Er traf Fidel Castro, sprach mit Gina Lollobrigida und frühstückte mit der Queen. Juri Gagarin, der erste Mensch im All, eroberte die Welt im Sturm. Auch, wenn er eigentlich etwas ganz anderes wollte.
Das Leben von Juri Gagarin endet abrupt, mit gerade mal 34 Jahren. Der erste Mensch im Weltall und größte Held der Sowjetunion verunglückt bei einem Testflug zusammen mit seinem Ausbilder Wladimir Serjogin. Die Nachricht über den tragischen Tod des Mannes, der mit seinem Blick auf die Erde den Ausdruck „Blauer Planet" prägte, verbreitet sich wie ein Lauffeuer und stürzt das ganze Land in eine tiefe Trauer. Hunderttausende Menschen aus allen Regionen der UdSSR machen sich auf den langen Weg nach Moskau, um von ihrem Idol Abschied zu nehmen. Zum ersten und einzigen Mal in der Geschichte der Sowjetunion wird Staatstrauer für eine Person ausgerufen, die kein Staatsoberhaupt gewesen ist.
Zu seinen Lebzeiten stieg Gagarin in den Dienstgrad eines Oberst auf. Bestattet wurde der Nationalheld jedoch von einer Ehrengarde aus Marschällen und weiteren hochrangigen Militärführern. Bei der Beisetzung wurden die Urnen mit den Überresten persönlich vom Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Leonid Breschnew, und dem Regierungschef der UdSSR, Alexei Kosygin, zum Roten Platz getragen. Dem Ort, an dem Juri Gagarin knapp sieben Jahre zuvor für seinen historischen Flug um die Erde geehrt worden war. Die Aufnahmen aus dieser Zeit zeigen den strahlenden 27-jährigen Kosmonauten, der nach seiner erfolgreich abgeschlossenen Mission leichtfüßig den damaligen Regierungschef der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, ansteuert.
Doch etwas scheint an der Silhouette des 1,57 Meter großen Gagarin nicht zu stimmen. Aus dem rechten Hosenbein, knapp über dem frischgeputztem Lackschuh, blitzt immer wieder eine Schnur hervor. Etwa ein widerspenstiger Schnürsenkel, der gerade aufgegangen ist? Oder vielleicht sogar eine getragene Socke, die der Kosmonaut vor lauter Aufregung um seine Ehrung in seinem Hosenbein vergessen hat? „Weder noch", erzählt Sergej Chruschtschow, Sohn des ehemaligen Staatsoberhaupts der Sowjetunion, später in einem Interview der BBC. Es handelte sich um einen Sockenhalter, der Gagarin vom Bein gerutscht sein soll. Eine kleine Episode mit einer großen Wirkung. „Gerade diese kleine Unachtsamkeit machte Gagarin so nahbar und menschlich", gab Chruschtschow die Meinung zahlreicher Russen wieder. „Juri Gagarin, das ist doch einer von uns."
Der letzte Flug des Kosmonauten dauerte knapp 13 Minuten. Dann stürzte er rund 65 Kilometer vom Startpunkt entfernt in der Ortschaft Novoselovo, in der Nähe von Moskau, ab. Mit an Bord des zerstörten Jets war sein Flugausbilder und Regimentskommandeur Wladimir Serjogin, ein erfahrener, aktiver Kriegspilot mit mehr als 4.000 Flugstunden. Auch das Jagdflugzeug MiG-15UTI, das Gagarin bei seinem Testflug gesteuert hatte, galt aufgrund der geringen Absturzquote als das sicherste Kampfflugzeug der damaligen Zeit. Was also war passiert?
Die Gründe für den tragischen Absturz der Maschine blieben lange unter Verschluss. Erst im April 2011 – 43 Jahre nach dem Tod des Kosmonauten – wurden die geheim gehaltenen Untersuchungsberichte, die immer noch für viel Gesprächsstoff sorgen, auf Wunsch des russischen Regierungschefs Wladimir Putin zum 50. Jubiläum des ersten bemannten Raumfluges vollständig freigegeben. Daraus ist zu entnehmen, dass der Absturz durch ein radikales Flugmanöver seitens Juri Gagarin oder Wladimir Serjogin verursacht wurde. Um eine Kollision mit einem plötzlich aufgetauchten Wetterballon zu vermeiden, manövrierte einer der beiden Männer die Maschine in eine kritische Flugposition. Dabei verlor der Jet an Höhe, geriet in eine Abwärtsspirale und bohrte sich nach einem rasanten Sinkflug vier Meter tief in die Erde.
Für einen Platz am Industrietechnikum musste Gagarin lügen
Neu waren die Probleme mit der Steuerung von Flugzeugen für Gagarin nicht. Das zeigte sich schon 1955, als der 21-Jährige den Luftstreitkräften beitrat und in der Fliegerschule in Orenburg aufgenommen wurde. Im Gegensatz zu seinen Kameraden hatte der spätere Kosmonaut Schwierigkeiten, den Jet gerade zu halten und zu landen. Doch der aufstrebende Pilot biss sich durch. „In solchen Momenten, wenn es wirklich schwer war, zitierte er gerne die Worte des sowjetischen Piloten Waleri Pawlowitsch, die er irgendwann aufgeschnappt hat", erzählt seine Tochter Jelena Gagarin. „‚Wenn du dabei bist, dann sei Erster‘ – das war sein Motto. Danach hat er gelebt."
Tatsächlich gab es in der Kindheit von Juri Gagarin keine großen Anzeichen für eine steile Karriere des späteren Weltraumeroberers. Ganz im Gegenteil. Der erste Raumfahrer des Planeten wurde am 9. März 1934 in der Stadt Gzhatsk – seit 1968 trägt die Stadt den Namen Gagarin – in die Familie eines Kollektivbauern und einer Melkerin hineingeboren. „Meine Familie war eine gewöhnliche Arbeiterfamilie", schrieb Gagarin später in seiner propagandistisch angehauchten Biografie. „Sie unterscheidet sich nicht von Millionen anderer Familien unseres Vaterlandes." Neben dem großen Bruder Walentin hatte Juri zwei jüngere Geschwister, Bruder Boris und Schwester Soja. Anfang 1943 wurden die beiden jüngsten Kinder der Familie zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt und kehrten erst nach dem Ende des Krieges zur Familie zurück. Die restlichen Familienmitglieder wurden von den Soldaten aus ihrem Haus vertrieben und zogen in eine selbstgebaute Erdhütte. Die Notunterkunft hatte weder einen richtigen Boden noch genügend Platz, um sich richtig auszustrecken. „Mein Bruder und ich sind immer mit dem Kopf an die Decke gestoßen", erzählt der spätere Kosmonaut in seiner Biografie. Der Teil mit den verschleppten Geschwistern kommt in seinem Buch dagegen nicht vor. Grund war das strenge Sowjet-Regime der UdSSR. Jeder, der sich verschleppen ließ, galt als Volksverräter und wurde auf Stalins Befehl gleich nach seiner Rückkehr in ein Arbeitslager abtransportiert.
Nach der Schule, die Juri aufgrund des Krieges nur sporadisch besuchen konnte, begann er eine Fachausbildung zum Gießer. Um anschließend ein Industrietechnikum besuchen zu können, schwindelte Gagarin beim Antrag auf einen Studienplatz und gab seinen Vater als einen Kriegsinvaliden aus. Das Schicksal seiner jüngeren Geschwister verschwieg er gänzlich, um seine Bewerbung nicht zu gefährden. Der Plan ging auf und Gagarin schloss das Technikum von Saratow mit einem Diplom als Gießtechniker ab. Seine Schulkameraden beschrieben den späteren Weltallpionier als einen vielseitigen, sehr ambitionierten jungen Mann. So liebte Gagarin alle Sportarten und führte sogar als Kapitän einer Basketballmannschaft sein Team zum Sieg. Er konnte aber auch sehr pedantisch werden. Vor allem, wenn er gegen die allgemeineren Regeln verstoßen hatte. So wurde er einmal „von uns beinah aufgemischt, als er darauf beharrte, dass wir trotz der fehlenden Aufsicht in der Gießerei weiterarbeiten sollten", erinnert sich Andrej, der neben Juri Gagarin als Gießertechniker gearbeitet hat.
Als er seine spätere Frau, die Ärztin Walentina, bei einem Tanzabend kennenlernte, war Gagarin schon in der Armee in Orenburg. Die junge Frau mit den brünetten Locken sagte Gagarin auf Anhieb zu. Das Paar verliebte sich, heiratete und bekam zwei Töchter: Jelena und Galina.
Mit dem Machtwechsel wurde Gagarin obsolet
Nach seinem historischen Flug um die Erde sollte Gagarin nicht mehr fliegen. Nikita Chruschtschow wollte den charmanten Helden keinen Gefahren mehr aussetzen. Vielmehr sollte er nun der Staatspropaganda der Sowjetunion dienen und als „Botschafter des Friedens" auch den Westen mit seinem Markenzeichen, dem strahlenden Gagarin-Lächeln, verzaubern. Die Strategie ging auf. In dieser Zeit traf sich Gagarin mit Fidel Catsro, besuchte die italienische Schauspielerin Gina Lollobrigida und frühstückte mit der Queen. Vor allem über die letzte Begegnung kursieren viele Anekdoten. Etwa die Geschichte, dass Gagarin nicht mit der Vielzahl an Besteck am königlichen Tisch zurechtkam und mit den Fingern gegessen haben soll. Diese Spontanität soll die Monarchin so entzückt haben, dass sie ebenfalls auf ihr Besteck verzichtete. Die andere Geschichte ist noch intimer. So habe Gagarin seine Hand auf das Knie der Königin von England gelegt, ohne diese gleich weggeschlagen zu bekommen, heißt es. Wahrheit oder Fiktion – wer weiß?
Mit dem Machtwechsel in der Sowjetunion und der Absetzung Chruschtschows endete auch die „Friedensmission" von Gagarin. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger griff Breschnew das Wettrüsten wieder auf. Gagarin war für ihn nicht mehr vonnöten. Aber auch der Held der Sowjetunion hatte sich zwischenzeitlich verändert. Fehlende Disziplin und die langen Reisen boten Gagarin viele Möglichkeiten. Er fing an zu trinken und sorgte mit Frauengeschichten für viele negative Schlagzeilen. So sei die spätere Narbe auf seinem Gesicht angeblich daher gekommen, dass er aus dem Fenster springen musste, um nicht bei einer seiner weiblichen Bekannten erwischt zu werden.
Um sich wieder zu fangen und das Familienglück nicht weiter zu belasten, bewarb sich Gagarin auf eine neue Weltraummission und wurde 1967 als Ersatzpilot für Wladmir Komarow beim Flug von Sojus 1 vorgesehen. Der Flug endete tragisch. Kosmonaut und Ingenieur-Oberst Komarow starb beim Aufprall seiner Raumkapsel auf die Erde, weil sich der Rettungsfallschirm nicht öffnete. Er war der erste Mensch, der bei einer Weltraummission ums Leben kam. Ein Jahr später wurde Gagarin zum Ausbilder der Kosmonauten ernannt, doch bevor er diesen Posten antrat, wollte er noch seine Ausbildung zum Kampfpiloten zu Ende bringen. Nur einen Monat nach seiner Ernennung zum Kosmonauten-Ausbilder verunglückte der Held der Sowjetunion dabei wie geschildert tödlich.