Vor zehn Jahren schockte das Reaktorunglück von Fukushima Daiichi die Weltöffentlichkeit und erschütterte das Vertrauen in die Atomkraft. Viele Risiken waren zuvor bekannt, gerechnet hat mit einer solchen Katastrophe dennoch kaum jemand.
Was sich am 11. März vor inzwischen zehn Jahren an der Nordostküste Japans abspielte, war eine Verkettung mehrerer Unglücksfälle. Um 14.46 Uhr Ortszeit ereignete sich vor der Ostküste der japanischen Hauptinsel Hoshu, dem Kernland Japans, ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 9,0. Nur 23 Sekunden später erreichten die seismischen Wellen das 163 Kilometer nordöstlich, direkt an der Küste gelegene Atomkraftwerk Fukushima Daiichi und sorgten dort zunächst für eine sicherheitstechnische Routineabschaltung der Anlage. Die Notsysteme sprangen umgehend wie vorgesehen an.
Das Kontrollzentrum war abgeschnitten
Das Beben löste einen gewaltigen Tsunami aus, der kurze Zeit später die Ostküste traf und bis zu 22.000 Menschen in den Tod riss. Er traf auch die Kernkraftanlage mit der vollen Wucht einer 15 Meter hohen Welle. Die etwa 5,70 Meter hohe Schutzmauer war für die Welle schlicht zu niedrig. Das 1971 erbaute Kraftwerk mit sechs Reaktoren wurde erheblich beschädigt, es entstanden irreparable Schäden an den Reaktorblöcken 1 bis 4. Die gesamte Notstromversorgung der Anlage brach als Folge des eintretenden Wassers zusammen. Die Anlage galt bis dahin mit 4,5 Gigawatt elektrischer Leistung als eines der leistungsstärksten des Landes, aber auch als eines der unsichersten. Immer wieder hatten Experten gemahnt, Fukushima Daiichi sei nicht ausreichend gegen Erdbeben und Tsunamis geschützt. Es sei nur für Beben der Stärke 8 ausgelegt. Zudem hatte niemand für möglich gehalten, dass es zu einem kompletten Stromausfall kommen könnte. Ein ARD-Team um den Wissenschaftsjournalisten Rangar Yogeshwar filmte vier Jahre nach dem Unglück als erstes Medienteam überhaupt in der Anlage von Fukushima Daiichi und arbeitete die Stunden der Crew im dortigen Kontrollzentrum auf. Durch den kompletten Stromausfall war es im Kontrollzentrum mit einem Schlag stockdunkel geworden, und auch die Telefonkommunikation nach draußen war so unmöglich geworden. Mithilfe von Autobatterien schafften es die Techniker zumindest, die Füllstandsanzeige für das Kühlwasser des Reaktors wieder in Gang zu bringen. Sie befürchteten eine Kernschmelze und notierten mit Stiften die Wasserstandsanzeige von Block 1 direkt an der Wand. Um 21.30 Uhr zeigte die Anzeige im Reaktor 40 Zentimeter Wasserstand. Im Viertelstundentakt kontrollierten sie weiter, notierten erst 50, dann 55, später 59 Zentimeter. Alles schien in bester Ordnung. Eine fatale Fehleinschätzung. Der Füllstand des Reaktors wird durch ein Druckmessgerät bestimmt, das sich an einem Vergleichsgerät orientiert. Dieses gibt die sogenannte Nulllinie vor. Sinkt der Wasserstand im Reaktor, misst das System einen geringeren Druck im Unterschied zum Vergleichsgefäß. Dieser Druckunterschied ist ausschlaggebend für die Füllstandsanzeige, an der sich die Techniker orientierten. Obwohl das Kühlwasser zu diesem Zeitpunkt bereits verdampft war, zeigte die Anzeige aber positive Werte an. Das lag daran, dass auch das Wasser im Vergleichsgefäß verdampft war und sich die sogenannte Nulllinie verschoben hatte. Obwohl der Reaktorkern bereits auf dem Trockenen lag, zeigte die Anzeige weiterhin positive Werte an. Das Kontrollzentrum ging davon aus, dass trotz Stromausfall in der Kommandozentrale alles in Ordnung sei.
Am 12. März um 12.50 Uhr notierten die Techniker ein letztes Mal den Füllstand – 1,70 Meter zeigte dieser an. Die Kernschmelze schien abgewendet. Die Explosion im Reaktorblock 1, die um 15.25 Uhr per Kameras in die ganze Welt gesendet wurde, hielt die isolierte und von der Außenwelt nach wie vor abgeschottete Kommandocrew für ein Nachbeben. In insgesamt drei Reaktoren der Anlage kam es zur Kernschmelze.
Der Lage von Fukushima Daiichi und der besonderen Wetterlage mit Winden vom Land aufs Meer ist es zu verdanken, dass die Atomkatastrophe nicht wie in Tschernobyl 1986 noch größer ausfiel. In den ersten drei Tagen nach der Explosion wurden 80 Prozent der radioaktiven Partikel in Richtung Pazifik geweht, erst an Tag vier drehte der Wind. Ausgerechnet an diesem Tag trat die größte Menge Radioaktivität aus. Das radioaktiv verseuchte Gebiet an Land wurde in eine rote und eine orange Zone unterteilt. Die rote Zone ist bis heute ein Gebiet von der Größe Münchens und unbewohnbar. Dies wird auch für sehr, sehr lange Zeit so bleiben. Der Zugang ist bis heute nur mit ausdrücklicher Erlaubnis möglich.
Die orange Zone ist heute zum Teil wieder bewohnt – nach gigantischen Dekontaminierungsarbeiten. Der gesamte Boden wurde Grundstück für Grundstück fünf Zentimeter tief komplett abgetragen, in riesige schwarze Säcke verfüllt und in gigantischen Deponien gelagert – insgesamt 14 Millionen Kubikmeter Erde bisher. In Standard-Container gelagert und gestapelt, wäre dieser Turm 1.000 Kilometer hoch. Alle Straßen, Wege, Mauern und Dächer wurden Zentimeter für Zentimeter vom radioaktiven Cäsium gereinigt – teils mit Draht- und Wurzelbürste wie eine ganz aktuelle ZDF-Doku zeigt. Ein gigantisches Projekt, um den Lebensraum nach und nach ein Stück weit zurückzuerobern.
Aus Platzgründen Einleitung ins Meer?
160.000 Menschen mussten alles Hab und Gut zurücklassen und wurden umgesiedelt. Wo einst buntes Treiben herrschte, gibt es heute Geisterdörfer. Einst ertragreiche Reisfelder sind jetzt verwilderte Brachen. Wenn von Fukushima die Rede ist, muss man unterscheiden zwischen dem Kernkraftwerk an der Küste und der etwa 60 Kilometer davon entfernt im Landesinneren liegenden Hauptstadt der Präfektur Fukushima. Die Böden dort sind nur sehr gering belastet, Obst und Gemüse gelten als unbedenklich. Nur Pilze und Wildtiere sind noch etwas höher belastet.
Ganz anders sieht es auf dem Gelände und direkt in der Anlage aus. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis hier alles zurückgebaut und gesichert ist. Heute ist an der Stelle der Nuklearkatastrophe ein gewaltiger Industriekomplex entstanden, an dem Tag für Tag bis zu 4.000 Menschen arbeiten – unter größten Sicherheitsvorschriften. Die Arbeiter dürfen sich nur kurze Zeit am Stück auf dem Gelände aufhalten, die Strahlung beträgt hier zum Teil über 85 Mikrosievert pro Stunde. Das ist 850-mal mehr als die natürliche Umgebungsstrahlung. Seit zehn Jahren wird an der Anlage gebaut, versucht man die Brennstäbe zu bergen. In Filteranlagen soll das kontaminierte Wasser, das zur Kühlung der Brennstäbe benötigt wird, gereinigt werden. Doch die Anlagen schaffen die schieren Mengen an benötigtem Wasser kaum. Also wird es in gigantischen Tanks auf dem Gelände gelagert – inzwischen weit mehr als 1.000. Das entspricht gut einer Million Kubikmeter belastetem Wasser. Bis Sommer 2022 werden die Lagerstätten komplett ausgelastet sein.
Der Betreiber Tepco möchte das gereinigte Wasser daher künftig ins Meer leiten und versichert, dass alle 62 radioaktiven Elemente auf ein ungefährliches Level herausgefiltert seien. Beim Isotop Tritium gelingt dies allerdings nicht. Die Einleitung ins Meer sorge aber für eine Verdünnung auf unbedenkliches Maß, versichert Tepco. Dennoch regt sich verständlicherweise großer Widerstand, nicht zuletzt seitens der Fischer der Region. Zu oft hatte Tepco vor dem Unglück die Wahrheit über Mängel verschwiegen. Das Vertrauen in das Unternehmen ist in Japan längst nachhaltig beschädigt.