Ein Essay von Prof. Dr. Uwe Hartmann, Universität des Saarlandes
Unsere Zukunft wird bestimmt durch vorhersehbare und unvorhersehbare Ereignisse, durch Vermeidbares und Unvermeidbares und vor allem durch noch Ungewisses. Aber selbst für die ferne Zukunft sind Entscheidungen, die wir heute treffen - wir alle und insbesondere jene, die unsere Entscheidungen bündeln - von großer Bedeutung. So wird die Konsequenz, mit der wir heute den Energiewandel angehen, darüber entscheiden, wie die globalen klimatischen Bedingungen in einigen Jahrzehnten aussehen. Die Konsequenz, mit der wir heute Impfstoffforschung betreiben, wird darüber entscheiden, ob wir zukünftig frei von Pandemien leben können. Die konsequente Erforschung und Förderung grundlegender Querschnittstechnologien heute entscheidet wiederum darüber, ob wir auch zukünftig noch in Prosperität und Wohlstand leben können. Es sind aber nicht nur die großen, global wirksamen Entscheidungen, die Einfluss auf unsere zukünftige gesamtgesellschaftliche und auch individuelle Existenz haben, sondern auch viele kleinere, deren unter Umständen große Wirkung erst Jahre später zu Tage tritt.
Auch das Saarland ist in der näheren und ferneren Zukunft in dramatischer Weise abhängig von Entscheidungen, die wir und andere heute treffen. Die Frage, ob in 30 Jahren noch Stahl oder Automobilteile produziert werden, ob Energie erzeugt wird, ob es nur noch einen Mittelstand oder auch global agierende Konzerne in unserem Bundesland gibt, kurzum die Frage, wie es dem Saarland im Jahre 2050 gehen wird, wird in mitentscheidender Weise schon heute beantwortet. Richtige oder falsche, mutige oder zaghafte Entscheidungen werden bestimmen, auf welchem Rang sich unser Bundesland im Hinblick auf Lebensqualität und Erfolgsfaktoren wird einordnen lassen. Die Extremszenarien führen zur Spitze oder zum Ende der Rangliste. Zeitzeugen der Zukunft könnten daher eine Utopie oder eine Dystopie bestätigt finden – wahrscheinlich aber etwas dazwischen.
Saarland 2050 - Ein Zeitzeuge der Zukunft berichtet
Eine Utopie
Rückblickend aus heutiger Sicht, im Jahre 2050, muss man sagen, dass bereits in den Jahren 2020/21 die Grundlagen für die heute hervorragende Stellung unseres Bundeslandes im Vergleich der Länder gelegt wurden. Damals regierte eine Große Koalition und die Opposition war vergleichsweise schwach besetzt, wenngleich auch zuweilen lautstark. Trotz relativ geringer parlamentarischer Kontrolle traf die Regierung im Wesentlichen mutige und weitsichtige Entscheidungen, was in Anbetracht eines kaum vorhandenen oppositionellen Korrektivs keineswegs als selbstverständlich angesehen werden sollte, die eine Grundlage der heute hohen Lebensqualität im Saarland waren. Diese hohe Lebensqualität fußt auf einem Überangebot an interessanten, gut dotierten und damit begehrten Arbeitsplätzen, auf einer hervorragend intakten urbanen Infrastruktur, auf einem reichhaltigen kulturellen und Freizeitangebot und auf besten Bildungschancen für wirklich jede Generation.
Heute wird die Landespolitik quasi als ein dezentes Hintergrundrauschen wahrgenommen. Sie arbeitet verlässlich, stabil, ohne Klüngel und effizient. Seit vielen Jahren dominiert eine konservativ-grüne Koalition, und nichts deutet darauf hin, dass sich das in absehbarer Zeit ändern sollte. Kaum zu glauben ist, dass sich die Einwohnerzahl des Landes in 30 Jahren mehr als verdoppelt hat. Allerdings gibt es immer noch Probleme, genügend MINT-affine Arbeitskräfte für die boomende mittelständische und Großindustrie zu akquirieren. Der Rest Deutschlands bemüht den Aufstieg des Saarlandes vom bestenfalls unauffälligen Empfängerland in den 2020er Jahren zum reüssierenden, in vielen Bereichen an der Spitze der Bundesländer liegenden Aufsteigerland häufig als exemplarisch. Beraterinnen und Berater von hier sind äußerst gefragt! All dies ist eine sehr solide Basis für ein Bundesland, das auch langfristig Prosperität, Stabilität und ein Höchstmaß an Lebensqualität bieten wird.
Worauf könnte es zurückzuführen sein, dass die Politik im Saarland seit einigen Jahrzehnten offenbar klüger agiert als in weiten Teilen Deutschlands? Diese Frage ist umso berechtigter, als vor einigen Jahrzehnten wegen der hohen parlamentarischen Kosten allen Ernstes von einigen Interessenvertretern ein Feierabendparlament für das Saarland gefordert wurde. Von einem solchen hätte man die federführende Begleitung des komplexen Transformationsprozesses, dem sich das ganze Land unterzogen hat, keinesfalls erwarten können! Nein, kleine Länder sind komplexe Gebilde! Die Meinung einer Vielzahl Einzelner fällt stärker ins Gewicht und viele explizite Befindlichkeiten müssen berücksichtigt werden. Der politische Seismograph muss gleichsam auf sensiblere Schwellen getrimmt werden als in den großen Bundesländern, in denen sich die Interessen von Wählerinnen und Wählern stärker herausmitteln. Und genau das verschafft kleinen Ländern, die ja häufig im föderalen Ganzen die gleichen Rechte haben wie große, einen ungeheuren Vorteil im Hinblick auf Wendigkeit, kurze Wege und Veränderbarkeit. Dieses hat sich das Saarland durch politische Weitsicht zu Nutzen gemacht.
Hilfreich waren auch die epigenetischen Tugenden der Saarländer: Heimatverbundenheit, Zusammenhalt. Ein Fehlen dieser Tugenden in einer globalisierten, vernetzten Welt ist ein Defizit, was individuell vielleicht lange unbemerkt bleibt, aber gesamtgesellschaftlich leicht zu Mangelerscheinungen und Destabilität führen kann. Im Jahre 2050 gibt es im Saarland erfreulich wenig Radikalisten, Querdenker und Esoteriker. Dies hat zu tun mit dem kollektiven Bildungsniveau und mit der Zufriedenheit der Menschen hier, und es macht das Bundesland natürlich überhaupt erst angemessen regierbar. Aber die eigentliche Ursache für den ungewöhnlichen ökonomischen und gesamtgesellschaftlichen Erfolg unseres Bundeslandes wurden in der ersten Hälfte der 2020er Jahre gelegt, in einer Zeit also, die einige Herausforderungen mit sich brachte.
Eine besondere Herausforderung für die ganze Welt war natürlich die COVID-19-Pandemie in den Jahren 2019-2022, die beachtliche ökonomische Erschütterungen zur Folge hatte und gerade auch den Menschen im Saarland viel abverlangte. Nur die in beispiellos schneller Weise erfolgte Entwicklung und Produktion von Impfstoffen und die konsequente Organisation von Massenimpfungen machten ab 2022 dem Spuk ein praktisch komplettes Ende. Und es passierte noch viel mehr: Die latente Gefahr von Pandemien und von der Nichtverfügbarkeit von Medikamenten und Impfstoffen rückte an die vorderste Front unserer Aufmerksamkeit. In der Folge wurde ein ganzer mRNA-Baukasten entwickelt, der es zusammen mit ausreichenden Produktionskapazitäten heute, im Jahre 2050, möglich macht, innerhalb kürzester Zeit Impfstoffe gegen praktische jede ernsthafte virale Erkrankung bereitzustellen und hinreichend flexibel auf virale Mutationen zu reagieren. Auch für eine Vielzahl von vor 30 Jahren noch mehr oder weniger verbreiteten Erkrankungen konnten deutlich verbesserte Therapien entwickelt werden. Mit der Verfügbarkeit zahlreicher neuer antikörperbasierten Verfahren wurde auch die Diagnostik in vielen Bereichen revolutioniert.
Im Saarland nahm man die sich anbahnenden dynamischen Entwicklungen in der Wirkstoffforschung frühzeitig wahr und man schärfte konsequent das hiesige Forschungsprofil. Große Synergien zwischen Pharmazie, Informatik und Materialwissenschaften ließen zwischen 2022 und 2030 die Forschungslandschaft des Saarlandes in überraschender Weise aufblühen. Viele bahnbrechende Forschungsergebnisse kommen seitdem in diesem für die Menschheit sensiblen Bereich aus dem Saarland. International agierende Unternehmen haben sich mit ihren Entwicklungsabteilungen bei uns angesiedelt und Tausende von Arbeitsplätzen mit großer Wertschöpfung sind entstanden. Besonders erfreulich ist, dass es gerade im Life Science-Bereich auch im Jahre 2050 noch eine äußerst aktive Gründerszene gibt. Die konsequente Schwerpunktsetzung und Strukturbildung zum richtigen Zeitpunkt trotz seinerzeit herrschender beträchtlicher ökonomischer Zwänge haben das Saarland zweifellos zu einem weltweit strahlenden Hotspot im Bereich Wirkstoffforschung gemacht.
Aber dieser Sachverhalt allein erklärt natürlich noch nicht die blühenden saarländischen Landschaften des Jahres 2050. Zwar hatte man seinerzeit weitsichtig auf den Life Science-Bereich gesetzt, aber eben andere technologische Schlüsselbereiche keinesfalls vernachlässigt. Landespolitisch besonders ausgezahlt hat sich das zusätzliche Setzen auf multiple Energiequellen und -träger und Energiespeichertechnologien. Wie ja nun heute allgegenwärtig sichtbar, ist Wasserstoff der Energieträger schlechthin. Kaum vorstellbar, dass das vor 30 Jahren noch nicht so war und dass immer noch Kohle, Öl und Gas einen Anteil von nahezu 80% im Energiemix Deutschlands besaßen. Gegenüber fossilen Energieträgern ist ja der Vorteil der Verwendung von Wasserstoff für Klima und Umwelt nun wirklich offenkundig. Weniger bekannt bei Laien ist vermutlich die Tatsache, dass das im Universum am häufigsten vorkommende chemische Element im Vergleich zu Erdgas oder Benzin eine fast dreimal so große Energiedichte bezogen auf ein Kilogramm besitzt. Natürlich muss der Wasserstoff als sekundärer Energieträger erst erzeugt werden, und genau hier kommt das Saarland wieder ins Spiel. Bereits vor mehr als 30 Jahren haben innovative Unternehmen in einer Allianz mit Forschungsinstituten den ersten HydroHub geplant. Nachdem dieser realisiert wurde, konnte erstmalig im industriellen Maßstab grüner Wasserstoff erzeugt werden. Viele weitere Elektrolyseure folgten und liefern Wasserstoff in Hülle und Fülle. Dieser wiederum ist beispielsweise Grundlage für grünen Stahl, aber auch für die Mobilitätswende, die zu dem führte, was wir heute flächendeckend vorliegen haben: Praktisch geräuschlose, mit Brennstoffzellen ausgestattete, vielfach autonom fahrende Fahrzeuge und besonders im Schwerlastbereich Fahrzeuge, die wie früher Erdgas heute Wasserstoff verbrennen. Komplettiert wird das ganze durch eine wachsende Anzahl von Seilbahnverbindungen in verschiedenen Städten. Schließlich ist der Energieaufwand zum Transport einer Person über eine gegebene Distanz im Vergleich zu anderen Transportarten für Seilbahnen unschlagbar gering.
So wie früher Zubehörteile für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren liefert das Saarland heute Wasserstoff, Brennstoffzellen und Batterien ins In- und Ausland. Die vor Jahrzehnten einsetzende Energie- und Mobilitätswende - begleitet von dem, was man früher einmal Industrie 4.0 nannte – hat also nicht zu größerer Arbeitslosigkeit, Abwanderung und zur Marginalisierung unseres Bundeslandes geführt, sondern genau zum Gegenteil: zu Vollbeschäftigung, Zuwanderung und ökonomischer Dominanz. Für den Erfolg dieses vorerst letzten Strukturwandels war unter anderem eine weitsichtige Landespolitik maßgeblich, die sich - auch mit ausgelöst durch die Pandemie 2019-2022 - vor allem in vernünftigem Umfang vom lange Zeit vorherrschenden Austeritätsdiktat befreite. Das ermöglichte Investitionen in die Zukunft des Landes – in Forschung, Technologietransfer, Infrastruktur.
Gerade die Forschung hält unser Bundesland weiter in Atem. Wie eine Herzkammer den Körper mit Blut versorgt, so versorgt die Forschung das Land mit Ideen, die, gegossen in Technologien, die Wirtschaft ständig weiter vorantreiben. Gab es früher einmal eine echte Push-Pull-Beziehung zwischen Forschung und Wirtschaft, so ist diese seit einiger Zeit deutlich in Richtung einer reinen Push-Situation gekippt. Das zeigen schon die beiden großen Technologietransfermotoren der heutigen Zeit: Modellierung komplexer Realitäten und Konditionierung der Atmosphäre.
Bereits vor Jahrzehnten glänzte das Saarland als Informatikstandort. Hervorragende Grundlagenforschung mündet Jahre später zu einem guten Teil in eine wirtschaftliche Verwertung, selbst wenn diese zunächst einmal kein explizites Motiv für die erkenntnisorientierte Forschung ist. Im Bereich Informatik kommt heute mehr denn je hinzu, dass die Wertschöpfung nicht so sehr direkt mit Software, Algorithmen und Daten erzielt wird, sondern eher durch diese. Im Internet der Dinge – eigentlich erstaunlich, dass dieser alte Begriff überlebt hat – befinden sich Rechner quasi in allem, was uns umgibt, und Programme laufen einfach dezent im Hintergrund ab. Kommunikation erfolgt nicht mehr wie noch vor 30 Jahren mit Geräten, die man extra mit sich herumschleppen muss, sondern die benötigte Elektronik ist in viele uns ohnehin umgebende Gegenstände und in die Kleidung integriert. Hard- und Software spielen damit keine explizite Rolle mehr, sie sind einfach da und omnipräsent.
Dasselbe gilt auch für Daten. Vor 30 Jahren noch ein kostbares Gut, mit dem gehandelt wurde und bei dem man naiver Weise zeitweise der Illusion nachhing, man könne den Umgang mit diesem Gut irgendwie beschränken oder kontrollieren. Heute wissen wir, individuelle oder kollektive Daten werden immer und überall erfasst und über jede und jeden ist zu jedem Zeitpunkt potentiell fast alles bekannt. Aber genau dadurch verlieren die individuellen Daten an Wert, es gibt einfach zu viele. Was bleibt, ist eine Nutzung zur Vereinfachung des Lebens: Der digitale Einkaufszettel kennt meine Vorlieben und Bedarfe ebenso wie der Arzt, den ich erstmalig aufsuche, bereits meine Krankengeschichte. Was man vor Jahrzehnten als „totale Überwachung“ problematisiert hat, wird heute als „Datendemokratie“ bezeichnet. Harmlose Vorläufer dieser Art der Demokratie waren schließlich schon die besonders wirkungsvollen unter den Pandemie- und Tracing Apps, die vor Jahrzehnten in Teilen der Welt zur Kontaktnachverfolgung eingesetzt wurden.
Das Megathema heute ist die Möglichkeit, komplexe Realsysteme zu modellieren. Gerade die Menge an vorliegenden Daten über uns, unser Umfeld und die Welt hat dieser Möglichkeit Vorschub geleistet. Keine Entwicklung muss daher - wie früher - unbestimmt oder überraschend sein. Nähme ich an, es könnte trotz faktischer Ausrottung heute noch eine virale Pandemie geben, so könnte ich exakt vorhersagen, welche Stellschrauben was bei den Infektionszahlen bewirken, das zum Teil irrationale Verhalten der Menschen eingeschlossen. Genau hier aber tappte man vor 30 Jahren weitestgehend im Dunkeln. Aber relevanter sind natürlich die heute recht präzisen Vorhersagen der immer noch leichten Klimaveränderungen, der immer noch zu erwartenden Migrationsbewegungen auf der Erde und die prospektive Sicht auf technologische Entwicklungen immer noch dem Mooreschen Gesetz folgend. Die Modellierbarkeit komplexer Gesamtsysteme erlaubt es mir selbst, mein persönliches Leben zu modellieren. Welche Entscheidung wird zu was in 20 Jahren führen? Welche Risiken sind vertretbar und welche aufgrund einer roten Ampel zu vermeiden? Die Modellierbarkeit komplexer sozioökonomischer und sonstiger Systeme ist wirklich ein Megathema zur Mitte des Jahrhunderts und das Saarland ist aufgrund seines gewachsenen Informatikökosystems ganz vorne mit dabei!
Das zweite Megathema unserer Zeit ist natürlich die Konditionierung der Atmosphäre. Im Wesentlichen ist sie notwendig aufgrund der Sünden der Vergangenheit. Ich brauche hier wirklich nicht auf den Treibhauseffekt und das jahrhundertelange Nutzen fossiler Energiequellen einzugehen. Die Zusammenhänge sind jedem bekannt. Früher konstatierte man mit Sorge die CO2-Emission, schloss halbherzige Klimapakte und berechnete Erderwärmungen mit großen Unsicherheiten. Zum Glück sind wir heute weiter. Und wieder ist die Erkenntnis: Nicht stoischer Verzicht Vieler ist der Schlüssel zum Erfolg, sondern bahnbrechende Erfolge von Wissenschaft und Technologietransfer. Der Ersatz der Glühbirne durch die LED vor langer, langer Zeit hat den Energieverbrauch deutlich mehr gesenkt als das vereinzelte Sitzen im Dunklen oder bei schummrigem Kerzenlicht!
Die saarländische Landesregierung vor 30 Jahren hat diesbezüglich nicht nur eine föderale Verantwortung ihrer Hochschulen wahrgenommen, sondern auch eine einmalige regionale Chance. Verfahren zur Extraktion von CO2 aus der Atmosphäre haben eine tief interdisziplinäre Wurzel. Die Hochschulen vor 30 Jahren waren im Kern aber stark disziplinär verortet. Synergien zwischen Disziplinen wurden vergeudet. Heute genießt die Universität des Saarlandes einen weltweit hervorragenden Ruf bei der Entwicklung von CO2-Extraktionsverfahren gerade weil vor Jahrzehnten die potentielle wirtschaftliche Relevanz der Thematik erkannt wurde. Hervorragende Grundlagenforschung zum Einfluss von Aufforstungen, Humusbindungen, Bindungen an Gestein sowie „Direct Air Capturing“ und Photokatalyse haben den Technologien zur Konditionierung der Atmosphäre wesentlich Vorschub geleistet. In Folge der weltweit goutierten Grundlagenforschung haben sich entsprechend viele Spin Offs und etablierte Unternehmen um die saarländischen Hochschulen herum angesiedelt. Heute ist es besonders dank der Entwicklungsleistung saarländischer Unternehmen möglich, die Zusammensetzung der Atmosphäre global relativ gut zu regeln. Allerdings erforderte die damalige Entscheidung zur Schaffung von Anreizen für eine derartig interdisziplinäre und auch revolutionäre Forschung mit unmittelbarem Anwendungsbezug viel Mut und Selbstvertrauen aller Entscheiderinnen und Entscheider.
Aber, und das sage ich im Jahre 2050, es wäre zu kurz gegriffen, die hervorragende Situation unseres Bundeslandes ausschließlich an einer Handvoll weitsichtiger politischer Entscheidungen vor Jahrzehnten festmachen zu wollen. Es ist vielmehr entscheidend, in welchem Umfang die Menschen mitziehen. Der Anspruch an Schlüssigkeit und Erklärbarkeit der Politik wächst natürlich ständig und war damit noch nie so hoch wie heute. Zwei Entscheidungen der saarländischen Landesregierung vor Jahrzehnten waren beispielhaft für den Rest Deutschlands und in gewisser Weise auch der EU und weiterer Teile der Welt: Diejenige für die Fortbildungsstrategie und diejenige für den „Ethik-Führerschein“. Und beide Entscheidungen erreichten wirklich die Menschen!
Wenn Menschen im Hinblick auf Job und Expertise nicht mehr gefragt sind, dann ist das in jedem Fall mit schwierigen persönlichen Schicksalen und manchmal auch kollektiv mit geradezu volkswirtschaftlichen Verwerfungen verbunden. Die Ursache liegt, was eine Mehrzahl von solchen Entwicklungen betrifft, letztendlich im technologisch bedingten Strukturwandel. Früher kamen Entwicklungen individuell häufig überraschend und unerwartet schnell. Heute hat sich die Einsicht verfestigt, dass Ausbildungsphase und Beruf nicht unterscheidbar sind, sondern der Beruf in einer ständigen Weiterentwicklung des persönlichen Wissens und der persönlichen Fertigkeiten besteht, und dass er damit quasi eine ständig fortschreitende weiteren Ausbildung darstellt.
Das Saarland hat Mitte der 2020er Jahre eine Lebens- und Weiterbildungsakademie ins Leben gerufen, die einerseits ganzheitlich und andererseits beruflich spezifisch auf die zunehmend komplexer werdende Welt vorbereitet. Die Kombination aus „Lebens-Coaching“ und der Vermittlung von spezifischen Fähigkeiten angepasst an die sich wandelnde Gesellschaft hat sich auf jeden Fall für das Land gelohnt. Insbesondere der „Digital Score“, eine nachvollziehbare Einschätzung der individuellen Fähigkeit, mit der digitalen Realität umzugehen, hat sich als sehr sinnvolles Maß dafür erwiesen, einerseits seine persönlichen Fähigkeiten im Vergleich zu denen anderer Menschen einzuschätzen und andererseits den persönlichen Marktwert gegenüber Interessenten zu dokumentieren. Das innovative dieses Maßes ist es, dass es nicht das Ergebnis irgendeiner irgendwann abgelegten Prüfung widerspiegelt, sondern vielmehr eine kumulative Lebensleistung. Diese Lebensleistung kann in Form beliebig kleiner Portiönchen an Wochenenden, während der Fahrt zur Arbeitsstätte oder in Pausen erbracht werden und wird durch „Nanozertifikate“ dokumentiert. Weiterbildung erfolgt damit ständig, omnipräsent und so, dass sie nicht als Belastung empfunden wird - und sie ist kostenlos.
Eng mit der Weiterbildung und dem „Lebens-Coaching“ verbunden ist der „Ethik-Führerschein“, eine saarländische Erfindung, die zunächst für Furore sorgte und dann eine schnelle Akzeptanz in Deutschland und darüber hinaus erfuhr. Grundlage des Konzeptes ist die Überzeugung, dass man vielen Menschen im Hinblick auf ihr gesamtgesellschaftliches Handeln langfristig vertrauen kann, ohne ihre gesellschaftsbezogene Loyalität ständig überprüfen zu müssen oder a priori stets in Frage zu stellen. Das Resultat ist ein sozialeres Verhalten weiter Teile der Gesellschaft und eine beträchtliche Reduktion der öffentlichen Verwaltung.
Menschen, die ethische Kompetenz nach intensiver Befassung mit der Materie durch belastbare Kenntnisse zu ethischem Handeln in den unterschiedlichsten Lebensbereichen und durch ein explizites Bekenntnis zu ihrer Absicht, nach bestem Wissen und Gewissen stets aus ethischer Sicht beispielhaft zu handeln, unter Beweis gestellt haben, sind umfassend von den früher allgegenwärtigen Nachweispflichten befreit. Ihre Steuererklärungen werden genauso wenig überprüft wie ihre Kreditwürdigkeit oder gar ihre Identität. Das Vorlegen des „Ethik-Führerscheins“ reicht stets. Durch Etablierung dieses Führerscheins werden in der öffentlichen Verwaltung und bei Unternehmen Kosten eingespart, die um Größenordnungen die Kosten übersteigen, die durch den seltenen Missbrauch des Führerscheins entstehen.
Ein vor Jahrzehnten verwendeter Slogan des Saarland-Marketings lautete: „Großes entsteht immer im Kleinen“. Dieser Slogan verkörperte seinerzeit den tief verankerten Wunsch unseres kleinen Bundeslandes nach nicht unerheblichen, durch die Kohle-, Stahl- und Automobilindustrie bedingten Umbrüchen endgültig zu großer und sichtbarer Prosperität aufzusteigen. Wer hätte gedacht, dass das in nur drei Jahrzehnten in dieser Weise klappen würde? Das im Kleinen entstandene Große ist riesig, beispielhaft und spiegelt sich keineswegs nur in volkswirtschaftlichen Maßzahlen wider. Grundlage waren hauptsächlich die richtigen politischen Entscheidungen zum richtigen Zeitpunkt. Die Zukunft beginnt eben zu jedem Zeitpunkt, und das gilt damit auch für Zeitpunkte in der Vergangenheit. Der lange Arm der Vergangenheit wird im Hinblick auf die Gegebenheiten in der Gegenwart zuweilen seitens der Politik zu kurz bemessen. Dies jedoch schmälert keinesfalls die große Macht der Kausalitäten.
Saarland 2050 - Eine Zeitzeugin einer alternativen Zukunft berichtet
Eine Dystopie
Ich erinnere mich noch gut an das Jahr 2020. Da ging es zunächst noch fast allen hier gut und die Politik feierte - durchaus berechtigt - kleine Erfolge. Das Saarland war zwar bundesweit nicht spitze, aber es gab doch sichtbare Erfolge und der Strukturwandel konnte als gelungen angesehen werden. Allerdings zogen eben auch deutlich sichtbar dunkle Wolken am Konjunkturhimmel auf. Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass bereits zu dieser Zeit die Politik, damals regierte eine Große Koalition, auf ganzer Linie versagt hat. Die fortgesetzt mangelnde Problemlösungskompetenz der Politik, gepaart mit echten globalen Herausforderungen, ist die Ursache für die düsteren Aussichten, die wir jetzt, 30 Jahre später im Saarland auf ganzer Linie beobachten und nicht mehr ignorieren können.
Heute ist die Politik im Saarland faktisch nicht mehr handlungsfähig. Gestärkt durch einen Stimmenanteil von knapp 38% ist besonders die Partei „Lösung Für Alles“ (LFA) zu einem großen Problem geworden. Nur noch die Grünen mit 22% haben ebenfalls einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung, während die einst großen Volksparteien sich selbst längst marginalisiert haben und zusammen mit einer Handvoll Klientelparteien ein recht instabiles Parlament bilden. Bereits seit einigen Jahren ist die grüne Ministerpräsidentin auf wechselnde Mehrheiten angewiesen und in der Regel blockiert die LFA in einer unseligen Koalition mit jeweils einigen der Splitterparteien dringend notwendige Reformvorhaben. In einer früher schier undenkbaren Weise sind die Grenzen der parlamentarischen Demokratie erreicht, weil Parteien sich aus der Unzufriedenheit der Abgehängten, aus Klientelpolitik bei fehlenden Gesamtkonzepten und aus Machterhalt um jeden Preis speisen.
Schon vor Jahrzehnten war die Politik in Gefahr, aufgrund der mangelnden Bestenauslese unter den Politikerinnen und Politikern in vielerlei Hinsicht Problemlösungskompetenz zu verlieren. Für an sich hervorragend dafür geeignete Menschen ist die Politik mit ihren stammtischnahen personellen Auswahlmechanismen, den oft ans Einfältige grenzenden Vorschlägen, den vielen Oberflächlichkeiten und der am Ende mangelnden Umsetzbarkeit von Ideen einfach zu unattraktiv geworden. Die Zeiten, in denen billante Politikerinnen und Politiker ohne Rücksicht auf das eigene Schicksal getreu ihrer Überzeugungen und glaubhaft für eine Sache eintraten, sind seit Jahrzehnten vorbei. Der saarländische Landtag ist zu einer Institution geworden, in der vom Volk und auch von der Realität abgekoppelte Opportunisten bei immer noch beachtlichen Diäten und Vergünstigungen trotz ansonsten geringer beruflicher Perspektiven einer Tätigkeit nachgehen, deren Effizienz, Leistungsfähigkeit und Erfolg nicht messbar und damit offensichtlich nebensächlich geworden sind.
Viele Aspekte der grassierenden demokratischen und politischen Misere sind ebenfalls im restlichen Deutschland, in der übrig gebliebenen Rest-EU und auch in weiten Teilen der sonstigen Welt zu beobachten. Im Saarland hat sich die Situation aber besonders zugespitzt, weil unsere Region mit Abstand zu den wirtschaftlich problematischsten in Deutschland zählt und im Hinblick auf zahlreiche Indikatoren sogar hinter Griechenland herhinkt. Das ist umso betrüblicher, als sich Griechenland ja noch immer von der Staatsschuldenkrise, die im Jahre 2010 ihren Ausgang nahm, erholt. Damals ging es dem Saarland gut und Griechenland schlecht. Und jetzt geradezu die umgekehrte Situation! Jedenfalls hätten wir sie vollends, wenn nicht immer wieder föderale innerdeutsche Hilfspakete geschnürt würden, die aber die Gleichheit der Lebensbedingungen nicht mehr wirklich sicherstellen können. Daran ändert auch die stete Tendenz der Politik zum Schönrechnen nichts.
Zwar sind über Jahrhunderte gewachsene Tugenden der Saarländerinnen und Saarländer, die lange Zeit als geradezu epigenetisch erworben bezeichnet werden konnten, ansatzweise noch zu erkennen. Dazu zählen bekanntlich Offenheit, Zufriedenheit mit dem Einfachen und ein großer Zusammenhaltensreflex. Andererseits sorgt aber eine anhaltende wirtschaftliche Schwäche auf Dauer für Defizite in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen wie Infrastruktur, Kultur, Bildung, Sicherheit und sogar Gesundheit. Diese Defizite führen neben dem besonders harten Schicksal der eigenen Erwerbslosigkeit vieler zur latenten Unzufriedenheit weiter Bevölkerungsteile. Und genau diese kollektive Unzufriedenheit ohne Hoffnung auf absehbare Besserung der individuellen Situation führt zu Radikalisierung und politischer Instabilität und damit letztendlich zu der zu konstatierenden politischen Handlungsunfähigkeit im Jahre 2050. Diese spiegelt sich nicht zuletzt darin wider, dass zunehmend das föderale Fundament Deutschlands infrage gestellt wird. Bundesländer wie das Saarland sind eindeutig zu einer Belastung dieses föderalen Fundaments geworden, wobei der seit langem populäre Spott über das Saarland nur das geringste Problem darstellt.
Welche Fehler sind aus rückblickender Sicht ab etwa dem Jahre 2020 gemacht worden, ab dem Zeitpunkt der ersten dunklen Wolken am konjunkturellen Himmel? Das ist eigentlich für eine Zeitzeugin, die den fraglichen Zeitraum zwischen 2020 und 2050 bewusst erlebt hat, einfach zu beantworten. Bedingt durch starke Umbrüche in der Automobilindustrie, durch Handelskonflikte und durch alternativlose Belange des Umweltschutzes wurde die saarländische Wirtschaft insbesondere in den 2020er Jahren vor Herausforderungen gestellt, die im Hinblick auf ihre Größenordnung und zeitliche Dynamik unternehmerisch genau so wenig zu meistern waren wie mit probaten wirtschaftspolitischen Maßnahmenpaketen. In Erinnerung gerufen sei, dass das einzige saarländische Automobilwerk ab Mitte der 2020er Jahre mit dem Auslaufen eines ehemaligen automobilen Erfolgsmodells in einem ähnlich kurzen Zeitraum abgewickelt wurde, in dem es Ende der 1960er Jahre auf Betreiben Ludwig Erhards errichtet wurde. Mit dem allmählichen Auslaufen konventioneller Antriebstechniken gerieten zunehmend auch Automobilzulieferer unter Druck und mussten im fraglichen Zeitraum Tausende von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entlassen. Die Kombination von hohen Umweltauflagen und einem Überangebot von in anderen Teilen der Welt schmutzig produziertem Stahl ließ gleichzeitig die saarländische Stahlindustrie auf einen Bruchteil ihrer Größe gemessen an ihrer Größe noch zu Beginn der 2020er Jahre schrumpfen.
Wenn es auch nicht Sache von Unternehmen ist, das Saarland zu retten, so ist es doch Sache der Politik, für Rahmenbedingungen zu sorgen, die gewährleisten, dass hinreichend viele Unternehmen das Saarland am Leben halten. Die wirtschaftliche Tristesse im Jahre 2050 ist aber gerade darauf zurückzuführen, dass nicht rechtzeitig und nachhaltig entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen wurden.
Mit zunehmendem Wegfall der „Old Economy“, der insbesondere auch dringlichen Umweltbelangen geschuldet war, hätte zwischen 2020 und 2030 eine konsequente Optimierung der Rahmenbedingungen für die Ansiedlung einer „New Economy“ etabliert werden müssen. Obwohl die Zeichen der Zeit eigentlich erkannt wurden, fanden rahmenpolitische Maßnahmen nur verhalten und zu kompromissbehaftet, eben zu zaghaft und zu wenig visionär statt – es grassierte eben die „saarländische Krankheit“.
Allerdings kam bereits in den Jahren 2020/21 ein global für alle Seiten offenbar gänzlich unerwarteter Faktor hinzu, der einen bis dato nie dagewesenen Einfluss auf alle Lebensbereiche aller Menschen besitzen sollte, die durch SARS-CoV-2 ausgelöste COVID-19-Pandemie. Ende 2019 ihren Ursprung auf einem chinesischen Wildtiermarkt habend, breitete sich die Seuche in mehreren Wellen über die gesamte Welt aus. Ausläufer dadurch bedingter gesellschaftlicher und ökonomischer Erschütterungen sind sogar noch heute, im Jahre 2050, zu spüren.
Eigentlich hätte das Auftreten der durch SARS-CoV-2 verursachten Pandemie nicht so gänzlich unerwartet sein müssen. Das zunehmende Vordringen und Eingreifen des Menschen in komplexe Ökosysteme - und im Extremfall ihre Zerstörung – begünstigen in recht offensichtlicher Weise die Akquisition bislang unbekannter Viren. Der Mensch leistet gleichsam der viralen Evolution einen mächtigen Vorschub. Und selbst, wenn diese abstrakte Erkenntnis nicht zu globaler Prävention geführt hat, so hätte die Welt zuvor die MERS-CoV-Ausbrüche auf der arabischen Halbinsel im Jahre 2012 oder die erste SARS-CoV-Pandemie, die 2002/03 ebenfalls in China ihren Ausgangspunkt hatte, zum Anlass größerer Vorsorge nehmen können. Auch die seit 1976 stattfindenden Ebola-Ausbrüche und das bereits seit 1967 bekannte Marburg-Virus - von den historischen Epidemien ganz zu schweigen - haben nicht zu globalem Umdenken im Hinblick auf die Entwicklung antiviraler Prävention geführt.
Jedenfalls hat SARS-CoV-2 innerhalb kürzester Zeit die Welt auf den Kopf gestellt. Anfang 2020 fehlte es zunächst an allem: an Erkenntnis, an Maßnahmen, an Schutzutensilien und vielerorts auch an ausreichender medizinischer Behandlungskapazität. Dass das Saarland halbwegs gut durch die etwa zweijährige pandemische Phase kam, war weniger dem weitsichtigen Handeln der Landespolitik zu verdanken als vielmehr dem gesamtdeutschen Weg und der Tatsache, dass pandemisch gesehen Flächenländer Vorteile haben. Aber was bedeutet schon halbwegs gut in Anbetracht vieler Verstorbener und langfristig gesundheitlich Beeinträchtigter? Halbwegs gut bezieht sich leider in der Regel nur auf einen Vergleich mehr oder weniger geeigneter Parameter mit denen anderer Länder und Bundesländer, bevorzugt sogar mit denen, die hinsichtlich dieser Parameter schlechter abschneiden. Politisch ehrlicher wäre bei den bis 2025 andauernden abschließenden Analysen der Pandemiegesamtsituation ein rigoroser Vergleich zwischen der tatsächlichen Situation und einem Pandemieverlauf für eine simulierte, optimal vorbereitete Gesellschaft oder für ein präventiv wirklich gerüstetes Bundesland gewesen. Solche Bewertungen politischen Handelns sind heute, im Jahre 2050 möglich, wenn auch in der Regel unerwünscht, da digitale Zwillinge auch komplexer Systeme und ganzer Lebensbereiche verfügbar sind. In den 2020er Jahren waren derartige Analysen, die jegliche politische Schönfärberei entlarven, noch nicht einmal geplant, und sie wären wohl genauso politisch unerwünscht gewesen, wie sie es heute auch noch sind.
Die Pandemie 2019-2022 hat schonungslos globale, staatliche und gesellschaftliche Defizite aufgedeckt. Genau genommen wurden sie aufgedeckt durch winzige Aggregate organischer Moleküle, die noch nicht einmal leben, sondern bestenfalls dem Leben nahestehen. Viria außerhalb von Wirten sind eigentlich völlig hilflos und nur, wenn sie das Glück haben, zum Virus zu werden, können sie ihre evolutionäre Erfolgsstrategien unter Beweis stellen. Obwohl das Tabakmosaikvirus bereits seit 1892 und dasjenige der Maul-und-Klaunseuche seit 1896 bekannt ist, zeigte uns SARS-CoV-2 einmal mehr, wie wenig wir über die etwa 3000 Virenarten wissen, die nicht weniger als 1,8 Millionen rezente Wirte befallen können. Wie lange können Virionen intakt bleiben? Wie lange können Aerosol-Nanopartikel schweben? Wie lässt sich die Luft reinigen? Wie infektiös können Oberflächen sein? In welchem Umfang schützt welche Mund-Nase-Bedeckung wen? Warum reagiert unser Immunsystem individuell so unterschiedlich? Alles Fragen, die plötzlich durch eine Handvoll professioneller Virologen und Millionen selbsternannter Hobbyvirologen intensiv diskutiert wurden.
Neben virologischen und biomedizinischen Wissensdefiziten hat die Pandemie auch gravierende Schwächen auf allen Ebenen des politischen Handelns aufgedeckt: Welche Zahlen und Statistiken sind wie relevant? Wie sieht ein optimales Infektionsschutzgesetz aus? Welche Kontaktbeschränkungen sind vertretbar? Wie bändigt man den föderalen Pluralismus? Wie hält man den Schulbetreib aufrecht? Wie schützt man Kunst und Kultur? Wie stützt man Handel und Wirtschaft in Anbetracht monatelanger Einschränkungen? Wie können ausreichende medizinische Behandlungskapazitäten bereitgestellt werden? Wie verfährt man unter ethischen Maßgaben, wenn insbesondere auf Intensivstationen keine ausreichenden Kapazitäten mehr zur Verfügung stehen und eine Triage unausweichlich erscheint? Riegelt sich jeder Staat ab oder sind internationale Allianzen der bessere Weg? Und dies sind nur einige der Fragen, mit der die Politik weitestgehend unvorbereitet und anfangs recht orientierungslos konfrontiert wurde.
Aber auch unsere global vernetzte Wirtschaft hat sich als fragiler Gesamtkomplex erwiesen. Lieferketten wurden unterbrochen. Umsätze brachen ein. Ein erheblicher Anstieg der Arbeitslosigkeit war nicht zu vermeiden. Manche Branchen konnten nur durch massive staatliche Intervention erhalten werden. Die staatlichen Gesamtaufwendungen, die mit der Pandemie direkt oder indirekt zusammenhängen, und die nie in toto beziffert wurden, belasten letztendlich nachhaltig zukünftige Generationen und sind bei genauerem Hinsehen sogar jetzt noch, im Jahre 2050, als Nachbeben spürbar, auch wenn die Politik dieses Thema vor 25 Jahren kollektiv als nicht opportun erkannt und tief begraben hat.
Aber die Pandemie vor 30 Jahren hatte auch ihr Gutes. Innerhalb vergleichsweise extrem kurzer Zeit wurden Impfstoffe entwickelt, validiert und zugelassen. Eine glänzende Forschungsleistung! Innerhalb kürzester Zeit wurden auch therapeutische Maßnahmen insbesondere auf Intensivstationen in internationaler Abstimmung optimiert. Während anfangs die Therapie praktisch wie diejenige von Grippepatientinnen und -patienten erfolgte, konnte sie innerhalb von Monaten an das komplexe Geschehen bei einer schwerwiegend verlaufenden SARS-CoV-2-Infektion angepasst werden und so konnte die Letalität signifikant reduziert werden. Zum Guten zählt sicherlich auch, dass sich die schleppende Entwicklung der Digitalisierung in allen Lebensbereichen beschleunigt hat. Wenn auch die Prozesse in Behörden und Schulen holprig anliefen, so konnten sich zumindest die Hochschulen recht flexibel auf die neuen Rahmenbedingungen einstellen. Und auch die Entstehung vieler Home Offices hat sicherlich seinerzeit die Konzeption der Arbeitswelt von morgen, so wie wir sie jetzt, im Jahre 2050 kennen, stimuliert.
Das Saarland hat sich damals im Vergleich der Bundesländer halbwegs gut geschlagen, aber die Pandemie hat auch - in einer für die Politik und viele Bereiche der öffentlichen Verwaltung nicht unerwünschten Weise - abrupt von den alten Problemen abgelenkt. Und die bestanden auch nach überwundener Pandemie weiter, und sie bestehen heute in eskalierter Form. So erfreulich auch die rasche Verfügbarkeit von Impfstoffen seinerzeit war, eine ökonomische Wertschöpfung fand zwar in beachtlichem Umfang in Deutschland, aber nicht - und fast möchte man sagen, natürlich nicht - im Saarland statt. Andererseits fand ein Teil der persönlichen intellektuellen Wertschöpfung einiger Impfstoffpioniere gerade im Saarland statt. Ein extrem innovatives Biotech-Unternehmen mit Notierung an der US-Technologiebörse und einem Wert, der bereits 2020 viele Milliarden Euro betrug, hätte im Saarland vielleicht so manches geändert, insbesondere, wenn man die Entwicklung des Unternehmens nach 2020 bis heute sieht. Leider haben kluge Köpfe das Saarland sehr häufig verlassen und sich teilweise an nahegelegenen Orten, aber eben in einem anderen Bundesland niedergelassen. Das Halten kluger Köpfe bedeutet eben „High Potentials“ zu identifizieren, im richtigen Moment alles auf eine Karte zu setzen, Verantwortung zu übernehmen und Zukunft attraktiv zu organisieren. Der politisch sicherere Weg sieht selbstverständlich anders aus und eine Bewertung nicht erzielter politischer Erfolge hat bis heute ja sowieso keine Konjunktur!
Als problematisch haben sich seinerzeit aber auch andere „saarländische Wege“ erwiesen. Etwa die Organisation des Durchimpfens von weniger als einer halben Million Impfwilliger, die inkonsequenten Präsenzregeln für Schulen oder die Formulierung der grundrechtssensiblen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit vieler Menschen. Aber viel schlimmer ist, dass man seinerzeit politisch nicht nachhaltig aus der pandemiebedingten Krise gelernt hat - allerdings im Rest des föderalen Deutschlands auch nicht wirklich. Dies hat sich besonders deshalb als fatal herausgestellt, weil die durch SARS-CoV-2 ausgelöste Pandemie nur ein weiterer und diesmal noch deutlicher wahrnehmbarer Vorbote für einen zunehmenden Wettlauf zwischen viraler Evolution und menschlicher Gegenwehr war. So hatten die Pandemien Ende der 2020er, Mitte der 2030er und Anfang der 2040er Jahre global noch verheerendere Folgen, was eben zum einen aus weiterhin vorhandener politischer Ratlosigkeit gemischt mit zunehmender Uneinsichtigkeit größerer Bevölkerungsteile und zum anderen durch raschere und erfolgreichere virale Mutationen unter Einbeziehung einer zunehmenden Zahl tierischer Wirte zurückzuführen war und jetzt, im Jahre 2050, als latente Gefahr für die gesamte Menschheit angesehen werden muss. Was es noch schlimmer macht: Neben durch Coronaviren induzierte Pandemien haben wir jetzt auch die erste weltumspannende durch Filoviren ausgelöste Pandemie erlebt. Ohne zu übertreiben kann man sagen, dass der viralen Evolution durch die Menschheit so viel Vorschub geleistet wurde, dass der Impfstoffentwicklung droht, dauerhaft ins Hintertreffen zu gelangen.
Erwartungsgemäß haben sich in den vergangenen 30 Jahren viele Technologien so weiterentwickelt, wie von nicht gerade wenigen Expertinnen und Experten vorhergesehen. Natürlich ist dies auch kein Wunder, da weitsichtige Vorhersagen ja aus der cleveren Extrapolation von Entwicklungen der Vergangenheit in die Zukunft resultieren. Schon das Mooresche Gesetz hat uns gelehrt, wie erfolgreich eine solche Extrapolation selbst über einige Jahrzehnte hin möglich ist. So haben wir heute, im Jahre 2050 praktisch keine human gelenkten Autos, Züge und Schiffe mehr, sondern nur noch autonom fahrende. Und Verbrennungsmotoren, Kohle-, Gas- und Kernkraftwerke existieren ebenfalls nicht mehr. Wir leben von erneuerbaren Energien, hoher Effizienz und technischer Raffinesse in allen Bereichen. Forschung wird mittels extrem leistungsfähiger Quantenalgorithmen betrieben. Das menschliche Proteom ist bis ins Letzte aufgeschlüsselt, so wie es das Genom schon vor 47 Jahren war. Die Exploration des benachbarten Weltalls erfolgt routinemäßig mit miniaturisierten ferngesteuerten Sonden.
Wie die Technik um uns herum, hat sich auch unser Arbeits- und Privatleben über die vergangenen 30 Jahre radikal verändert. Die Urbanisierung hat extrem zugenommen. Wir leben und arbeiten primär in vernetzten und bedarfsoptimierten Hochhäusern, während weite Landstriche quasi menschenleer sind. 90 % der realen Wirtschaftsleistung werden heute in Deutschland durch den Dienstleistungssektor erbracht. Mehr als zehn Millionen Menschen sind über 80 Jahre alt, weil die Medizin es mittlerweile ermöglicht, sehr viele Erkrankungen erfolgreich zu therapieren. Große Teile unseres Lebens werden durch das bestimmt, was man früher, zu Pionierzeiten einmal das Internet der Dinge nannte. Sprachassistenten und künstliche Intelligenz begleiten uns auf Schritt und Tritt und sind somit de facto mit uns verschmolzen. Nur noch wenige erinnern sich wirklich an das, was man vor 30 Jahren für modern hielt: Mobiltelefone oder Tablet-Computer. Heute ist alles in Textilien oder Möbel integriert und erweiterte Realitäten sind von dem, was wir früher Realität nannten, nicht mehr zu unterscheiden. Die heute vorherrschenden Jobs kann man praktisch von überall aus erledigen, was zu einer weitgehenden Entgrenzung von Arbeitsleben und Freizeit führt.
Aber was haben diese generellen Lebensumstände nun mit der Situation des Saarlandes im Jahre 2050 zu tun? Leider muss man eindeutig sagen, dass die Menschen im Saarland - diejenigen, die dort noch verblieben sind - überproportional wenig von alten oder neuen Errungenschaften profitieren. Und das wiegt insofern besonders schwer, weil Deutschland als Ganzes über die letzten drei Jahrzehnte ohnehin schon deutlich an Lebensqualität eingebüßt hat, während andere Länder dieser Welt als systemische Gewinner dastehen. Trotz aller Fortschritte der Forschung und technischer Errungenschaften haben sich, wie klar abzusehen war, die Sünden der Vergangenheit bitter an der Welt gerächt. Jetzt, Mitte des 21. Jahrhunderts, ist es im Jahresmittel glatte zwei Grad Celsius wärmer als noch vor 30 Jahren. Am Ende des Jahrhunderts werden es fünf Grad sein und der Meeresspiegel wird um einen Meter gestiegen sein. Gleichzeitig werden wir zu diesem Zeitpunkt endlich die weltweite CO2-Neutralität erreicht haben, aber eben nicht bereits jetzt, im Jahre 2050. Schon jetzt sind aber Wetterextreme wie Starkniederschläge und Hitzewellen auch in unseren Breiten zu verzeichnen. Die globalen wie regionalen Folgen sind immens und verschlingen nie geglaubte Anteile am Bruttosozialprodukt. Namentlich sind zu nennen: Überschwemmungen, Verwüstungen, Artensterben und in anderen Teilen der Welt fehlende Zugänge zu Trinkwasser sowie eine generelle Nahrungsmittelknappheit. Daraus resultierende Migrationsströme sind zu einer globalen Herausforderung geworden. Das ethische Dilemma ist offensichtlich: Humanitäre Hilfen schwächen stark die Überlebensfähigkeit der eigenen Nation.
Da aufgrund zu zaghafter und wenig visionärer Weichenstellungen vor Jahrzehnten das Saarland heute kein Produktionsstandort mehr für Irgendetwas ist, gleichzeitig die Menschen aber aufgrund ihrer Qualifikationen und Vorlieben nicht alle als Software-Experten, Clickworker oder in Pflegeberufen tätig sein können oder wollen, sind dem Saarland die Menschen ausgegangen, insbesondere diejenigen, die im Wesentlichen die öffentlichen Haushalte alimentieren. Die Folgen sind bekannt: Die Infrastruktur zerfiel zunehmend ebenso, wie kulturelle und Bildungsangebote reduziert wurden. Das Nahverkehrsangebot wurde zusammengestrichen und die Innenstädte verödeten. All das hat besonders in den letzten zehn Jahren die Lebensqualität dramatisch reduziert und eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt. Das Saarland erscheint jetzt, im Jahre 2050, weder als Standort für Unternehmensansiedlungen noch als Standort für eine persönliche Ansiedlung attraktiv.
Aufgrund der enormen, durch die Klimaveränderungen entstandenen Herausforderungen einerseits und der ökonomischen Einbußen andererseits sind Hilfsbereitschaft und reale Unterstützungsmöglichkeiten für ein kränkelndes Bundesland im föderalen Deutschland viel geringer ausgeprägt als noch vor Jahren. Dadurch entstehen beachtliche und ungesunde regionale Unterschiede in der Lebensqualität. Diese wiederum führen zu kollektiver Unzufriedenheit ganzer Bevölkerungsteile einzelner Bundesländer. Die Folge sind politische Instabilitäten und Unberechenbarkeiten wie am Anfang meines Saarlandresümees bereits geschildert.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass vor Jahrzehnten einmal der Slogan einer saarländischen Marketingkampagne lautete: „Großes entsteht immer im Kleinen“. Kaum hätte man sich seinerzeit träumen lassen, dass das auch für riesig gewordene Probleme unseres kleinen Bundeslandes gilt. Die Zukunft beginnt eben zu jedem Zeitpunkt, und das gilt damit auch für Zeitpunkte in der Vergangenheit. Der lange Arm der Vergangenheit wird im Hinblick auf Probleme der Gegenwart zuweilen seitens der Politik schlicht ignoriert. Dies schmälert aber keinesfalls die große Macht von Kausalitäten.