Zu groß, zu teuer und die Wahl zu kompliziert. Im Verständnis der Wähler genießt der Bundestag nicht gerade hohe Sympathiewerte. Eine Reform soll das ändern.
Seit 2013 debattiert man im Bundestag immer wieder über eine Verkleinerung. Wahlforscher warnen, dass das jetzige Wahlrecht am Ende dazu führen könnte, dass im Reichstagsgebäude Platz für über 900 Mandatsträger geschaffen werden müsste. Nur der chinesische Volkskongress wäre dann noch größer. Im Oktober vergangenen Jahres hat sich die Große Koalition doch noch auf eine Reform des Wahlrechts geeinigt, gerade rechtzeitig, um bei der Bundestagswahl im September greifen zu können. Ziel ist es, den seit der letzten Wahl um 87 auf 709 Abgeordnete angewachsenen Bundestag wieder zu verkleinern.
Die eigentliche Größe des Parlaments richtet sich nach den Wahlkreisen. Das sind 299, der Bundestag sollte demnach nicht mehr als 598 Sitze haben. Doch in Deutschland gibt es seit 1949 ein personalisiertes Verhältniswahlrecht. Durch das Zweistimmensystem können die Wähler ihre Erst- und Zweitstimme gesondert abgeben. Mit der Erststimme wählt der Wähler einen Bewerber im Wahlkreis. Gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. „The Winner takes it all" – die anderen Stimmen zählen also nicht.
Das versucht man über die Zweitstimme aufzufangen. Sie ist bezogen auf eine Kandidatenliste. Auf ihr rücken je nach Prozentsatz entsprechend viele (oder wenige) Kandidaten in den Bundestag ein. Die Zweitstimme ist also maßgeblich für die Sitzverteilung der Parteien im Parlament.
Das Problem steckt in dieser komplizierten Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahl: Erhält eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate als ihr eigentlich über die zweite Stimme zustehen, kommt es zu Überhangmandaten. Diese werden durch Sitze der anderen Parteien ausgeglichen. Das soll sicherstellen, dass zwar jeder über die Erststimme direkt gewählte Abgeordnete im Bundestag sitzt, aber das Kräfteverhältnis, der Proporz, trotzdem stimmt. Besonders viele Überhangmandate gewannen regelmäßig CDU und CSU, wobei die CSU in Bayern oft alle Direktmandate errang.
Das Wahlrecht – eine komplizierte Mischung
Gesetzt den Fall, in einem Parlament sind 100 Sitze zu vergeben: Nach dem Zweitstimmenergebnis gewinnt Partei A 60 Prozent, Partei B 40 Prozent der Stimmen und damit der Sitze. (Verhältnis A zu B: 1,5). Partei A hat aber über die Erststimme zwölf Wahlkreise direkt gewonnen, das nennt man Überhangmandat. Also bekommt sie zwölf Sitze mehr, macht 72. Partei B hat keine Direktkandidaten durchgebracht, muss aber trotzdem nicht leer ausgehen. Damit der Proporz stimmt, bekommt sie acht Sitze mehr zugesprochen (Ausgleichsmandate). Das Verhältnis A (72) zu B (48) beträgt wieder 1,5.
Die vielen Überhang- und Ausgleichsmandate waren es, die den Bundestag bis auf 709 Abgeordnete aufgebläht haben. Immerhin haben wir sechs Parteien im Parlament, da muss einiges berechnet, ausgeglichen und verteilt werden. Die Reform der GroKo sieht nun vor, dass die Überhangmandate einer Partei teilweise mit deren Listenmandaten verrechnet werden. Bis zu drei Überhangmandate werden gar nicht erst ausgeglichen. Das kann bedeuten, dass Landeslistenmandate der CDU vor allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen geopfert werden, um Überhangmandate der CDU in Baden-Württemberg, Sachsen und anderen Ländern zu kompensieren. Diese Vorgehensweise wäre neu und ungewöhnlich, gerade weil es entsprechende Landeslisten für die CSU nur in Bayern gibt, also kein Streichen möglich ist.
Doch die angestrebte Wahlrechtsreform soll weiter gehen. In einem zweiten Schritt nach der Bundestagswahl ist vorgesehen, eine Reformkommission einzusetzen. Sie soll die Zahl der Wahlkreise auf 280 verringern. Außerdem geht es um eine Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre, eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre sowie Regelungen zu einer paritätischen Vertretung von Frauen im Bundestag. Die Ergebnisse sollen 2023 vorliegen.
Kritiker sehen in dem „grottenschlechten Gesetz" (Britta Haßelmann, Grüne) keinen Weg, den Bundestag wirklich zu verkleinern. Im Gegenteil, es bestehe die Gefahr, dass er trotzdem weiter wachse, meint Politikwissenschaftler Jochen Behnke von der Uni Friedrichshafen. Auch würden die Parteien nicht gleich behandelt, die CDU/CSU profitiere am meisten von den Änderungen.
Unterdessen haben FDP, Grüne und Linke vor dem Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag gegen die Wahlrechtsreform der Großen Koalition gestellt. Die drei Oppositionsparteien hatten einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorgelegt. Der wurde von den Fraktionen der Großen Koalition in der letzten Bundestagssitzung vor der Sommerpause abgeblockt. Er sah im Kern vor, dass es nur noch 250 statt 299 Wahlkreise geben soll, was auch die Zahl der Direktmandate senken würde.
Vorschlag der Opposition abgelehnt
Die Klage vor dem höchsten deutschen Gericht datiert von Anfang Februar 2021. Noch hat die GroKo keine Stellungnahme vorgelegt. Ob es vor der Bundestagswahl im September noch zu einer Entscheidung kommen wird, ist eher unwahrscheinlich. Sollte das Gericht doch noch den Klägern Recht geben, würde das alte Wahlrecht von 2017 wieder in Kraft treten – das eigentlich keiner mehr haben wollte.
Die Klage ist eine sogenannte abstrakte Normenkontrollklage. Die Antragsteller sehen durch das Wahlrechtsgesetz der Großen Koalition die Chancengleichheit verletzt. Die Verhältnismäßigkeit bei der Aufteilung der Überhang- und Ausgleichsmandate sei nicht gewährleistet, außerdem sei völlig unklar, wie der Bundeswahlleiter nach der Wahl die Ausgleichsmandate vergeben soll. Ob das Wahlrecht nach welcher Reform auch immer transparenter wird, ist nicht ausgemacht. Es liegt an dieser Mischung zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht. Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert hat einmal beklagt, das Wahlrecht sei so kompliziert, dass noch nicht einmal eine Handvoll Abgeordneter „unfallfrei" die Mandatsberechnung erklären könne.
Und der leider zu früh verstorbene Thomas Oppermann (SPD), Vizepräsident des Deutschen Bundestages, meinte: „Die Bürger empfinden die große Zahl von zusätzlichen Überhang- und Ausgleichsmandaten nicht als Konsequenz unseres Wahlsystems, sondern als Selbstbedienung der Parteien. Es wäre deshalb ein schwerer Schaden für unsere Demokratie, wenn wir es als Parlament nicht schaffen, die Mandate zu begrenzen."