Deutschland im Frühjahr 2021. Lockerungen lassen aufatmen, gleichzeitig wird von Inzidenzen um die 300 zu Ostern gewarnt. Die CDU kämpft mit den Folgen der „Maskenaffäre" und Gerichte mit einer Klagewelle.
Juliana hat es nur zufällig im Radio mitbekommen, aber tatsächlich bestätigt ein Blick auf die Homepage des Auswärtigen Amtes: Die Reisewarnung für die Balearen ist aufgehoben. Dazu hat das Robert-Koch-Institut tatsächlich die Warnung für Mallorca als Hochrisikogebiet zurückgenommen. Und das zwei Wochen vor Ostern. „Na bitte geht doch", freut sich die 49-jährige Sportlehrerin aus Rathenow im Brandenburgischen aufs Radwandern bei launigen 20 Grad und Sonnenschein auf der Mittelmeerinsel. Doch beim Buchen im Internet klappt Juliana die Kinnlade runter, nur die Flüge für zwei Personen vom Hauptstadtflughafen BER nach Palma de Mallorca und wieder retour kosten fast 1.500 Euro! Ohne Gepäck, nur die Handtasche oder der kleine Rucksack dürfen mit. „Vor Corona haben wir für den kompletten Urlaub auf Mallorca für eine Woche so viel bezahlt". Vielleicht ein bitterer Vorgeschmack auf die touristische Nach-Corona-Zeit.
Frustriert ist an diesem Wochenende auch Paul Ziemiak. Der CDU-Generalsekretär muss einen zunehmenden Vertrauensverlust in die Politik gerade vor laufenden Kameras einräumen. Seine Partei wurde in zwei Landtagswahlen massiv abgestraft. Sichtlich zerknirscht versucht der Generalsekretär halbwegs plausibel zu erklären, warum seine Partei in ihren ehemaligen Stammländern abermals abgestürzt ist. In Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg hat die CDU erneut historische Tiefstände erreicht. Während sich Landesmutter Malu Dreyer von der SPD und ihr Grüner Amtskollege Winfried Kretschmann über jeweils weitere fünf Regierungsjahre in Rheinland-Pfalz beziehungsweise Baden-Württemberg freuen können.
Gute Laune an diesem Landtagswahl-Wochenende auch bei einem großen deutschen Elektronikhändler. Nach fast drei Monaten darf er wieder Kundschaft in seinen Laden lassen. Selbstverständlich nur nach vorheriger Anmeldung und der Angabe des Grundes des Begehrens. Was sich aber praktisch vor Ort als völliger Blödsinn rausstellt. Shoppen plant man nicht, sondern man kauft, was man sieht. Jeder, der sich in die Shoppingmall an der Schlossstraße in Berlin-Steglitz verirrt, kommt selbstverständlich auch ohne Anmeldung und genauen Einkaufszettel rein. Die politische Verordnung, dass die Kunden schon beim Betreten wissen müssen, was sie denn so kaufen wollen, erweist sich bei der Umsetzung schließlich als nicht umsetzbar. Die Politik-Experten, die diese Verordnung ausgearbeitet haben, waren vermutlich noch nie einkaufen. „Ick will einfach nur mal kieken und brauche Druckerpatronen und angemeldet bin ick och nich", erklärt ein Kunde und wird selbstverständlich eingelassen. Er hat nur durch Zufall entdeckt, dass man so einen großen Elektromarkt tatsächlich auch wieder betreten darf. „Früher bin ick am Samstag tanzen jejangen, heute freue ick mir, wenn ick mal für 20 Minuten shoppen darf", schildert der 36-Jährige seine Befindlichkeit. Das völlige Verordnungs-Wirrwarr verunsichert die Menschen nicht nur, sondern sorgt tatsächlich für Aggressionen.
Maßnahmen werfen immer mehr Fragen auf
In der sächsischen Landeshauptstadt Dresden entlädt sich an diesem Wochenende Mitte März der Frust auf der Straße. Kritiker der Corona-Maßnahmen und der Öffnungs-Verordnungen marschieren durch die Dresdner Innenstadt, sie befolgen die Maskenpflicht und die Abstandsreglungen nicht, es kommt zu tätlichen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Absperrungen werden überrannt, Polizisten verletzt, es gibt mehrere Festnahmen. Bundeskanzlerin Merkel sollte Recht behalten, als sie vier Wochen zuvor vorher gesagt hat, dass dies „kein normaler Frühling" werden wird. Schon an den ersten Sonnentagen mit Temperaturen um 15 Grad waren die Parks in den Ballungsgebieten voll mit Menschen, die Polizei ist gegen diese Zusammenkünfte faktisch machtlos. Will sie durchgreifen, gibt es massive bürgerliche Proteste von Eltern mit ihren Kindern, die einfach nur draußen spielen wollen. Szenen, die sich vermutlich über das bevorstehende Osterwochenende bundesweit wiederholen werden. Corona-Verdruss im Frühling. Die Politik reagiert in weiten Teilen mehr als hilflos. Der von der Ministerpräsidentenkonferenz groß angelegte Fünf-Stufen-Plan steht ohnehin zur Disposition, mehrere Verordnungen in der ersten Stufe der Öffnungen wurden bereits von Oberverwaltungsgerichten mit harschen Urteilen kassiert, so unter anderem vom saarländischen OVG in Saarlouis. Während dort Buch- oder Blumenläden nur 15 Quadratmeter pro Kunde zur Verfügung stellen mussten, wurden im Kaufhaus oder im Elektrogroßmarkt pro Kunde 40 Quadratmeter zu Grundvorrausetzung für den „Präsenz-Verkauf" gemacht. Der Chef des Handelsverbandes HDE, Stefan Genth, versteht diesen ganzen „Blödsinn" nicht. Vor allem, weil hier die Politik die Fehler von vor einem Jahr fast eins zu eins wiederholt. In der bundesweiten Verordnung zur Öffnung des Einzelhandels am 22. April letzten Jahres wurde bestimmt, dass Kaufhäuser und Großmärkte nur mit 800 Quadratmetern öffnen dürfen. Auch diese Regelung wurde bundesweit von den Verwaltungsgerichten innerhalb von 14 Tagen kassiert. Kein Jahr später macht man vom Grundsatz her den gleichen Fehler. „Dahinter steckt System", so ein Sprecher des Handelsverbandes. „Die Politik will am Ende für Entscheidungen nicht die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Darum werden Verordnungen erlassen, die dann von den Gerichten sofort kassiert werden, und wenn dann was schiefläuft, ist eben das Verwaltungsgericht schuld und nicht der Politiker." Wobei die Richter rein nach Gesetzeslage und nicht nach Gusto entscheiden. Doch die entsprechende Gesetzeslage, unter anderem auch für Corona-Verordnungen, wird von den Politikern vorgegeben und eben nicht von den Richtern.
Der ehemalige Verfassungsrichter Winfried Hassemer bezeichnete dieses politische Handeln schon bereits vor 15 Jahren im Interview mit dem Autor „Politik mit doppelten Boden. Verantwortung immer auf andere abwälzen". Am Ende der Kette von Verwaltungs-, Oberverwaltungs- und Bundesverwaltungsgericht stehen dann die Verfassungsrichter in Karlsruhe. Und die sollten sich in den kommenden Wochen nicht allzu viel vornehmen, denn nun dürfte die nächste Klagewelle auf sie zurollen. Das Hotel- und Gaststättengewerbe bereitet einige Klagen vor. Die juristische Frage dabei: „Warum dürfen die Deutschen spanische Destinationen mit niedrigen Inzidenzwerten anfliegen, aber nicht in einem Hotel an der Nord- oder Ostseeküste oder dem bayerischen Wald einchecken, die vergleichbar niedrige Infektionszahlen aufweisen?" Eine Frage, auf die die Politiker, die das mitentschieden haben, bei keinem ihrer vielen TV-Talkshow-Auftritte bislang eine klare, verständliche und nachvollziehbare Antwort geben können.
Die Menschen sitzen vor dem Bildschirm und verstehen diese ganze Corona-Politik immer weniger. „Vielleicht sollte man denen ein Corona-Talkshow-Verbot zum Eigenschutz erteilen, um nicht noch mehr Vertrauen zu verspielen, als sie es ohnehin schon getan haben", bringt es Sportlehrerin Juliana aus Rathenow auf den Punkt. Ihren Mallorca-Trip über Ostern hat sie unterdessen aufgegeben. In diesem Frühling, der laut Kanzlerin „kein normaler" ist, zeichnet sich ein leiser Abschied vom Billig-Tourismus ab. Dafür wird „Präsenz-Shoppen" zum Abenteuer.