Welche psychischen Belastungsfaktoren birgt die Pandemie? Und ist auch mit Langzeitfolgen für die Psyche zu rechnen? Über diese Fragen und viele mehr haben wir mit Prof. Dr. Tom Bschor gesprochen, stellvertretender Vorsitzender der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie.
Herr Prof. Dr. Bschor, haben Sie das Gefühl, die Menschen sind jetzt während des zweiten Lockdowns gestresster und genervter als während des ersten?
Ja natürlich, aber die Lage ist durchaus komplex. Es gibt viele Menschen, die aufgrund der langen Dauer des Lockdowns in existenzielle Nöte kommen; hierdurch steigt das Stressniveau enorm. Aber es gibt auch viele, die im ersten Lockdown noch versucht haben, die Situation zu überstehen und die früheren Bedingungen zu retten und jetzt aber in eine resignierte Apathie verfallen sind. Für diese Menschen war der erste Lockdown der größere Stress, weil sie täglich auf das Ende gewartet haben, versucht haben, Kunden bei der Stange zu halten, Termine zu verschieben und zu koordinieren und die alten Organisationsstrukturen aufrechtzuerhalten. Das hat sich inzwischen zum Beispiel für viele Künstler erledigt. Das Wort des zweiten Lockdowns, das ich von allen Seiten höre, und das die Gefühlslage am besten beschreibt, ist „zermürbt".
Welche psychischen Belastungsfaktoren birgt die Pandemie?
Viele. Wenn es nicht so dramatisch und ernst wäre, könnte man das letzte Jahr als einen wissenschaftlich einmaligen, gigantischen globalen Stresstest begreifen. Belastungen resultieren allein daraus, dass sich unser Leben praktisch ohne Vorbereitung von einem Tag auf den anderen vollkommen geändert hat. Stress wird psychologisch verstanden als ein Missverhältnis der äußeren Belastungen zu den Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten, die wir für uns selbst sehen, hiermit umzugehen. Und in der Pandemie erleben sich viele als hilflos dem Virus und den von oben angeordneten Einschränkungen ausgesetzt. Das erhöht den Stress.
Belastungen resultieren natürlich daraus, dass wir unsere Kontakte so dramatisch einschränken mussten. Der Mensch ist ein soziales Wesen und zwischenmenschlicher Austausch im Gespräch, im geselligen Beieinander und mit körperlicher Berührung ist für das seelische Gleichgewicht von entscheidender Bedeutung. Der Lockdown führt ferner ausgerechnet dazu, dass wir viele unserer eingespielten Strategien zur Stressbewältigung nicht mehr ausüben können: im Verein Gleichgesinnte treffen, sich im Fitnessstudio abarbeiten, Teamsport, Theaterbesuche, schöne Bilder in Museen anschauen, Freunde zum Essen einladen oder in Restaurants treffen. Die Reihung ließe sich beliebig fortsetzen. Für mich persönlich ist eine wichtige Burn-out-Vorbeugung immer das Singen in meinem Psychiater-Psychologen-Neurologen-Chor, den Singing Shrinks, gewesen. Das findet nun auch seit einem Jahr nur sehr eingeschränkt statt.
Erhebliche Belastungen resultieren natürlich für alle Menschen, deren wirtschaftliche Existenz bedroht ist und in vielen Familien auch durch die häusliche Situation. Die Unvereinbarkeit von Heimarbeit und Heimbeschulung ist ja schon oft beschrieben worden. Und natürlich darf die Angst, dass man selbst oder dass Angehörige schlimm erkranken, nicht vergessen werden.
Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, in denen die Bevölkerung hinsichtlich ihrer Belastungen untersucht wurde. Die Ergebnisse sind sehr einheitlich: fast alle Befragten geben an, sich seit der Pandemie belasteter zu fühlen. Dies ist allerdings nicht unmittelbar damit gleichzusetzen, dass auch die Anzahl psychischer Erkrankungen zugenommen hat. Man kann ja belastet und gestresst sein, ohne eine psychische Krankheit zu haben.
Suchen Menschen während der Corona-Pandemie vermehrt Hilfe bei Therapeuten/Psychiatern, in Krankenhäusern und sonstigen Einrichtungen?
Wie in anderen medizinischen Bereichen auch, haben wir interessanterweise während des ersten Lockdowns zunächst einen Rückgang der Inanspruchnahme von Hilfe festgestellt. Die Menschen igelten sich ein, blieben zu Hause und suchten auch keine Psychiater oder Psychotherapeuten mehr auf. Diese Entwicklung ist aber beendet und psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen werden sogar mehr als vor der Pandemie aufgesucht. Dies trifft aber auf ein pandemiebedingt reduziertes Angebot: Psychotherapie findet überwiegend nur noch per Video statt, was nicht für alle Patientinnen und Patienten akzeptabel ist, und die wichtigen psychiatrischen und psychosomatischen Tageskliniken arbeiten vielerorts reduziert oder gar nicht, weil das tägliche Kommen und Gehen der Patienten ein besonderes Infektionsrisiko birgt. Einen besonderen Zuwachs verzeichnen niedrigschwellige Hilfsangebote, zum Beispiel im Internet oder Selbsthilfe-Apps.
In einer gerade erschienenen Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung gaben die fast 4.700 befragten Psychotherapeuten an, dass sich die Behandlungsanfragen im Vergleich zu vor einem Jahr um über 40 Prozent erhöht haben.
Aus welchen Gründen suchen sich die Menschen Hilfe?
Die Gründe resultieren aus den Belastungen, über die wir schon gesprochen hatten. Besonders hart trifft es die Älteren. Diese können häufig soziale Kontakte schlechter durch moderne Medien kompensieren. In den Pflegeheimen reduziert das Personal zum Infektionsschutz die Anzahl der Kontakte, und besonders dramatisch hat sich ausgewirkt, dass viele wichtige psychosoziale Einrichtungen wie Tagesstätten, Treffpunkte, Besuchsdienste und Seniorenclubs ihre Arbeit weitgehend eingestellt haben. Vieles müssen dann die Kliniken auffangen, die natürlich weiterhin rund um die Uhr geöffnet sind.
Gibt es noch andere Altersgruppen, die besonders betroffen sind?
Mir tut auch die Altersgruppe von 16 bis Anfang 20 sehr leid. Diejenigen zum Beispiel, die im letzten Sommer die Schule beendet haben. Das ist normalerweise der Partysommer des Lebens, noch einmal ausgiebig Feiern mit den alten Weggefährten, bevor neue Pflichten und Verantwortungen beginnen. Das ist fast vollkommen ausgefallen und lässt sich auch nicht in besseren Zeiten nachholen. Und das ist ein Alter, in dem es entscheidend darum geht, Partnerschaften zu finden, intime Erfahrungen zu machen, sich selbst dabei kennenzulernen. Flüchtige, scheinbar absichtslose Berührungen, die vielleicht doch mehr bedeuten, die etwas verlängerte Abschiedsumarmung, Küsse und natürlich noch viel mehr ‒ all das ist jetzt nicht mehr glückverheißende Aufregung, sondern potenziell todbringend und verboten.
Über die sehr ungünstigen Auswirkungen der Schulschließungen auf vor allem jüngere Schülerinnen und Schüler wurde zu Recht schon viel geschrieben. Kinder müssen ihre Zeit mit Gleichaltrigen verbringen. Es ist weder normal noch gesund, wenn sie fast nur noch Erwachsene um sich haben. Welche Folgen die reduzierten Bildungsmöglichkeiten langfristig haben, wird sich erst noch erweisen. Ich blicke mit Bangen auf diese Ergebnisse.
Welche Folgen hat Isolation generell?
Extreme Isolation, zum Beispiel Isolationshaft in Foltergefängnissen, kann dazu führen, dass sich das Denken, Fühlen und Wahrnehmen von der Realität abkoppelt. Die Betroffenen entwickeln dann häufig Halluzinationen, das heißt, das Gehirn füllt die fehlenden Außenreize durch eigene, nicht der Wirklichkeit entsprechende Produktionen.
Hiervon ist im Rahmen der Pandemie natürlich nicht auszugehen. Aber die reduzierte Korrektur von außen, der verringerte Austausch und der Mangel an Anregungen, Reizen und neuen Eindrücken führt zu einer Verarmung der Individuen und der Gesellschaft als Ganzes. Durch das ständige Kreisen um sich selbst und die eigenen vier Wände wird der Horizont enger, die Flexibilität lässt nach, die Offenheit für andere Sichtweisen reduziert sich, Marotten und Eigenheiten schleifen sich ein. Und dann führt Isolation generell zu einem Nachlassen des Wohlbefindens und der Zufriedenheit.
Wie kann man diesen Folgen entgegenwirken?
Telefonieren und der Austausch über moderne Kommunikationsmittel, insbesondere die Videotelefonie, können der Isolation entgegenwirken ‒ allerdings nur partiell: Vielfältige Reize, die uns anregen, wie zum Beispiel die Gerüche, die Hintergrundgespräche und die Hintergrundmusik in einem gut besuchten Restaurant, können die modernen Kommunikationsmittel genauso wenig ersetzen wie körperliche Nähe, den Austausch von Berührungen und das Gefühl der Geborgenheit in einer Gemeinschaft. Dennoch sollten wir versuchen, uns mit möglichst vielfältigen Reizen zu stimulieren, zum Beispiel durch Sport und Bewegung in der eigenen Wohnung, dem Erlernen eines Musikinstruments oder neuen handwerklichen Hobbys.
Können auch ernsthafte psychische Erkrankungen durch die Pandemie entstehen?
Menschen, die vor der Pandemie psychisch gesund und stabil waren, haben ein geringes Risiko, durch die pandemiebedingten Veränderungen ernsthaft psychisch zu erkranken. Allerdings werden dennoch ihr Wohlbefinden, ihre Zufriedenheit und ihre Stimmung leiden. Die Pandemie wirkt an vielen Stellen wie ein Katalysator: Bei Menschen, die schon vorher labil oder psychisch nicht gesund waren, können psychische Krankheiten ausbrechen. In den psychiatrischen Kliniken sehen wir, dass viele Patienten, denen wir vor etlichen Jahren gut helfen konnten, nun mit einem Rezidiv wiederkommen.
Interessant sind auch die Zahlen zum Alkoholkonsum, die inzwischen vorliegen: Insgesamt ist der Alkoholkonsum in der Pandemie zurückgegangen, was man sich durch das Wegfallen von Kneipen- und Restaurantbesuchen, Festen und Partys ja gut erklären kann. Individuell ist es so, dass diejenigen, die schon immer wenig getrunken haben, nun noch weniger trinken. Aber die, die schon immer zu erhöhtem Alkoholkonsum geneigt haben, trinken nun noch mehr ‒ der Alkohol wird hier also in unguter Weise zur Bewältigung der neuen Belastungen eingesetzt.
Konnte seit der Corona-Krise ein Anstieg der Suizidalität verzeichnet werden?
Zahlen, die einen Anstieg von Suiziden oder Suizidversuchen seit Beginn der Pandemie zeigen, gibt es bis jetzt zum Glück noch nicht. Dies bedeutet aber nicht, dass die Statistik, die immer mit einiger Verzögerung erfasst wird, dies nicht in einiger Zeit doch so zeigen wird. Umfragestudien zeigen allerdings eindeutig einen Anstieg von Menschen, die sich mit Lebensüberdruss oder Gedanken an den eigenen Tod plagen.
Wie wirkt sich die Pandemie auf Menschen aus, die vorher schon von psychischen Störungen betroffen waren?
Hier scheint mir die Lage eindeutig zu sein. Menschen mit psychischen Erkrankungen werden besonders hart von der Pandemie getroffen. Wir behandeln ja zum Beispiel häufig Menschen mit hypochondrischen Ängsten oder mit Kontaminationsängsten, also der Angst, sich bei der Berührung von Gegenständen mit gefährlichen Bakterien anzustecken. Eine zentrale Therapiestrategie besteht darin, die Ängste auf ein realistisches Maß zurückzuführen und den Patienten zu begleiten, die Erfahrung zu machen, dass etwas, das ihm oder ihr hochriskant vorkommt, gar nicht zu einer Krankheit führt ‒ zum Beispiel ohne Desinfektionsmittel und Reinigungsrituale eine öffentliche Toilette zu benutzen. Hier hebelt uns die Pandemie therapeutisch vollkommen aus.
Auch für die vielen Patienten mit Verfolgungswahn ist die gegenwärtige Situation besonders belastend. 24 Stunden lang wird in den Medien vermittelt, dass tatsächlich von allen Seiten Gefahr lauert.
Gibt es Menschen, denen Social Distancing nichts ausmacht?
Das Bedürfnis nach sozialem Kontakt und Austausch ist individuell natürlich sehr unterschiedlich ausgeprägt. Der Computer-Nerd, der auch vor der Pandemie schon täglich 20 Stunden am Rechner verbracht hat, oder die Büchernärrin werden unter den Einschränkungen weniger leiden.
Interessant ist, dass ich relativ viele Patienten erlebt habe, denen die neuen Bedingungen sogar sehr entgegenkamen, wenngleich zumeist nur vordergründig zu ihrem Vorteil. Hier ist zum Beispiel an die vielen Menschen mit sozialer Phobie zu denken. Bei dieser Erkrankung besteht größte Angst, vor anderen sprechen zu müssen oder sich auch nur dem prüfenden Blick anderer Menschen in der Öffentlichkeit aussetzen zu müssen. Heimarbeit und Videokonferenzen kommen diesen Menschen sehr entgegen, und zumeist gibt es dann noch irgendein angebliches technisches Problem, weshalb die Kamera ausbleiben muss. Therapeutisch sinnvoll ist es allerdings nicht, phobisch besetzte Situationen durch Vermeiden zu umgehen: Die Angst wird immer größer, und der Betroffene wird immer unselbstständiger. Das Gleiche gilt für Menschen mit Agoraphobie, die Angst haben, das Haus zu verlassen und insbesondere, volle Räume wie öffentliche Verkehrsmittel zu betreten. Dieses Erfordernis hat durch die Pandemie stark nachgelassen.
Können negative psychische Auswirkungen der Pandemie auch anfällig für körperliche Erkrankungen machen?
Um ein Beispiel zu nennen: Forschung in den letzten Jahren hat vielfältige Zusammenhänge zwischen der psychischen Gesundheit und unserem Immunsystem aufgedeckt, wenngleich die komplexen Zusammenhänge bislang nur in Ansätzen verstanden sind. Wenn es uns seelisch nicht gut geht, sind wir anfälliger für Infekte, und trotz Coronavirus sind ja die anderen Krankheitserreger nicht verschwunden.
Ist auch mit Langzeitfolgen zu rechnen, oder wird automatisch wieder alles gut sein ab dem Tag, an dem der zweite Lockdown vorüber ist?
Leider nein, dafür gehen die Einschränkungen schon viel zu lange. Die Kinder werden die Schuldefizite mit sich schleppen, das Übergewicht wird nur schwer wieder wegzubekommen sein. Diejenigen, die den Frust der Pandemie mit Alkohol bekämpfen, werden Schwierigkeiten haben, hiervon wieder runterzukommen, Konflikte in Familien und Partnerschaften werden nachwirken, und ganz besonders hart trifft es die vielen Menschen, deren Existenz durch die Pandemie verloren gegangen ist, zum Beispiel weil sie im Tourismus-, Gastronomie- oder Kulturbereich gearbeitet haben. Und dann sind da noch all diejenigen, die Menschen durch eine Covid-Erkrankung verloren haben.
Ich fürchte auch, die Gesellschaft wird langfristig deutlich verarmt aus der Pandemie hervorgehen, und hiermit meine ich nicht vorrangig den erheblichen ökonomischen Rückschritt, den es geben wird. Wir fallen kulturell, geistig und sozial zurück und vermutlich kann niemand im Moment abschätzen, wie lange es dauern wird, dies wieder aufzuholen.