Leere Lager, monatelange Lieferzeiten: Die Pandemie wirbelt die Fahrradbranche 2021 weiter heftig durcheinander. Doch die Kunden bekommen die Auswirkungen stärker zu spüren als im Vorjahr – jetzt wird’s teurer.
Seit Jahren gab es in der Fahrradindustrie nur eine Richtung. Es ging nach oben – volle Lager, zufriedene Kunden. „Vor allem der E-Bike-Markt boomt, die Verkaufszahlen haben sich in den vergangenen zehn Jahren verzehnfacht", heißt es in der aktuellen „Branchenstudie Fahrradwirtschaft", die deutsche Fahrradverbände beim gemeinnützigen Wuppertal Institut in Auftrag gegeben haben.
Dann kam 2020 Corona und damit das Wechselspiel von Lockdown und Lockerung, das den Handel im März, dem klassischen Monat für den Saisonauftakt, zum Erliegen brachte, bevor die Läden von der Kundschaft überrannt wurden. „Im Lockdown war perfektes Wetter, die Leute haben ihre Liebe zum Fahrrad wiederentdeckt", sagt Frederic Rudolph, Co-Autor der Fahrradstudie.
In Zahlen bedeutete dieser Nachholeffekt für den Handel ein Umsatzwachstum von rund 30 Prozent allein im ersten Halbjahr 2020, hat der Verbund Service und Fahrrad (VSF) ermittelt. „Man konnte die gestiegene Nachfrage jedoch nicht ganz bedienen", sagt Geschäftsführer Uwe Wöll. Es gab Lieferverzögerungen und Lieferengpässe, die Lager der Hersteller aber waren im Frühjahr 2020 gut gefüllt. Bis zum Dezember waren sie immer wieder leer gefegt.
Doch 2021 startet anders. Eine zweite Corona-Welle erfasst die Branche, die Voraussetzungen sind mutiert. Denn die Lager sind zum Jahresbeginn immer noch leer. Der Großteil der Ware, die Großhändler und Hersteller lagern, ist bereits an die Händler raus. Der Nachschub ist ins Stocken geraten, bevor die Fahrradsaison beginnt. „Alle haben deutlich mehr vorgeordert, aber die Lieferbarkeit der vorgeorderten Räder sieht dramatisch aus", sagt Wöll. Und Andreas Krajewski von der Cycling Sports Group, die in Europa die Marken Cannondale und GT Bicycles vermarktet, fügt an: „Eine Rekordnachfrage trifft auf Rekordlieferengpässe – eine einmalige Situation."
Auch andere Hersteller klagen. Direktversender Rose Bikes bereitet seine Kundschaft auf „Verzögerungen bis zu sechs Monaten" vor. Grund für die exorbitanten Wartezeiten seien „fehlende, fix zugesagte Teile und Komponenten aus Asien für die Bike-Montage", teilt die Firma mit, die sich von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie förmlich überrollt sieht. Räder können nicht fertig montiert werden, wenn auch nur die Sattelstütze fehlt. Vor allem Verschleißteile wie Ketten, Bremsscheiben oder Ritzel sind kaum noch zu bekommen, sagt Dirk Zedler, der als Leiter eines Prüfinstituts gute Verbindungen in die Industrie hat. Der Weltmarktführer bei Fahrradkomponenten, Shimano mit Sitz in Japan, betreibt in Asien viele seiner Werke. Auch Fahrradrahmen kommen größtenteils aus China und Taiwan. Die produzierenden Firmen seien aufgrund der immensen Nachfrage schon 2020 an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen, erklärt Wöll.
Wartezeiten von über einem halben Jahr
Dass vorgeorderte Ware in Europa nicht ankommt, hat mit einem weiteren Nadelöhr beim Transport zu tun. Überseecontainer, in denen Fahrradteile, Rahmen und Räder nach Europa verschifft werden, sind Mangelware: „Die Logistikkette ist zusammengebrochen. Container, Luftfracht – all das ist eingebrochen", sagt der VSF-Geschäftsführer. Für die Verschiffung in einem Container aus Fernost zahle man gegenüber Anfang 2020 mittlerweile das Siebenfache, teils ist vom 15-fachen die Rede. „Corona hat die Abhängigkeit von Asien gezeigt", sagt David Eisenberger, Sprecher des Zweirad-Industrie-Verbandes (ZIV).
Mit anderen Worten: Wer jetzt sein Wunschrad in der richtigen Rahmengröße mit der gewollten Ausstattung kaufen möchte, wird beim Händler nur mit Glück fündig. Am besten sollten Kunden sich frühzeitig umschauen, sagt Forscher Rudolph vom Wuppertal Institut – „bevor zu viele Kunden mit steigenden Temperaturen auf die gleiche Idee kommen." Im Lockdown sind die Einkaufsmöglichkeiten für den Endkunden allerdings noch eingeschränkt. Online bestellen, das geht zwar jederzeit, aber die Fahrradhändler durften im Laden nichts verkaufen, Kunden können Räder höchstens an der Werkstatttür kontaktlos abholen. Georg Honkomp, Vorstandsvorsitzender der Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG), nach eigenen Angaben Europas größter Zusammenschluss von Fachhändlern, zu dem auch Marken wie Kettler Alu-Rad, Hercules oder Flyer gehören, hofft auf baldige Öffnungsstrategien.
Von gerissenen Lieferketten will Honkomp indes nichts wissen, schon im März 2020 habe man im großen Stil bestellt. „Im Grunde kann der Kunde derzeit alles kaufen." Doch auch er räumt ein, dass es bei beliebter Ware zu längeren Wartezeiten komme – zum Beispiel Gravelbikes seien so „ein Thema". Die überproportional gestiegene Nachfrage nach diesen Rädern sei nicht vorhersehbar gewesen. Auch wer über die Produktseiten großer Direktvermarkter surft, bekommt diesen Eindruck bestätigt. So gibt Canyon dort als frühesten Versandtermin für sein beliebtes Einsteiger-Gravelbike in gängigen Größen den September an. Kurzum: „Was im Handel ist, kann gekauft werden. Was im Katalog ist, nicht zwingend", sagt Zedler.
Geduld ist gefragt beim Kunden, aber auch ein dickeres Portemonnaie – die Fahrradpreise klettern coronabedingt. Und die üblichen Spätsommer-Rabatte, die die Preise purzeln lassen, wenn die Händler ihre Lager leeren, kann man sich sowieso abschminken. Nicht nur Transportkosten sind gestiegen, auch Material ist teurer geworden, berichtet Krajewski. Aluminium und Stahl, mit dem Rahmen und Teile gefertigt werden, hätten deutlich angezogen. Auch Gummi als Rohstoff für Reifen.
Hohe Preise könnten dauerhaft bleiben
Während Krajewski die Preissteigerung bei Cannondale und GT Bicycles mit „sieben bis neun Prozent" angibt, hat die ZEG die Preise seiner Fahrräder um 50 bis 100 Euro erhöht. Andere große Hersteller, allen voran Derby Cycle mit Marken wie Focus, Kalkhoff und Cervélo oder die Winora Group, lassen konkrete Anfragen nach aktuellen Preiserhöhungen unbeantwortet. VSF-Geschäftsführer Wöll geht branchenweit von um die zehn Prozent aus, hat aber auch schon von 20 Prozent Aufschlag gehört. Derweil könnte sich die Nachfrage nach Fahrrädern zum Sommer verschärfen, wenn wieder viele Deutsche womöglich ihren Urlaub hierzulande verbringen und für Radreisen in den Sattel steigen, schätzt Mobilitätsforscher Rudolph.
Wie sich die wirtschaftliche Lage der Branche insgesamt entwickelt, solche Prognosen wagt in unberechenbaren Zeiten kaum ein Experte. Rose Bikes rechnet nach dem Boom-Jahr 2020 mit einem Umsatzausfall im größeren einstelligen Millionenbereich. Dass die Branche einen so hohen Umsatz wie im Vorjahr erzielt, hält Wöll für ein ambitioniertes Ziel. Er erwartet nicht, dass Hersteller und Großhändler ihre Lager wieder auffüllen können. Was dort noch ankomme, werde direkt in den Handel durchgereicht. Und er hat eine Befürchtung: dass die Preise, die nur durch krisenbegründete „Sonderbedingungen" entstanden seien, stillschweigend beibehalten würden, auch wenn sich die Lieferumstände und Materialkosten wieder normalisierten.
Wer im Corona-Strudel weder lange Lieferzeiten noch das Preisspiralen-Spiel mitmachen möchte, dem empfiehlt Forscher Rudolph eine „Alternativstrategie": „Lassen Sie doch ihr altes Fahrrad aufrüsten." Bremse nachziehen, neue Schläuche drauf, und schon habe man ein Fahrrad für die Saison, mit dem man die weitere Entwicklung abwarten könne. Genug Material gäbe es. Der Bestand in deutschen Haushalten wird auf mehr als 75 Millionen Fahrräder geschätzt.