Marco Brenner ist in der internationalen Radsport-Szene ein absolutes Ausnahmetalent. 2020 hat er als jüngster Fahrer aller Zeiten einen Profivertrag unterschrieben. Dank seiner Stärken am Berg und im Zeitfahren gilt der 18-Jährige als größte deutsche Rundfahrten-Hoffnung in der Nachfolge von Jan Ullrich.
Das große Abenteuer Profi-Radsport nahm für das deutsche Ausnahmetalent Marco Brenner im Januar 2021 zum ersten Mal so richtig Fahrt auf. Denn vom Augsburger Winter, wo er sich zur Saisonvorbereitung individuell nach genauen Vorgaben seines UCI-Rennstalls DSM (vormals Sunweb) bis zu 22 Stunden pro Woche auf der Straße oder auf dem Crossrad im Gelände und zusätzlich noch im heimischen Kraftraum gequält hatte, konnte er sich ins frühlingshafte Spanien verabschieden. Um im dortigen Trainingscamp erstmals die Bekanntschaft seiner neuen Mannschaftskameraden zu machen, unter denen sich mit dem Pfälzer Niklas Märkl ein weiterer hoffnungsvoller deutscher Jungspund befand. Die Eingewöhnung dürfte Marco Brenner nicht schwergefallen sein, weil bei DSM das Durchschnittsalter der Fahrer so niedrig wie in kaum einem anderen World-Tour-Team liegen dürfte.
Der Teammanager des im niederländischen Deveter ansässigen und unter deutscher Lizenz antretenden Rennstalls, Iwan Spekenbrink, gilt als Macher, der mit seiner rigorosen Talentschmiede ambitionierten Nachwuchskräften recht schnell und zielstrebig den Weg nach oben ebnen kann. Als Beispiele seien der frühere deutsche Top-Sprinter Marcel Kittel oder der Schweizer Shootingstar Marc Hirschi genannt, der 2020 bei der Tour de France als 22-Jähriger eine Etappe gewinnen und den Sieg beim Klassiker Flèche Wallone erringen konnte. Mit der Problematik, dass sich die Jungprofis nach ihrem Durchbruch regelmäßig von Sunweb/DSM Richtung höher eingeschätzter Teams verabschieden, können die Holländer offenbar gut leben. Auch wenn sie nach dem Wechsel des Hauptsponsors vom Online-Reiseanbieter Sunweb zum niederländischen Chemiekonzern DSM zur Saison 2021 wohl über deutlich mehr finanzielles Potenzial verfügen, um künftig vielleicht den Abgang von Senkrechtstartern und Stars wie Hirschi, Wilco Kelderman, Michael Matthews, Sam Oomen oder früher auch Tom Dumoulin vermeiden zu können. Mit der Verpflichtung von Romain Bardet, der 2019 die Bergwertung bei der Tour de France für sich entscheiden konnte, gelang jüngst sogar ein Königstransfer. Von dem Kletterkönig kann Marco Brenner sicherlich noch viel lernen. Daneben zählen der Australier Jai Hindley, der Zweitplatzierte des Giro d’Italia 2020, und der Däne Sören Kragh Andersen, Doppeletappen-Sieger bei der Tour de France 2020, zu den Köpfen des Teams, in dem sich Marco Brenner auch im Konkurrenzkampf mit dem 21-Jährigen, über großes Potenzial verfügenden Norweger Andreas Leknessund wird behaupten müssen.
DSM will Brenner behutsam aufbauen
Ersten Verlautbarungen der Teamleitung zufolge will man Marco Brenner behutsam aufbauen. Angedacht ist ein Start bei der Tour de Romandie Ende April in der Westschweiz, bei der Polen-Rundfahrt Mitte August und bei der Deutschland-Tour Ende August. Was die Teilnahme an Klassikern angeht, ist bislang noch keine Entscheidung gefallen. Giro und Tour de France 2021 scheinen für Brenner wohl noch etwas früh zu sein. Allerdings könnte Romain Bardet speziell bei Bergetappen der Tour teamintern durchaus Unterstützung gebrauchen. Weshalb eine Teilnahme von Marco Brenner bei entsprechend erfolgreichem Saisonverlauf nicht gänzlich auszuschließen sein muss. Viel wird davon abhängen, ob sich DSM wie Sunweb im Vorjahr hauptsächlich auf Etappensiege konzentrieren, oder ob man mit Kapitän Bardet auch mit einem Auge auf die Tour-Gesamtwertung schielen möchte. Auf jeden Fall dürfte es für DSM ziemlich schwer werden, an die Sunweb-Erfolge der Saison 2020 mit 16 Siegen und 41 weiteren Podestplätzen anzuknüpfen. Denn damit hatte Sunweb im Wettstreit der 19 UCI-WorldTeams die eigenen Möglichkeiten weit über das Soll hinaus ausgereizt.
Wer ist nun dieser Marco Brenner? Innerhalb der von Bundestrainer Wolfgang Ruser betreuten bärenstarken deutschen U19-Junioren-Nationalmannschaft hatte er 2019 und Anfang 2020 die internationale Konkurrenz quasi in Grund und Boden gefahren und dabei 2019 locker den UCI Nation’s Cup Junior gewonnen. Womit er nahtlos im Junioren-Bereich an seine vorhergehenden Ausnahmeleistungen als absoluter Dominator der Jahrgangs-Nachwuchsrennszene anknüpfen konnte. Der Ausbruch der Corona-Pandemie und die daraus resultierenden Trainingsverbote brachten Brenner etwas aus dem Rhythmus. Denn nach rund 100 Siegen in seiner noch jungen Laufbahn musste sich der Augsburger Ende August 2020 bei der U19-Europameisterschaft in Plouay als haushoher Favorit mit Silber im Zeitfahren begnügen. Und sich im Straßenrennen mit einem für ihn völlig ungewohnten vierten Platz zufriedengeben. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte er längst seinen ersten Profivertrag in der Tasche, weil den Scouting-Abteilungen der großen UCI World Tour-Teams das Riesentalent des jungen Mannes natürlich nicht verborgen bleiben konnte.
Ungewöhnlich lange Vertragslaufzeit
Erste konkrete Gespräche mit verschiedenen Interessenten über einen Profivertrag hatte es schon 2019 gegeben. Doch der am 27. August 2002 geborene Augsburger wollte mit seiner Unterschrift so lange warten, bis er seine Ausbildung zum Fremdsprachenkorrespondenten (Englisch und Französisch) abgeschlossen hatte. Anfang Juni 2020 war es dann so weit: Die Medien konnten den Wechsel des amtierenden deutschen Juniorenmeisters im Einzelzeitfahren, auf der Straße und im Querfeldein-Cross, der zudem bei seiner ersten WM-Teilnahme im Herbst 2019 die Bronzemedaille im Einzelfahren gewonnen hatte, ins Profilager ab der Saison 2021 vermelden. Womit Brenner ähnlich wie der junge, inzwischen 21-Jährige belgische Überflieger Remco Evenepoel, der nach seinem Durchmarsch bei Deceuninck-Quick-Step gelandet ist, die U23-Klasse überspringend ausgelassen hat und gleich die große Bühne des internationalen Radsports betrat. Mit seiner Unterschrift unter das Arbeitspapier des Teams Sunweb war Brenner der jüngste Fahrer der Cycling-Geschichte, der jemals einen Kontakt mit einem Pro- oder World Tour-Team abgeschlossen hatte. Ungewöhnlich war zudem die vereinbarte lange Vertragslaufzeit von vier Jahren, weil für Jungprofis normalerweise zwei Jahre üblich sind. Gerüchteweise soll in dem Kontrakt das für Neu-Profis von World Tour-Teams vorgeschriebene jährliche Mindesteinstiegsgehalt von 53.000 Euro weit übertroffen worden sein.
Größte Verwunderung löste in weltweiten Expertenkreisen Brenners Entscheidung ausgerechnet für Sunweb aus, weil dieses Team in der offiziellen UCI-Mannschaftsweltrangliste 2019 mit Rang 15 nur auf einem hinteren Platz gelandet war. Dabei hatte auch Bora-hansgrohe, die deutsche Renommier-Mannschaft, bei der neben Peter Sagan auch die heimischen Topstars wie Pascal Ackermann, Maximilian Schachmann, Emanuel Buchmann oder Lennard Kämna angestellt sind, heftig um die Dienste Brenners gebuhlt. Doch die flachen Hierarchien bei Sunweb waren wohl ausschlaggebend, weil Brenner bei Bora wohl anfangs nur die Rolle eines Wasserträgers zugestanden worden wäre. „Ich kam zu dem Schluss", so Brenner gegenüber radsport-news.com, „dass ich bei Sunweb sportlich weiterkommen kann. Sunweb hat schon in der Vergangenheit gezeigt, dass sie junge Fahrer gut aufbauen können." Doch Sunweb beziehungsweise Nachfolger DSM haben noch einen weiteren Vorzug, nämlich das Nachwuchs- oder Development-Team, in das junge Fahrer laut den UCI-Regularien auch während der Saison wechseln dürfen, falls es bei den Profis nicht wie erhofft auf Anhieb klappen sollte.
Beim Bund Deutscher Radfahrer (BDR) vermeidet man bislang Vergleiche Brenners, dessen Heimatverein der bayerische RSG Ansbach ist, mit dem früheren Tour de France-Sieger Jan Ullrich. Man möchte den jungen Mann offenbar nicht unter zu hohen Erwartungsdruck setzen. Doch Brenner selbst, der den früheren Tour de France-, Giro d’Italia- und Vuelta-Sieger Vincenzo Nibali zu seinem Vorbild auserkoren hat, ist enorm ehrgeizig und selbstbewusst, wie aus seinem schon Ende 2019 gegenüber der „Augsburger Allgemeinen" gemachten Statement entnommen werden kann: „Ich will irgendwann mal die Tour de France oder den Giro gewinnen." Und damit tatsächlich in Ullrichs Fußstapfen treten, weil Brenner über vergleichbare Stärken am Berg und im Zeitfahren verfügt, was letztlich die grundlegenden Voraussetzungen für Siege bei den großen Rundfahrten sind. Allerdings scheint er bei steilen Anstiegen im Vergleich zu Ullrich noch viel bissiger und antrittsstärker zu sein, zudem kann er auch mal einen Sprint aus einer Ausreißergruppe für sich entscheiden.
Enorm ehrgeizig und selbstbewusst
Wobei Brenner offensichtlich auch von genetischen Vorteilen profitieren kann. Die Werte seiner Leistungsdiagnostik sollen noch weit besser sein als die des jungen Jan Ullrich. Vor allem der sogenannte VO2-Max-Wert, der die Sauerstoffaufnahmefähigkeit des Blutes wiedergibt, soll bei ihm exorbitant gut sein. Was auch erklären mag, wie es ihm gelingen konnte, in einer wild-sensationellen Aufholjagd bei den nationalen Junior-Cross-Meisterschaften im baden-württembergischen Albstadt Anfang Januar 2020 vom zwischenzeitlich aussichtslosen letzten Platz infolge eines Kettenschadens das gesamte Feld querfeldein aufzurollen und als Erster die Ziellinie zu passieren.
Beim BDR ist man seit Jahren zu Recht hochzufrieden mit der Nachwuchsarbeit. Beklagt allerdings seit geraumer Zeit, dass man einfach kein Nachwuchstalent mit Rundfahrt-Sieger-Qualitäten mangels Bergfestigkeit habe hervorbringen können – von Emanuel Buchmann als absolute Ausnahme mal abgesehen. Als Hauptgrund sieht man das Fehlen anspruchsvoller hiesiger Etappenrennen an, wobei es im UCI-Junioren-Cup immerhin noch die Saarland Tropheo gibt, bei der Marco Brenner 2019 die Nachwuchswertung gewonnen hatte. „Was uns fehlt", so U23-Bundestrainer Ralf Grabsch, „sind bergfeste Rundfahrer. Wir tun uns schwer, einen Fahrer im Klassement ganz nach vorn zu bringen." Starke Eintagesfahrer wie Nils Polit, exzellente Sprinter wie Pascal Ackermann oder gute Zeitfahrer wie Maximilian Schachmann könne man dagegen liefern. Doch das Rundfahrten-Manko könnte künftig durch Marco Brenner, der das Relaxen am Badesee zu seinen liebsten Hobbys zählt, laut seinem Vater Cristian im zarten Alter von fünf Jahren erstmals auf einem Mountainbike gesessen und mit sieben Jahren sein erstes Straßenrennen in Italien bestritten hatte, ausgeglichen werden.