Welche Bedrohung legitimiert das transatlantische Bündnis? Erstmals seit zehn Jahren hat wieder eine Expertenkommission um Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maiziere eine Empfehlungsliste für die Neuausrichtung der Nato zusammengestellt.
Hirntot, wie der französische Präsident Macron es ausdrückte, obsolet oder doch zukunftsfähig? Das transatlantische Verteidigungsbündnis Nato ist unbestritten in die Jahre gekommen und dringend reformbedürftig. Zudem haben sich die sicherheitspolitischen Herausforderungen in den letzten zehn Jahren drastisch geändert. Der Umgang mit China und Russland, die Bedeutung neuer Technologien, die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, aber auch die Folgen des Klimawandels stehen beispielhaft für neu entstandene Themen. Deshalb will sich die Nato einem zukunftsweisenden Reflexionsprozess unterziehen. Eine zehnköpfige internationale Expertengruppe, unter anderem mit dem ehemaligen deutschen Innen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière hat 2020 rund 130 Empfehlungen aus politischer Sicht erarbeitet, wie die Nato 2030 aussehen soll.
Die Gruppe hat das Konzeptpapier Ende 2020 Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg übergeben und den Außenministern der Mitgliedstaaten vorgestellt. Im Juni dieses Jahres soll auf dem Nato-Gipfel das Zukunftsbild von den Staats- und Regierungschefs endgültig auf den Weg gebracht werden.
Alte Kernpunkte – neue Krisenherde
Klar ist: Die drei Kernpunkte der Nato, kollektive Selbstverteidigung, internationales Krisenmanagement und kooperative Sicherheit, bleiben vom Reflexionsprozess unberührt. Doch da sind neue Krisenherde. Das letzte Konzeptpapier, unter der Federführung der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright erstellt, skizzierte die Nato im Jahr 2010. Während Russland damals noch als strategischer Partner Erwähnung fand, kam China noch nicht einmal in diesem Papier vor. Heute sprechen die Sicherheitspolitiker des Westens von der Rückkehr der geopolitischen Rivalitäten, sprich Kalter Krieg, weil Russland sich unter Vladimir Putin völlig anders als erwartet entwickelt hat. Der Fall Nawalny, die Annektion der Krim, der Ukraine-Krieg und die permanente Aufrüstung sprechen Bände und weisen Russland eine neue aggressive Rolle zu. „Es hätte dem Westen eine Warnung sein müssen, wenn Putin den Zerfall der ehemaligen Sowjetunion als das schlimmste Ereignis im 20. Jahrhundert bezeichnet noch vor dem Zweiten Weltkrieg", so Thomas de Maizière. Durch die Aufnahme ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten sei die Nato näher an Moskau herangerückt und stelle eine Bedrohung Russlands da, so das Argument Putins. Trotzdem wird die Nato, die Russland aus militärischer Sicht wieder als Gegner sieht, die sogenannte Zwei-Phasen-Strategie, also Abschreckung und Dialog, mit Russland fortsetzen. „Es dürfte jedem in der Nato klar sein, dass Polen oder die Baltischen Staaten ein anderes Bedrohungspotenzial in Russland sehen als etwa Portugal", betont de Maizière. In der Frage des Umgangs mit Russland sei Deutschland übrigens sehr ambivalent unterwegs, vor allem Ostdeutschland sehe in Russland nicht unbedingt einen Gegner.
Der Umgang mit China stellt das Verteidigungsbündnis dagegen vor ganz andere Herausforderungen, die sehr viel Fingerspitzengefühl verlangen. Auf der einen Seite ist China vielfach begehrter Handelspartner im Westen, auf der anderen Seite gibt es die Kommunistische Partei mit Anspruch auf Führung in der Welt. Dabei zeigt sich China nicht gerade zimperlich, wenn es beispielsweise um Taiwan geht oder um politische Rechte in Hongkong oder die Menschenrechte der Uiguren, die die Partei kurzerhand in sogenannte Umerziehungslager steckt. Bei China ginge es mehr um den Kampf der Systeme, erklärt der ehemalige Verteidigungsminister, der kürzlich zu Gast in einer Online-Veranstaltung der Union-Stiftung war. Das zeige auch die Bekämpfung der Corona-Pandemie. Wer sei besser: die Demokratie oder das kommunistische Einparteiensystem? Die Fachgruppe spricht bei China von einem Systemrivalen und empfiehlt vor allem, möglichst keine Abhängigkeiten zu China aufkommen zu lassen, zum Beispiel bei kritischer Infrastruktur oder Rohstoffen. Außerdem sollten die Beziehungen und strategischen Partnerschaften im Pazifikraum mit Staaten wie Japan, Australien, Neuseeland oder Indien in puncto China neu überdacht oder geschnürt werden, ohne diese Staaten in die Nato aufnehmen zu wollen.
Was die Beziehungen zur neuen US-Administration unter Biden angeht, schätzt de Maizière die Aufgabe der anderen Nato-Mitglieder sogar als schwieriger ein als unter Donald Trump. „Joe Biden ist zwar multilateral ausgerichtet und die Sprache wieder diplomatisch, aber in der Sache wird die Debatte weiterhin hart geführt wie etwa bei den Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent des BIP oder bei der Forderung nach Übernahme von mehr Eigenverantwortung Europas in der Sicherheitspolitik oder beim Verhalten gegenüber China." Gerade Deutschland könne sich darauf einstellen, künftig mehr für Nato-Einsätze leisten zu müssen. Die Amerikaner werden nicht mehr alleine die Drecksarbeit machen wollen, die Deutschen nur Transporte oder Sanitätsaufgaben. Eine rein europäische Lösung in der Sicherheitspolitik sieht de Maizière allerdings skeptisch. Ohne nukleares Schutzschild der USA sei Europa wohl kaum in der Lage, sich angemessen zu verteidigen. Zudem müsse geklärt werden, was unter Europa unter sicherheitspolitischen Aspekten überhaupt zu verstehen sei, schließlich seien Großbritannien, Norwegen und die Türkei in der Nato, aber nicht in der EU. Und Frankreich als einzig verbliebene Atomstreitmacht in der EU habe seine Nuklearwaffen nicht dem Oberkommando der Nato unterstellt. Hier gebe es noch einigen Klärungsbedarf.
Cybersicherheit und Klimawandel im Blick
Auf die demokratischen Defizite im Bündnis angesprochen, sieht de Maizière die Nato in einem Dilemma. Das habe der jüngste Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland um Rohstoffvorkommen im Mittelmeer erneut gezeigt. Die Nato spreche die Probleme unter den Partnern nicht direkt an und verfolge eher eine Konfliktvermeidungsstrategie. „Das ist ein falscher Weg und muss durch eine bessere Kommunikation innerhalb der Nato-Strukturen geändert werden." Die Herausforderung der Mitglieder besteht darin, trotz unterschiedlicher Auffassungen eine gemeinsame Sicherheitspolitik zu machen. Da sei die hohe Schule der Diplomatie gefragt.
War früher das Bedrohungsszenario – hier der „gute" Westen, dort der „böse" Osten – eindeutig definiert, hat sich die Welt drastisch verändert. Der internationale Terrorismus sowie versprengte Milizen des IS sorgen für neue Bedrohungsszenarien in der ganzen Welt. Hinzu kommen die neuen Technologien, die völlig anders geartete Attacken wie Cyberangriffe auf die Infrastruktur eines Landes oder systemrelevante Unternehmen ermöglichen. Hier fordert die Fachgruppe zum Beispiel einen Gipfel mit den Chefs großer IT-Unternehmen, um über das mögliche Bedrohungsszenario neuester technischer Entwicklungen zu reden.
Papier ist bekanntlich geduldig, und so bleibt die Frage erlaubt, ob die Nato tatsächlich in der Lage ist, sich zu reformieren. Die Zeit drängt. Aber de Maizière zeigt sich optimistisch. „Das Zeitfenster ist günstig: eine neue US-Regierung, ein ungeduldiger französischer Präsident und im Herbst eine neue Bundesregierung – ein Verschleppen von notwendigen Reformen will wirklich niemand und das lässt hoffen. Eine gemeinsame zukunftsorientierte Sicherheitspolitik zu verfolgen, ist kein Weißbrot, sondern harte Kost – wie Schwarzbrot."