Sicher, langlebig und fortschrittlich: Kernkraft galt als die zukunftsträchtige Energieerzeugung, bis gleich drei Reaktorblöcke im japanischen Fukushima schmolzen.
Doch, Gegner wiesen schon sehr früh auf die Gefahren hin: Zehntausende demonstrierten gegen neue Atomkraftwerke in Brokdorf oder am Kaiserstuhl, gegen ein Endlager in Gorleben, gegen die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. 1979 kamen 150.000 Menschen in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn zusammen, um gegen Atomkraft zu protestieren. Kurz zuvor war die US-Atomanlage in Harrisburg nur knapp einem GAU, dem größten anzunehmenden Unfall, entronnen, als wichtige Pumpen ausfielen und in der Folge menschliches und technisches Versagen zum Austritt von radioaktivem Wasser und Gasen führte. Trotz Harrisburg, trotz schon vorangegangener Atomunfälle in einer englischen und russischen Anlage, die Atomwaffen produzierten, blieben Kernkraftanlagen das Rückgrat der Energieversorgung zahlreicher Industriestaaten. 1986 explodierte infolge menschlichen Versagens das ukrainische Kraftwerk Tschernobyl. Tonnen radioaktiven Materials wurden in die Atmosphäre geschleudert, unmittelbar an den Folgen der Explosion starben nach offiziellen Angaben 43 Menschen, doch die Zahl der an Spätfolgen verstorbenen Menschen geht vermutlich in die Zehntausende.
Erst Fukushima führte zum Umdenken. Die verhängnisvolle Kettenreaktion aus Erdbeben, einem dadurch ausgelösten Tsunami und für die Höhe der gewaltigen Welle zu niedrigen Flutwällen am Kraftwerk Fukushima Daiichi führten letztlich zum Stromausfall und zur Kernschmelze in drei Reaktoren.
Die Tragweite der dreifachen Katastrophe von Fukushima ist, historisch und gesellschaftlich gesehen, kaum zu ermessen. Regional führte sie zu bis heute verbotenen, radioaktiv kontaminierten Zonen an der Westküste von Japan; zu den mehr als 22.000 Toten und Vermissten durch die Naturkatastrophe kamen knapp 150.000 Menschen, die ihre Heimat infolge des Reaktorunglücks verlassen mussten. Die Aufräumarbeiten kosten geschätzt mehrere Hundert Milliarden Euro – und dennoch hielt Premierminister Shinzo Abe, der ein Jahr nach der Katastrophe sein Amt antrat, an der Atomenergie für sein Land fest.
In Deutschland läutete die Havarie innerhalb von erstaunlich kurzer Zeit einen Kurswechsel in der Regierung ein: Binnen 96 Stunden nach dem Unglück verkündete Kanzlerin Angela Merkel den Ausstieg aus der Atomenergie, deren Laufzeitverlängerung, trotz des vom vorherigen Umweltminister Jürgen Trittin ausgehandelten Ausstiegskonsenses, eigentlich beschlossene Sache gewesen war. Die promovierte Physikerin Merkel bewertete angesichts der Ereignisse in Nordostjapan nach eigenen Aussagen die Risiken der Kernenergie neu: als „das, was man nach wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten hatte, doch möglich werden könnte."
Kurswechsel innerhalb kürzester Zeit
Mit der Energiewende begann der schwierige, weil völlig übereilte und deshalb immens teure Atomausstieg in Deutschland – dem einzigen Land, das unter dem Eindruck des Reaktorunfalls von Fukushima seine Haltung zur Atomkraft derart radikal änderte. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Atomkraftgegner von einst jäh neuen Auftrieb erhielten – und damit die Grünen. Im Schatten der Katastrophe gewann erstmals ein Grünen-Kandidat das Amt des Ministerpräsidenten in einem Land, das bis dato als Stammland der Christlich-Konservativen galt: Baden-Württemberg. Winfried Kretschmann, der in diesem Jahr um seine Wiederwahl kämpft, verdankt seinen Wahlsieg zu einem nicht unwesentlichen Teil jenem öffentlichen Entsetzen, das dem Unfall von Fukushima auf dem Fuß folgte und das sich in Wählerstimmen gegen den atomfreundlichen Kurs der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung niederschlug.
Sechs Atomkraftwerke sind bis heute deutschlandweit noch am Netz. Auch sie werden bis Ende 2022 allesamt abgeschaltet sein. Der Rückbau dauert geschätzt jeweils 20 Jahre. Dafür erhalten die Betreiberkonzerne Milliarden an Entschädigungen und rückzuzahlenden Steuern – wie und in welcher Höhe, muss nachverhandelt werden. Denn das zugehörige Gesetz hat das Bundesverfassungsgericht im vergangenen November für verfassungswidrig erklärt. Die Betreiber müssen sich außerdem nicht um die Endlagerung radioaktiven Materials kümmern.
Nach Berichten der „Zeit" kostet diese den Steuerzahler bis ins Jahr 2100 fast 170 Milliarden Euro. Im September 2020 hat nun die Bundesgesellschaft für Endlagersuche ihren Zwischenbericht vorgestellt, in dem 90 Gebiete quer durch die Republik als geologisch geeignet ausgewiesen sind. Nun beginnen in Teilkonferenzen die genauen Erörterungen. Der Prozess soll 2031 abgeschlossen sein.
Nachbarland Frankreich aber ist noch lange nicht so weit. Das Land, das einen Großteil seiner Energie aus Atomkraft bezieht, hat nun den ältesten Meiler in Fessenheim abgeschaltet. Alle anderen dürfen erst einmal weiterlaufen, auch wenn sie ihre 40-jährige Betriebszeit hinter sich haben. Weltweit ist die Atomkraft alles andere als ein Auslaufmodell. Auch wenn die absoluten Zahlen rückläufig sind, im Augenblick sind 50 neue Kernkraftwerke im Bau. Konkrete Planungen gibt es beispielsweise im Nachbarland Polen, dort sollen bis 2040 sechs Atommeiler die CO2-Bilanz der veralteten Kohlekraftwerke des Landes aufbessern. Denn Atomkraft ist für viele Länder nichts anderes als Klimaschutz: So produzierter Strom bläst kein Kohlendioxid in die Atmosphäre. Gesellschaftliche Folgekosten oder eine Havarie sind hier sicherlich nicht eingepreist.