Die Weltmeisterschaft in Katar wirft dunkle Schatten voraus. Menschenrechtsverletzungen und 6.500 Tote bei Arbeiten an den WM-Stadien bringen das Pulverfass fast zur Explosion. Doch an einen Boykott denken die großen Fußballnationen noch lange nicht.
Es gibt sie, diese Momente, in denen man auch gegenüber der Uefa eine gewisse Dankbarkeit an den Tag legen kann. Der europäische Fußballverband sorgt nämlich dafür, dass das Thema Katar in den deutschen Medien und den Köpfen der Fans präsent bleibt. Denn als die Qualifikation zur Weltmeisterschaft mit den europäischen Teilnehmern startete, spielte Luxemburg seine erste Partie ausgerechnet gegen Katar. Luxemburg liegt in Europa, Katar hingegen nicht. Doch warum spielen die Kataris überhaupt mit?
Imagepflege als Sport-Staat
Katar ist als Gastgeber der WM 2022 automatisch für das Turnier im kommenden Jahr qualifiziert. Damit das Team ein wenig in den Wettkampfmodus kommt, hat die Uefa entschieden, die Mannschaft in der europäischen Qualifikation einfach mitspielen zu lassen. Katar gegen Luxemburg entschieden die Nicht-Europäer mit 1:0 für sich. Es werden Spiele gegen Portugal und Irland folgen. Und dadurch bleibt der Fokus immer auf Katar: dem Land, in dem Menschenrechte verletzt werden und Arbeiter auf Baustellen sterben wie die Fliegen. Während also die Deutschen in die WM-Qualifikation starteten und gegen Island mit 3:0 gewannen. hätte es allerlei sportliche Themen gegeben, die berichtenswert gewesen wären. Joachim Löws Abschiedstournee als Bundestrainer, die Verletzung von Toni Kroos oder die derzeitig ungünstige Situation zwischen den Fans und der Nationalmannschaft. Doch über dem Start dieser Qualifikation hängt ein mächtiger Schatten: Es wird um die Teilnahme an einer Weltmeisterschaft in einem Land gespielt, in dem Menschenrechtsverletzungen ein Dauerthema sind. Diese WM-Qualifikation ist keine normale Qualifikation, was nicht nur dadurch begründet ist, dass ein Virus die Stadien leer bleiben lässt.
Keine Sporttradition in Katar
Die Vergabe der WM an das Emirat Katar und zuvor an Russland hatte viel Kritik hervorgerufen. Der Sporthistoriker Peter Ahrens bezeichnete diese Doppelvergabe als den großen „Sündenfall des Weltfußballs". Eben deshalb, weil diese Vergaben immer begleitet wurden von der Frage, wie viel Geld vor dieser Entscheidung geflossen ist. Katar zeichnete sich in den vergangenen Jahren nämlich durchaus dadurch aus, sich große Sportevents für viel Geld in das eigene Land zu holen: Leichtathletik-WM, Handball-WM, Fußball-WM, zuletzt die Klub-WM. Gestartet sind die Kataris dann nicht selten mit internationalen Teams, die schlicht und ergreifend zusammengewürfelt und gekauft wurden. In Katar gibt es genauso wenig eine Fußballtradition, wie es eine Leichtathletik- oder Handballtradition gab. Grundsätzlich ist es nicht verwerflich, große Sportereignisse auch in Ländern stattfinden zu lassen, die bisher leer ausgegangen sind. Doch die Beispiele Russland und Katar zeigen ganz deutlich, was es braucht, um die Fifa zu überzeugen: Geld. Während alle Fußballfans derzeit anprangern, wie weit sich der Fußball von der Basis entfernt hat, zeigt der Weltverband es mit aller Deutlichkeit, dass es ihm vollkommen egal ist. Und manche zynischen Experten sagten sogar, Katar auszuwählen, ist wohl die ehrlichste Wahl, denn es hält allen, die es mit Fußball halten, den Spiegel vor.
Während sich also viele Menschen wünschen würden, dass der Deutsche Fußball-Bund (DFB) oder andere große Fußballverbände sich deutlich dagegen positionieren, was in Katar vor sich geht, gibt es nichts anderes als wachsweiche Statements. Schon fast legendär ist Karl-Heinz Rummenigges Interview mit ZDF-Mann Jochen Breyer, in dem er mitteilte, in Katar herrsche „eine andere Kultur" und in den letzten zehn Jahren sei dort viel passiert. Abgesehen von 6.500 Toten und Menschenrechtsverletzungen en masse falle dem geneigten Fußballfan aber nichts ein. Dass Rummenigge natürlich nicht die Hand beißt, die ihn füttert, ist mehr als logisch – negative Aussagen über das Land, das den FC Bayern sponsort, waren daher auch nicht zu erwarten. Der DFB, der in den vergangenen Jahren etliche Kampagnen startete, zeichnet sich in dieser Phase auch nur durch eine Sache aus: Kampagnen starten. Doch wirklich etwas verändern wird sich nicht, nur weil die deutsche Nationalmannschaft mit dem Schriftzug „Human Rights" auf dem Platz aufläuft. Die Herstellung dieser Shirts wurde natürlich dokumentiert und dann auf den hauseigenen Social-Media-Kanälen in einem Making-of-Video verbreitet. Torwart Manuel Neuer beteuerte, dass die Idee aus der Mannschaft gekommen sei, das Video schwächte diese Aussage natürlich deutlich ab. Die sowieso fragile Glaubwürdigkeit litt erneut unter diesem inszenierten Getue. Was blieb, war ein enormer Shitstorm. Natürlich wurde im nächsten Spiel gegen Rumänien noch eine zweite Shirt-Aktion nachgeschickt. Ohne großen Erfolg. Immerhin äußerte sich Toni Kroos deutlich. Er bezeichnete die WM-Vergabe an Katar im Jahr 2010 als grundsätzlichen Fehler. „Dass dieses Turnier dahin gegeben worden ist, das halte ich für falsch", sagte der 31-Jährige. In einem Interview zählte Kroos die aus seiner Sicht schlimmen Arbeitsbedingungen nicht nur bei den WM-Stadien auf und sprach davon, „dass viele Arbeiter aus Katar aber auch Gastarbeiter aus anderen Ländern da einfach so ein pausenloses Arbeiten haben bei teilweise 50 Grad Hitze". Sie würden „da einfach auch unter mangelnder Ernährung leiden, fehlendes Trinkwasser, was gerade bei den Temperaturen ein Wahnsinn ist", fügte Kroos an und monierte eine „gewisse Gewalt", die „an den Arbeitenden ausgeführt wird".
Anmesty International rät von Boykott ab
Wenig Nachwirkung hat die Aktion wohl auch, weil die deutsche Nationalmannschaft damit niemanden direkt anspricht. Ein direkter Verweis auf Katar fehlt. Auf den Shirts, den Social-Media-Kanälen und in Interviews wird das Wort Katar mal mehr mal weniger geschmeidig umgangen. „Ich denke, es gibt einen guten Grund, das so allgemein zu halten", sagt Sportrechtler Dr. Michael Lehner im Sportschau-Interview. „Wenn man solche Angriffe konkret benennt, könnte das von der Fifa anders beurteilt werden", so Lehner weiter. Also schützt die Fifa ihr Emirat.
Gegen diesen Schutz formiert sich derzeit eine Protestbewegung. Unter dem Slogan „Football supports Change" sollen sich viele Nationalmannschaften und Verbände vereinen, um einen kollektiven Widerstand zu bilden. „Es wird effektiver sein, wenn wir kollektiv handeln und verschiedene Länder zusammenbringen, als wenn wir einzeln handeln", sagte der holländische Angreifer Memphis Depay. Verteidiger Matthijs de Ligt erklärte, dass man deshalb bereits mit mehreren Spielergewerkschaften in Kontakt getreten sei. Der niederländische Verband, der diese Idee ins Leben gerufen hat, hat noch keine Informationen über die teilnehmenden Verbände veröffentlicht, der DFB schweigt dazu, bestätigt nur ausweichend, dass man viele Gespräche führe. Eine kleine Vorreiterrolle neben den Niederlanden nehmen auch die Norweger um Superstar Erling Haaland ein. „Katar hätte die WM nie bekommen dürfen", sagte Norwegens Trainer Stale Solbakken. Aber ein Boykott, betonte er, würde die Probleme der Arbeiter auch nicht lösen.
Überraschenderweise hält auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nichts von einem Boykott und rät den Verbänden offiziell davon ab. „Es gibt Fortschritte, und mit einem Boykott würden diese um Jahre zurückgeworfen werden", sagte Regina Spöttl, Katar-Expertin der Menschenrechtsorganisation, dem Nachrichtenportal Watson. „Amnesty setzt auf Aufdeckung und Sichtbarmachung der Missstände und den Dialog mit allen Beteiligten. Katar hat sich durchaus gesprächsbereit gezeigt und Reformen angestoßen", sagte Spöttl weiter. In der arabischen Welt könne Katar Vorbildfunktion einnehmen. Spöttl forderte, dass alle Beteiligten „ihren Gesprächspartnern und persönlichen Kontakten in Katar die Probleme nahebringen". Würden die Fußballfans dieses Planeten gefragt werden, wäre die Antwort wohl eine andere. Doch vielmehr ist diese ganze Situation ein Spiegelbild dessen, wie der Fußball nicht nur auf Menschen wirkt, sondern wie er ist. Ein Geschäft, in dem es um Geld und Macht geht. Nicht mehr darum, Fußball zu spielen, sondern nur noch um das, was damit generiert werden kann. So weh es der Fußballseele auch tut: Katar ist die wohl ehrlichste Wahl für eine Weltmeisterschaft. Genau dorthin hat sich der Fußball in den letzten Jahren entwickelt – so traurig das auch sein mag.