befeuern. Die einen postulieren, dass bei Singvögeln die Eltern so gut wie keinen Einfluss auf den Zeitpunkt des Nestverlassens ihres Nachwuchses hätten. Andere wie Jones & Co. gehen von einer gezielten elterlichen Nestflucht-Manipulation aus.
Für ihre Untersuchungen ermittelten die Wissenschaftler die Überlebensraten der einzelnen Jungvögel im Nest und nachdem sie flügge geworden waren. Anhand dieser Daten errechneten sie die stark von der Flügelausbildung abhängigen Sterbewahrscheinlichkeiten für die gesamte Brut vor und nach der Flugfähigkeit. Es stellte sich dabei heraus, dass die Überlebenschancen für die vorzeitig aus dem Nest herausgedrängten Vogelküken um 13,6 Prozent verringert waren. Nur wenn sie die ersten fünf Tage ungeschützt und flugunfähig überstanden hatten, konnte wieder das Ansteigen ihrer Überlebenschancen registriert werden. Dem stand jedoch der positive Befund entgegen, dass die Chancen für die Eltern, wenigstens ein flug- und lebensfähiges Vögelchen durch Opferung seiner Brüder und Schwestern durchbringen zu können, um 14 Prozent erhöht waren. „Die Eltern verteilen das Risiko", so Studien-Co-Autor Michael P. Ward: „Je länger die Jungvögel im Nest bleiben, desto größer ist die Gefahr, dass die gesamte Brut an Raubtiere wie Schlangen oder Waschbären verloren geht."
Haushalten mit der Energie der Eltern
Statt also alle Jungen gemeinsam im Nest zu versorgen, trennen die Vogeleltern ihre Nachkommenschaft, indem sie einige Jungtiere vorzeitig aus dem Nest werfen. „Auf diese Weise ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie alle sterben, fast gleich null", so Ward. Dieses Verhalten ist vor allem für Vogeleltern sehr lohnenswert, die eine große Brut haben und in einem für sie gefährlichen Umfeld leben. „Einzelne Jungvögel haben dadurch vielleicht eine geringe Überlebenswahrscheinlichkeit", sagt Todd Jones. „Aber wenn man sie früh aus dem Nest hinauswirft, profitieren die Eltern durch eine um 14 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, mindestens einen Nachkommen bis zur Selbstständigkeit aufziehen zu können. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Eltern ihre Nachkommen so behandeln, damit sie früher flügge werden und um ihre eigene Fitness zu verbessern – selbst um den Preis des Überlebens für jeden ihrer Nachkommen", sagt der Wissenschaftler Das vom frühzeitigen Nest-Herausdrängen eines Teils der Nachkommenschaft geprägte Verhalten der Vogeleltern dient daher laut den Forschern vor allem der Erhaltung der eigenen Fitness, wovon letztlich aber auch die überlebenden Vögelchen profitieren könnten. „Während die Nachkommen zunächst viel Energie aufwenden müssen", so Jones, „ist es für sie auch von Vorteil, wenn sie in Zukunft selbst brüten und dasselbe Prozedere mit ihren eigenen Jungen machen werden. Das Verhalten wird von Generation zu Generation weitergegeben."
Letzten Endes könne das Verhalten als ein Kompromiss elterlicher Fürsorge eingestuft werden. Wenn die Vogeleltern sehr viel Energie in die Aufzucht aller Jungtiere investieren würden, würde das zwar die Überlebenschancen aller Jungen erhöhen, aber gleichzeitig würde dabei das Risiko steigen, dass die Eltern aus Erschöpfung eine leichte Beute von Raubtieren oder Krankheiten werden könnten. Auch könne ihnen dadurch die nötige Kraft fehlen, um zusätzliche Nachkommen in die Welt zu setzen. Wenn die Eltern hingegen zu wenig Fürsorge in ihre Nachkommenschaft investierten, würde dies die Chance auf eine Weitergabe der Gene in die nächste Generation erheblich beeinträchtigen.
Das Verstoßen von Nestlingen ist übrigens kein auf Singvögel beschränktes Phänomen, sondern konnte hierzulande auch schon bei Störchen beobachtet werden, als diese 2008 reihenweise hungrige Küken wegen Futtermangels im Nordosten der Republik aus den Nestern vertrieben hatten. Die wenige noch verfügbare Nahrung war damals den kräftigsten Jungtieren vorbehalten.