Öffnen, zulassen, Ausgangssperren, Modellregionen – Der Kampf gegen die dritte Welle der Pandemie hat viele Gesichter. Auch nach mehr als einem Jahr gibt es nicht die eine klare Strategie zu einem Leben mit dem Virus.
Kurz vor Ostern hat eine neue Diskussion Fahrt aufgenommen. Modellprojekte landauf, landab sollen den Einstieg in mehr Normalität bringen. Die Debatten darum spielen auf vielen Ebenen. Und das Vertrackte ist, dass sie nicht säuberlich zu trennen sind, ganz im Gegenteil. Strategien zur Eindämmung einer drohenden explosionsartigen Entwicklung gehören ebenso dazu wie eher psychologische Aspekte angesichts einer pandemiemüden und immer ungeduldigeren Bevölkerung, bei der ebenso viele schnelle Öffnungen fordern wie umgekehrt härtere Lockdown-Maßnahmen. Es geht um Deutungshoheiten und Kompetenzen und nicht zuletzt, ein halbes Jahr vor der Wahl, um mediale Aufmerksamkeit. Der „Brückenlockdown"-Vorschlag von CDU-Chef Armin Laschet mag dzau gehören, allerdings werden auch Experten nicht müde, vor Öffnungen zu warnen.
In der dritten Welle, die nicht nur die Kanzlerin angesichts der Mutationen als eigentlich neue Pandemie-Welle einordnet, hat die kurzfristige Erfindung der „Osterruhe" mit all den Folgen der vergleichsweise spektakulären Rücknahme für eine Zäsur in der Pandemie-Politik gesorgt. Zumindest hat die Erkenntnis Raum gegriffen, dass das bisherige Vorgehen deutliche Grenzen erreicht hat. Nur: Wie weiter?
Es geht um mediale Aufmerksamkeit
In dieser Situation hat das Saarland auf sich aufmerksam gemacht, ein Land, dessen Situation für ziemlich vieles in der Diskussion exemplarisch herhalten kann. Die Kurzchronologie der zwei Wochen vor Ostern spannt den Bogen von den Sorgenfalten von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bis zur Verkündung der Modellregion durch Ministerpräsident Tobias Hans (beide CDU). Spahn hatte das kleine Bundesland wegen seiner Nähe zum Hochinzidenzgebiet, dem französischen Departement Moselle (mit Inzidenzwerten von über 300, geprägt insbesondere von der südafrikanischen Mutation) im Blick. Deshalb erhielt das Saarland die Zusage für zusätzliche 80.000 Impfdosen. Das Land selbst hatte zu dieser Zeit Inzidenzwerte von um die 60, also weit unter der Bundesentwicklung und nur ein Fünftel im Vergleich zu den französischen Nachbarn.
Ministerpräsident Hans hatte sich zunächst angesichts der Entwicklung für Maßnahmen zur Begrenzung ausgesprochen, die in der legendären Nachtsitzung verabredete „Osterruhe" als „kraftvollen Beitrag" für eine „gesamtgesellschaftliche solidarische Kraftanstrengung" bezeichnet. Zugleich ließ er da aber auch schon einen „Systemwechsel" anklingen.
Es folgte die Entschuldigung der Kanzlerin samt Rücknahme der Osterruhe und danach Hans’ Präsentation des „Saarland-Modells": Lockerungen nach Ostern für Kultur, Sport und Außengastronomie, geknüpft an tagesaktuelle Negativtests. Die massive Kritik an dieser Ankündigung folgte auf den Fuß. Experten, die bereits zuvor vor exponentieller Ausbreitung gewarnt hatten, liefen Sturm, im politischen Raum herrschte Unverständnis, wieso ein Land mit Sonderration von Impfdosen aufgrund der Gefährdungslage Derartiges plant.
Trotzdem erscheint es im Nachhinein fast wie eine Initialzündung für eine ganze Reihe von „Modellen" quer durch die Republik. Allerdings hatte es Derartiges schon lange vorher gegeben, auf kommunaler Ebene. Dafür stehen vor allem Tübingen, Rostock und Böblingen. Während Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen)erst heftig für sein „Tübinger Modell" attackiert wurde, avancierte er zum gern gesehenen Interview- und Talkgast, ständig erklärend, wie er sein Modell durchgezogen hat. Der Erfolg gab ihm zunächst Recht – bis zuletzt auch in Tübingen die Inzidenz von ehedem 25 auf über 75 stieg und für entsprechende Fragen über die langfristige Tauglichkeit des Modells sorgte. Vor Ostern zog Palmer insofern die Reißleine, als er keine Tageskarten (mit negativen Tests) für auswärtige Gäste mehr ausgeben wollte. Auch Rheinland-Pfalz kennt schon länger ein „Rheinland-Pfalz-Modell", für das sich Kommunen mit Inzidenzwerten von unter 50 bewerben können. Thüringen und Sachsen zählen schon länger zu den Ländern, die kommunale Modellprojekte zulassen.
„Testen alleine mit Öffnen wird das Problem nicht lösen"
Was bei dem „Osterruhe"-Treffen zwischen Bund und Ländern zunächst wenig Beachtung fand, war der Beschluss zur Möglichkeit „zeitlich befristeter Modellprojekte". Davon soll nun zahlreich Gebrauch gemacht werden. Das Tübinger Modell mit Tagesticket wurde trotz Bedenken erst mal bis Mitte April verlängert, Rostock mit ähnlichem Testmodell lässt zum Profi-Fußballspiel Fans ins Stadion. In NRW können Kommunen Allgemeinverfügungen mit Öffnungsregeln absegnen lassen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) spricht von einem „Tübingen plus"-Modell für Kommunen.
Bei allen ist zwar von der 100er-Grenze die Rede, aber in Nordrhein-Westfalen sind Ausnahmen bekannt, und im Saarland war schon mal die Rede davon, es gehe nicht um „punktgenaue" Einhaltung, sondern um „sichere Korridore".
Deutschland macht jedenfalls zu Ostern den Eindruck, als wolle es jetzt Schnelltest-Weltmeister werden, denn alle Modelle sind an negative Tests (höchstens 24 Stunden alt) gekoppelt, die Öffnungen können und sollen zum Testenlassen motivieren.
„Testen alleine mit Öffnen wird das Problem nicht lösen", warnt dagegen die Kanzlerin. Und steht damit nicht allein. Das prominente Beispiel Tübingen mit wieder deutlich gestiegenen Zahlen ist ein Beleg für die Warnung. Im Saarland hielt unter anderem Thorsten Lehr einen Modellprojektstart zu diesem Zeitpunkt für „sehr schwierig". Der Homburger Professor ist bundesweit bekannt geworden durch die Entwicklung eines Covid-19-Simulators. Intensivmediziner warnen eindringlich vor Öffnungen bei der jetzigen Entwicklung, die deutschen Amtsärzte fordern gemeinsam mit dem Virologen Drosten einen konsequenten Lockdown gegen die dritte Welle der Pandemie. Eine Onlinepetition gegen Lockerung und für einen Lockdown fand innerhalb von wenigen Tagen bereits über 80.000 Unterstützer. Allerdings gibt es auch gegenteilige Petitionen mit großer Unterstützung.
Gleichzeitig ist das Bemühen um eine Aufholjagd beim Impfen zurückgeworfen worden, als gerade der Eindruck entstand, dass Fahrt aufgenommen wird, wofür symbolisch etwa das Impfzentrum der Bundeswehr im saarländischen Lebach steht, das als Erstes bundesweit in einen 24-Stunden-Betrieb gegangen ist.
Mit einer Quote von zuletzt 13 Prozent bei den Erstimpfungen lag Deutschland zwar deutlich hinter den viel zitierten Israel, USA und Großbritannien, aber in etwa im Geleitzug großer europäischer Nachbarn Frankreich (14,7), Italien (12,8), Spanien (11,7) oder Österreich (15,4). Quelle: Euronews nach Regierungsangaben Stand Ende März)
Inzwischen ist mit dem Wirkstoff von Johnson und Johnson ein weiterer Impfstoff in der EU zugelassen (der russische Sputnik V ist beantragt). Wo es bei der Impfstoffentwicklung in einem bislang nie gekannten Tempo voranging, zieht es sich bei der Medikamentenentwicklung noch hin. Hauptgrund ist offenbar, dass zwar die Impfstoffentwicklung mit Milliardenunterstützung vorangehen konnte, es aber große Zögerlichkeit bei der Medikamentenentwicklung gibt. Die EU hat nach Remdesivir und Dexamathason auch Regn-Cov-2 zugelassen. Geforscht wird derzeit weltweit an etwa 150 Wirkstoffen und Kombinationen. Allerdings sind Krankheiten, die durch Viren ausgelöst sind, medikamentös nur schwer behandelbar. Auch das ein Argument, um alles zur Eindämmung nötige zu unternehmen – und das Impfen voranzutreiben.