Während die Bäder für den Breitensport geschlossen bleiben, dürfen die Leistungsschwimmer im April wieder ihre Bahnen ziehen. Der Kampf um die Olympia-Tickets ist eröffnet.
Auch Leistungssportler sind vor dem Lockdown-Koller nicht sicher. Die beiden Schwimmstars Sarah Köhler und Florian Wellbrock, die als Paar zusammen in Magdeburg wohnen, sind wegen der Langeweile sogar buchstäblich auf den Hund gekommen. „Kojak" heißt die französische Bulldogge, die sich die frisch Verlobten angeschafft haben. „Ich bin von der Spielekonsole weggekommen", sagte Wellbrock. „Ich lerne vollkommen andere, vor allem ländliche Gegenden in der Umgebung von Magdeburg kennen, die ich vorher nie gesehen habe." Die Idee für den Hund hatte seine Freundin, die genau den richtigen Zeitpunkt für den Vorschlag auswählte. „Ich wollte schon immer einen Hund und habe meinen Freund bequatscht: ‚Okay, jetzt haben wir Zeit, warum nicht jetzt?‘" Da konnte Wellbrock wirklich nicht mehr Nein sagen. Denn nahezu der komplette Wettkampfkalender der Schwimmer ist seit einem Jahr durch Corona weggebrochen – inklusive die für den vergangenen Sommer geplanten Olympischen Spiele in Tokio. Daraufhin habe er „ein bisschen Liebeskummer" gehabt, gab Doppel-Weltmeister Wellbrock zu.
Olympia findet nun in diesem August statt, daran lassen die IOC-Verantwortlichen trotz der aktuellen dritten Corona-Welle keine Zweifel. Und die Motivation ist bei Wellbrock und Köhler ungebrochen. „Sie ist sogar dadurch noch gestiegen, dass man nun ein Jahr länger warten muss. Der Nervenkitzel ist noch größer", sagte Wellbrock (23), und seine drei Jahre ältere Freundin ergänzte: „Man hat ein Jahr mehr Zeit, um sich noch besser vorzubereiten und noch fitter zu sein."
Nahezu alle Wettkämpfe sind ausgefallen
Wellbrock und Köhler, die bei den Weltmeisterschaften 2019 in Südkorea Staffelgold im Freiwasser und Silber über 1.500 Meter Freistil gewann, sind zwei von insgesamt acht deutschen Schwimmern, die ihr Tokio-Ticket schon vor April 2021 in den Taschen hatten. Dazu zählen auch die WM-Vierten Franziska Hentke und Philip Heintz sowie die Normerfüller Marco Koch, Laura Riedemann, Marius Kusch und Jacob Heidtmann. Alle anderen müssen sich im Qualifikationszeitraum vom 1. bis zum 18. April die erforderlichen Normzeiten für die maximal zwei Startplätze der 28 Einzeldisziplinen und für die sieben Staffeln nachweisen. Der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) bietet dafür vier Wettkämpfe: in Heidelberg (3./4. April), in Magdeburg (10./11. April), Dortmund (17./18. April) und zum Abschluss in Berlin (16. bis 18. April).
„Wir freuen uns, dass es endlich losgeht, und erhoffen uns im April natürlich auch viele Topleistungen", sagte Teamcoach Hannes Vitense. „Es war lange genug Zeit, sich in Stellung zu bringen. Jetzt kommt es zum Showdown." Aber sich großartig in anderen Wettbewerben einschwimmen konnten die Athleten nicht, für die meisten ist es ein Kaltstart ins Ungewisse. So wie für Isabel Gose. Die 18-Jährige gilt als hoffnungsvollstes Talent im deutschen Schwimmsport, bei der Junioren-EM 2019 in Kazan war sie zu gleich fünf Goldmedaillen gekrault. Im selben Jahr gelang ihr bei der Kurzbahn-EM in Glasgow mit Silber über 400 Meter auch der internationale Durchbruch im Seniorenbereich. Mit dem Wechsel vom Bundesstützpunkt Heidelberg nach Magdeburg im vergangenen Jahr erhofft sich Gose noch mal einen Leistungsschub, schließlich darf sie hier in einer Gruppe mit den Top-Schwimmern Wellbrock, Köhler und Hentke trainieren. Heimtrainer Bernd Berkhahn, der zugleich Teamchef der Nationalschwimmer ist, soll Gose zu einer weiteren Medaillenhoffnung bei großen Wettbewerben formen.
Der Wechsel nach Magdeburg hatte auch familiäre Gründe. „In Heidelberg hat mir der Ruhepol gefehlt", sagte Gose der „Magdeburger Volksstimme". „Ich habe das große Bedürfnis verspürt, wieder nach Hause zu kommen." Im märkischen Osterburg, nahe Magdeburg, wohnen ihre Eltern und ihr Bruder. Und beim SCM trainiert auch ihre beste Freundin Pia-Sophie Berndt, mit der sie in ihrer neuen Heimat eine Wohngemeinschaft gegründet hat. Am Ende soll sich der Wechsel auch sportlich auszahlen, das Olympia-Ticket ist Goses erstes Ziel. Die Verschiebung der Sommerspiele habe sich für sie wie „ein Schlag ins Gesicht angefühlt", verriet die Deutsche Meisterin. Sie habe „lange auf diesen Traum hingearbeitet" und sich vor einem Jahr in der Form ihres Lebens gewähnt. „Ich habe mich wieder aufgerappelt", sagt sie heute, „denn es ist ja nichts vorbei".
„Ich habe mich wieder aufgerappelt"
Damit künftig mehr Toptalente wie Gose auftauchen, hat der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) Jacco Verhaeren unter Vertrag genommen. Der Niederländer, der in seiner Heimat unter anderem Pieter van den Hoogenband, Ranomi Kromowidjojo und Inge de Bruin zu Olympiasiegern geformt hat, ist seit Anfang des Jahres in das Bundestrainer-Team um Vitense und Berkhahn eingebunden. Gefragt ist vor allem seine Expertise in der Nachwuchsarbeit, zudem soll der anerkannte Experte ein neues Leistungskonzept für die Kurzstrecken von 50 bis 200 Meter erarbeiten und an den Bundesstützpunkten umsetzen. Denn in den Sprintdisziplinen hat Deutschland den Anschluss an die Weltspitze deutlich verloren. Verhaeren sei „fraglos einer der namhaftesten Coaches unserer Zeit", freute sich Vitense auf die Zusammenarbeit. Zuletzt war der Niederländer Cheftrainer des australischen Nationalteams, doch dort wurde sein Vertrag im September 2020 nicht verlängert. Verhaeren wollte in der Corona-Pandemie zurück nach Europa – und der DSV nutzte die Gunst der Stunde. Verhaeren bat um etwas Eingewöhnungszeit, „denn natürlich ist Deutschland nicht die Niederlande und erst recht nicht Australien", sagte er der Tageszeitung „Die Welt". „Wir wollen nichts kopieren, so etwas funktioniert nie." Sein Konzept brauche „eine deutsche Identität" – und dafür wolle er möglichst alle Heimtrainer mit ins Boot holen: „Kommunikation ist der Schlüssel."
An der Kommunikation haperte es in den vergangenen Jahren aber regelmäßig, egal wie der Bundestrainer hieß und welche Ideen er verfolgte. In der Regel scheiterte fast jedes Konzept an der Umsetzung in den Stützpunkten, weil die Heimtrainer ihr eigenes Süppchen kochten. In der aktuellen Konstellation mit dem Bundestrainer-Team schenkt der DSV den Coaches vor Ort im Leistungsbereich viel Eigenverantwortung. Sollten die Ergebnisse zum Beispiel in der Olympia-Qualifikation aber nicht stimmen, würde kein Bundestrainer mehr den Kopf für Dinge hinhalten, die er aufgrund eingeschränkter Befugnisse gar nicht beeinflussen konnte.
Große Unruhe kam vor dem Re-Start durch eine andere Sache auf. Ein „Spiegel"-Bericht offenbarte Missbrauchsvorwürfe im Verband, die hohe Wellen schlugen. Das Magazin hatte mehrere Fälle dokumentiert, bei denen der ehemalige Freiwasser-Bundestrainer Stefan Lurz Athletinnen sexuell bedrängt oder genötigt haben soll. Die Staatsanwaltschaft hat von Amts wegen Ermittlungen aufgenommen. Der DSV beurlaubte Lurz in einer ersten Reaktion – und entschuldigte sich bei den Mitgliedern. „Nach unserem derzeitigen Erkenntnisstand sind in der Vergangenheit offenbar nicht immer alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen worden, um potenzielle Opfer und damit auch alle anderen Aktiven, darunter viele Schutzbefohlene, zu schützen", sagte Verbands-Präsident Marco Troll. Er wolle sich „deshalb aufrichtig bei all diesen Personen im Namen des gesamten Verbandes entschuldigen." Die DSV-Athletensprecher Köhler und Tobias Preuß (Wasserball) forderten in einem offenen Brief „eine vollumfängliche und unabhängige Aufklärung jeglicher Verdächtigungen seitens der Justiz und des DSV". Außerdem ermutigten sie potenzielle Opfer mit eindringlichen Worten, sich bei den verbandsinternen oder behördlichen Stellen zu melden: „Schweigen schützt die Falschen!"
„Schweigen schützt die Falschen"
Für Köhler ist ein Engagement in dieser Sache selbstverständlich. Sie studiert Jura, im kommenden Jahr hat sie ihr erstes Staatsexamen geplant. Schon im Alter von 15 Jahren war in ihr dieser Berufswunsch gereift, „vielleicht weil mich der Gerechtigkeitssinn dazu verleitet hat". Köhler treiben mehr Dinge um als nur der noch schnellere Armzug oder die technisch noch bessere Wende. Die zunehmende Anzahl an Nicht-Schwimmern sei zum Beispiel „alarmierend". Der besorgniserregende Trend wurde durch den monatelangen Lockdown in der Corona-Pandemie nochmals verschärft. Laut Schätzungen der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) sind im Jahr 2020 bundesweit eine Million Kinder nicht zu sicheren Schwimmern ausgebildet worden. Auch deshalb hatte der DSV kürzlich einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel und einige Ministerpräsidenten geschrieben, in dem vor den langfristigen Folgen des Lockdowns insbesondere für das Schwimmen gewarnt wurde. Die dauerhafte Schließung der Schwimmbäder sei auch aus wissenschaftlicher Sicht unbegründet, argumentiert der DSV und verweist auf Studien, die belegen sollen, dass das Ansteckungsrisiko in Schwimmhallen nicht größer sei als im heimischen Wohnzimmer oder in der Schule.
Doch für den Breitensport bleiben die Bäder vorerst geschlossen, einzig die Leistungsschwimmer dürfen im April bei Wettkämpfen wieder ihre Bahnen ziehen, um sich ihren Traum von Olympia zu erfüllen. Wellbrock und Köhler sind dann sicher dabei, auf die Unterstützung ihrer Eltern müssen sie aber verzichten: Die Sommerspiele finden ohne ausländische Zuschauer statt. Aber zumindest haben die beiden deutschen Medaillen-Hoffnungen dann jemanden, der in der Zeit auf ihren Hund Kojak aufpasst.