Der sich aufheizende Ukraine-Konflikt ist eine Prüfung für den US-Präsidenten
Lange Zeit köchelte der Konflikt in der Ostukraine auf kleiner Flamme. An der sogenannten „Kontaktlinie" zwischen prorussischen Separatisten und Truppen der Regierung in Kiew wurde die Waffenruhe zwar immer wieder gebrochen. Aber es kam nicht zur großen Eskalation. Moskau schürte einen niedrigschwelligen Konflikt im Donbass, um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu schwächen und eine Annäherung seines Landes an EU und Nato zu verhindern, war die Lesart im Westen.
Das hat sich nun geändert – und dies gibt Anlass zur Sorge. Zum einen nahm der Beschuss entlang der „Kontaktlinie" auf beiden Seiten zu. Zum anderen lösten Berichte von einer massiven russischen Truppenverstärkung im Grenzgebiet zur Ukraine und auf der Krim heftige diplomatische Reaktionen aus.
Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell gab sich nach einem Telefonat mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba alarmiert. Er versprach die Hilfe der EU bei der Wahrung der Souveränität und der territorialen Integrität der Ukraine. Noch schärfer fiel die Antwort aus Washington aus. US-Präsident Joe Biden sicherte der Ukraine „die unerschütterliche Unterstützung der Vereinigten Staaten angesichts der andauernden russischen Aggression" zu. Parallel dazu wurde die Rhetorik zwischen Kiew und Moskau immer feindseliger. Die Ukraine warf den Rebellen vor, Regierungssoldaten getötet zu haben. Russland revanchierte sich mit der Anschuldigung, dass die ukrainischen Verbände Zivilisten attackiert hätten.
Experten in West und Ost warnen, dass die Gefahr einer militärischen Eskalation in der Region derzeit so groß ist wie seit sieben Jahren nicht mehr. Im März 2014 hatte Russland nach dem proeuropäischen Maidan-Aufstand in Kiew die ukrainische Halbinsel Krim annektiert. Wenig später brachten kremltreue Milizen die ostukrainischen Regionen Donezk und Luhansk unter ihre Kontrolle und riefen dort „Volksrepubliken" aus.
Russische Medien schließen die Möglichkeit eines Waffengangs nicht aus. Die Tageszeitung „Nesawissimaja Gaseta" zitiert zwar Vize-Außenminister Andrej Rudenko, sein Land sei „nicht an einer Konfrontation mit der ukrainischen Seite interessiert, erst recht nicht an einer militärischen". Gleichzeitig schreibt sie: „Es ist trotzdem offensichtlich, dass sich Moskau auf einen möglichen Krieg oder einen bewaffneten Konflikt im Westen vorbereitet."
Noch schriller ist die Tonlage beim russischen Auslandsfernsehsender RT. Margarita Simonjan, Chefredakteurin des TV-Kanals, forderte die Einverleibung der ostukrainischen Gebiete durch Russland. „Mütterchen Russland, hol‘ den Donbass nach Hause", stichelte die kremltreue Propagandistin.
Doch dass sich Putin blindwütig in einen Krieg um die Ostukraine stürzt, ist unwahrscheinlich. Er müsste mit schmerzhaften Sanktionen der Amerikaner und Europäer rechnen. Vielmehr steht der russische Präsident seit der Belarus-Krise und der Vergiftung des Kremlkritikers Alexei Nawalny unter Druck. Seine Zustimmungswerte sind rasant gesunken. Die Wirtschaft schrumpft –
wegen der niedrigen Öl- und Gaspreise und wegen der Corona-Pandemie. Die Unzufriedenheit im Land wächst. Und im September wird eine neue Parlamentskammer, die Duma, gewählt. Der Kremlpartei Einiges Russland stehen Verluste ins Haus.
Putin dürfte aus zwei taktischen Gründen die militärische Karte in der Ukraine spielen. Eine martialische Außenpolitik soll von innenpolitischen Kalamitäten ablenken. Darüber hinaus will er US-Präsident Biden testen. Der hatte den Kremlchef kürzlich in einem Interview als „Mörder" bezeichnet, den er zur Rechenschaft ziehen werde. Würde Biden eine begrenzte russische Militäraktion durchgehen lassen, wäre dies für Moskau ein Signal, dass der Amerikaner vor einer deutlichen Antwort zurückscheut – was Putin zu weiteren Manövern ermutigen könnte.
Es wäre ein Remake von Barack Obamas Zauderkurs in Nahost. Der damalige Chef des Weißen Hauses hatte dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad 2012 mit schweren Konsequenzen gedroht, sollte dieser Chemiewaffen gegen die Opposition seines Landes einsetzen. Als genau dies passierte und Obamas Reaktion ausblieb, war der Präsident beschädigt. Der Ukraine-Konflikt ist vor diesem Hintergrund eine außenpolitische Prüfung für Biden.