Fehlerhafte Waren zu vernichten ist in Deutschland steuerlich billiger als sie zu spenden. Seit der Pandemie und tonnenweise nicht verkaufter Ware ist das anders – vorerst. Dafür eingesetzt hat sich unter anderem das Kölner Unternehmen Innatura.
Nicole Becher verschafft sich einen Überblick. Bodylotion, Cremes und Sprays einer bekannten Marke sind angeliefert worden. Welches Produkt in welcher Menge – die Lagerarbeiterin notiert alles sorgfältig. Später werden die Kisten in Regale sortiert. An einer anderen Stelle in der großen Lagerhalle auf dem ehemaligen Citroën-Gelände im Kölner Stadtteil Porz-Westhoven hakt ihr Kollege Christian Vollmann den nächsten Posten auf einem Bestellformular ab. Zuvor hat er eine Kiste Windeln zugeklebt, sie wird später auf Reisen gehen. Genau wie die anderen Bestellungen auch.
Bis unter die Decke stapeln sich in der Halle kistenweise Kosmetik- und Hygieneartikel. Auch Waschmittel, Bleistifte, Rucksäcke und sogar Fußballschuhe finden sich darunter. Normalerweise wären sie alle im Müll gelandet. Jetzt stehen sie im Lager der gemeinnützigen Gesellschaft Innatura.
Waren gegen kleine Gebühr
Diese hat Dr. Juliane Kronen gegründet. Die Entstehung klingt wie die Geschichte einer Soap-Opera – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn den Ausschlag gaben Shampoo-Flaschen. „Ein früherer Kollege rief mich 2009 an und sagte: Ich habe hier 200.000 Flaschen auf dem Hof stehen, falsch etikettiert, die Ware hundertprozentig in Ordnung, hast du einen Abnehmer dafür?", erinnert sich Kronen, die damals als Unternehmensberaterin bei einer der weltweit größten Beratungsgesellschaften tätig war. Bedingung: Die Ware musste schnell auf eigene Kosten abgeholt werden. Auch auf dem Schwarzmarkt durfte sie nicht auftauchen.
Die damals 46-Jährige telefonierte sich bei der Suche nach Abnehmern die Finger wund – erfolglos. Bei der Menge fehlte es an Logistik und Lagerkapazitäten. Die Flaschen landeten auf dem Müll. Sehr zum Ärger von Kronen. Sie überlegte, wie sie an dieser Verschwendung etwas ändern kann. Das Ergebnis ist Innatura.
„Jährlich werden in Deutschland fabrikneue Waren im Wert von rund sieben Milliarden Euro vernichtet", erzählt die heutige Geschäftsführerin. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Überproduktion, fehlerhafte Etikettierung, Sortimentswechsel, Aktionsware oder Füllmengenfehler. „Die Produkte selbst sind vollkommen in Ordnung", sagt Kronen. Zum Wegwerfen also viel zu schade.
Eigentlich. In der Praxis führt der Weg dieser Waren allerdings oft von der Produktion direkt in die Entsorgung. Wie zigtausend Babywindeln, die nach Ablauf einer Werbeaktion in einem bestimmten Design nicht mehr im Laden verkauft werden sollen. Oder Tausende Bleistifte, bei denen versehentlich der falsche Härtegrad angegeben wurde.
Und das war schon in „normalen" Jahren so. Mit dem Start der Corona-Krise im Frühjahr vergangenen Jahres ist Innatura um etwa 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gewachsen. „Wir konnten noch mehr Produkte – Marktwert sechs Millionen Euro – die fabrikneu und völlig einwandfrei, aber nicht verkäuflich sind, an noch mehr soziale Einrichtungen vermitteln, wo sie dringend benötigt werden", sagt Kronen. Ziel der promovierten Betriebswirtin ist es nicht nur, die Waren vor dem Müll zu bewahren, sondern dabei auch noch etwas Gutes zu tun.
Denn das Unternehmen sammelt die Produkte bei den Herstellern ein und vermittelt sie über eine Onlineplattform an soziale Einrichtungen und Organisationen weiter. Innatura ist dabei Treuhänder. Das heißt: Waren werden nicht verkauft, sondern vermittelt. Für die sozialen Einrichtungen und Organisationen fällt nur eine Vermittlungsgebühr an. Die beträgt fünf bis maximal 20 Prozent des günstigsten Marktpreises. Das spart Geld, das sie an anderer Stelle für ihre eigentliche Aufgabe verwenden können: die Unterstützung bedürftiger Menschen. Innatura deckt als gemeinnützige GmbH mit der Gebühr seine Betriebskosten, etwa Lagermiete, Logistik und IT, sowie die Personalkosten für zwölf Beschäftigte. Dazu kommen noch drei, die ehrenamtlich mitarbeiten.
Sieben Milliarden Produktwert vernichtet
Seit dem Start im Juli 2013 hat Innatura laut eigener Aussage Sachspenden im Wert von 26,2 Millionen Euro vermittelt und so 2.800 Tonnen Müll vermieden. Auf dem ersten Blick scheint das eine Win-win-Situation für alle zu sein, doch die Realität sieht anders aus. „In Deutschland ist es teurer zu spenden als wegzuwerfen", sagt Kronen. Denn Sachspenden an gemeinnützige Organisationen sind in Deutschland, anders als in Großbritannien etwa, nicht von der Umsatzsteuer befreit. Steuerlich werden sie behandelt wie verkaufte Ware. Das schreckt ab. Zwei von drei Unternehmen sehen deswegen von einer Spende ab und werfen die Ware auf den Müll, weiß Kronen.
So merkwürdig es sich anhört, aber hier hilft die Corona-Pandemie. Denn die Umsatzbesteuerung von Sachspenden von Einzelhändlern an steuerbegünstigte Organisationen fällt wegen der Pandemie bis zum 31. Dezember dieses Jahres weg. Erreicht hat dies das Bündnis #SpendenStattVernichten, dem Innatura angehört. „Wir erwarten hierdurch noch einmal steigende Spendenangebote", sagt Juliane Kronen. Innaturas Forderung, Spenden dauerhaft für Unternehmen in allen Stufen der Wertschöpfungskette zu befreien, bleibe aber weiter bestehen, so die promovierte Betriebswirtin.
Zum Ende des vergangenen Jahres waren es 150 Spenderunternehmen. Und auch die Zahl der sozialen Organisationen steigt. 5.000 haben sich derzeit bei Innatura registriert. 1.900 gemeinnützige Träger bestellen regelmäßig. Sie kommen aus ganz Deutschland, helfen Jung und Alt. Manchmal finden die Waren auch ihren Weg zu Hilfsprojekten ins Ausland.
Innatura überprüft, wo die Waren ankommen. Dort wird dann auch mal nachgehakt, warum eine Einrichtung für Kinder Rasierschaum für Männer bestellt. „Wie wir dann gelernt haben, eignet sich der bestens für Spiele und Bastelmöglichkeiten", sagt Kronen lächelnd. Nicht nur Innatura, sondern auch den Spendern sei es wichtig, dass die Waren nicht unter der Hand weiterverkauft werden. Da hilft es, wenn die sozialen Einrichtungen und Organisationen Fotos und Berichte schicken. „Das vermitteln wir auch den Spendern", sagt Kronen.
Das Angebot von Übermengen aus dem Lockdown hält unvermindert an. Vor allem Textilien werden Innatura angeboten – auch von Einzelhändlern. Aber für Innatura sind längst nicht alle Arten von Bekleidung vermittelbar. „Der soziale Sektor sucht robuste, funktionale Bekleidung, auch viel Kinderkleidung. Fashion eher weniger", weiß Geschäftsführerin Kronen. Auch werden jetzt in großen Mengen nicht-zertifizierte Masken und Desinfektionsmittel angeboten, nachdem der allgemeine Preisverfall hier eingesetzt hat – diese kommen natürlich nicht ins Sortiment.
Mittlerweile macht sich das durch Corona befeuerte Angebot im Lagerbestand bemerkbar. Deswegen steht derzeit ein Umzug innerhalb Kölns an. In Gremberghoven steht Innatura nun ein rund 2.400 Quadratmeter großes Lager zur Verfügung. Ab jetzt kann mehr vermittelt werden.