Die Eiszeitroute ist ein Radfernweg von insgesamt 666 Kilometern, der auf die Spur der Eiszeit durch die Mecklenburgische Seenplatte führt. Geologisch gilt sie in Europa als Modellregion, in der der Formenschatz vollständig erhalten ist.
Das Land ist steinreich. Es ist kein Kapital, das man auf die Bank tragen oder zur Schuldentilgung des Landeshaushaltes nutzen könnte. Der Reichtum ist anderer Art. Er wurde während der Eiszeit schleppend und etappenweise vom Oslofjord und den finnischen Åland-Inseln herübergeschoben – Mecklenburg-Vorpommern ist reich an Steinen, jede Menge kleiner, großer, tonnenschwerer Findlinge.
Die meisten landeten während der Weichselkaltzeit in dieser Region, vor mehr als 25 Jahrtausenden. In dem Ostseeland hat sie viele Spuren hinterlassen. Heute können Radfahrer ihnen auf der Eiszeitroute durch die einzigartige Endmoränenlandschaft folgen, immer dem markanten Logo hinterher: Ein gelber Findling auf einer grünen Insel, die in einem blauen See liegt.
Durch Kornfelder und bewaldete Hügel
Auf einen kapitalen Steinhaufen am Feldrand des Dorfes Neuensund fiel die Wahl für die Rast. Zwischen sanft gewellten Kornfeldern, Wiesen und bewaldeten Hügelrücken nimmt er sich aus wie ein Hochsitz mit Panoramablick. Eine Anhäufung aus Feldsteinen, die die Bauern seit Jahrhunderten verfluchen. „Sie wachsen nach", sagt ein Neuensunder auf seinem Traktor. „Jedes Jahr holt man sie aus dem Acker raus, jedes Jahr sind sie wieder drin." Er grient in einer Mischung aus Humor und Fatalismus und tuckert mit seinem Traktor davon. In Neuensund ist fast alles, was älteren Datums ist, aus Feldsteinen gebaut: die Kirche, der Gutshof, die Stallungen, die Mauern um die Blumengärten der Häuser. Das Material lieferte die Natur frei Haus. Für die Bauern waren die Steine jedoch schon immer ein Fluch. An ihnen zerschellten Pflüge und Mähdrescher. Manch einer ist aber auch stolzer Besitzer eines Mammutzahns geworden, den er in der Krume fand.
Berge zählen in der Mecklenburgischen Seenplatte sonst eher zu den Raritäten. Hier schwingt sich der Boden maximal zu Hügeln auf, die der aus Mecklenburg stammende Schriftsteller Uwe Johnson in seinen „Jahrestagen" liebevoll „Bäge" nennt. Doch manche haben es in sich. Wie die Helpter Berge, deren Gipfel mit seinen 179 Metern zwar nur ein Mini-Berg ist. Doch der Atem keucht, die Gangschaltung knackt. Im Sattel ist das steile, sandige Waldstück kaum zu meistern. Wer den landeseigenen Mount Everest erklommen hat, trägt sich glücklich ins Gipfelbuch ein. Die Alpenländler sollen ruhig schmunzeln, und eine Tour de France wird die an Serpentinen arme Region wohl auch nicht erleben. So radelt man munter in die Mecklenburgische Schweiz hinein. Bei „Schweiz" denkt man eigentlich an Granit, an Viertausender wie das Matterhorn oder das Weißhorn. Doch von diesen Höhenlagen ist man in der Gegend weit entfernt. Dennoch lässt der Name zart anklingen, dass sie durchaus mit einer guten Portion Erhebungen bestückt ist. Selbst Gletscherzungen, Eisvorstöße und Schmelzwasserrinnen, wie sie meist als alpine Vorkommen gehandelt werden, finden sich in großer Zahl. Als das Eis schmolz, formte das Schmelzwasser breite Flusstäler und hinterließ weite Sanderflächen, eindrucksvolle Hügelketten und geheimnisvolle Moore. Nirgendwo in Deutschland existieren so viele Klein- und Großseen auf engstem Raum wie hier. Die letzte Eiszeit hat Mecklenburg-Vorpommern das unverwechselbare Gesicht gegeben.
Das Eiszeitwasser formte Flusstäler
Auf der Spur der Steine und der Eiszeitroute, ein Radfernweg von 666 Kilometern durch die Mecklenburgische Seenplatte, kann man es kennenlernen. Eiszeit war überall. Doch nirgendwo hat sie ihre Biografie so idealtypisch hinterlassen wie hier. Geologisch gilt sie in Europa als Modellregion, in der der Formenschatz vollständig erhalten ist. Das ist Naturgeschichte wie im Bilderbuch: Grund- und Endmoräne, Sander, Urstromtal – die ganze glaziale Serie. Um die Phänomene herum gliedert sich die Strecke in fünf Rundtouren und neun Einzeltouren. Sie sind durchgängig beschildert und mit dem gelb-grün-blauen Logo gekennzeichnet. Informative Schautafeln, interessante Lehrpfade, Findlingsgärten und ein Netz von Informationszentren helfen, die einmaligen Naturphänomene und ihre Besonderheiten an Ort und Stelle zu verstehen. Was ist ein Rinnensee? Was sind Haupt-, End- oder Stauchendmoränen?
Und Fragen gibt es viele. Etwa die, ob denn Steine nachwachsen können? Klaus Granitzki, der die Eiszeitroute per Rad mitentwickelt hat, freut sich über solche Fragen. „Früher dachten die Menschen, dass die Steine von Vulkanen ausgeworfen würden", erklärt der pensionierte Geologe des Geologischen Landesamtes. Doch Vulkane gibt es hier nicht. Granitzkis Theorie: „Vermutlich kommen die Steine durch Schwer- und Fliehkraft an die Oberfläche", sagt er. Wissenschaftlich belegt sei das aber nicht. Tatsache ist, dass die Bauern die Äcker ständig entsteinen müssen.
Wieder im Sattel folgt man weiter dem Logo der Eiszeitroute, das bald „Spiegelei" getauft wird. Am Fuchsberg biegen die Radler in eine originale Obstbaumallee mit altem Kopfsteinpflaster ein. Links und rechts am Wegesrand wachsen Holunder, Mirabellen, Pflaumen, Äpfel und Birnen – köstlicher Proviant. Die Räder rattern über das Kopfsteinpflaster bis nach Gehren hinein. Auch hier nutzten die Bewohner das kleine Geschiebe für die Straßen, aus dem größeren Kaliber gestalten sie Kirche, Häuser und ein Museum.
Das „Spiegelei" weist den Weg zum Galenbecker See, ein späteiszeitliches Naturphänomen, aber kein Badesee. Erst in Brohm bleiben die Räder stehen, um ein Erfrischungsbad zu nehmen und die gotische Feldsteinkirche anzusehen. Nach den waldigen Brohmer Bergen ändert sich das Landschaftsbild deutlich: Es wird hügelig. Doch die Räder rollen munter darüber hinweg in ein fruchtbares, abwechslungsreiches Urstromtal.
Gotische Feldsteinkirche
Nächster Stopp ist erst wieder in Neubrandenburg. Die einstige Sommerresidenz mecklenburgischer Herzöge glänzt seit dem Mittelalter mit Backsteinkirchen und vier reich geschmückten Stadttoren. Der zwei Kilometer lange Stadtmauerring ist fast komplett erhalten und zählt zu den eindrucksvollsten Bauwerken, die aus eiszeitlichen Geschieben errichtet wurden. Den Mauerverlauf unterbrechen Wiekhäuser, die ursprünglich der Verteidigung dienten. In einem befindet sich das „Ratsherren Café", wo bereits einige Radler sitzen. „Wir sind 240 Kilometer in der Seenlandschaft gefahren. Es war nur schön", schwärmen Tatjana und Edeltraud aus Schaffhausen.
Ein schattiges Waldstück gibt Kühlung während wir am elf Kilometer langen, anderthalb Kilometer breiten Tollensesee radeln. „Er liegt in der Tollenserinne, die schon vor mehr als 500.000 Jahren durch Schmelzwasser ausgespült wurde", steht auf der Infotafel. Ein mit Wasser gefülltes Tunneltal, 33 Meter tief, beachtlich. Der ständige Wechsel von steilen Anstiegen und Abfahrten verlangt Kondition. Die Belohnung folgt mit einem Fisch-Imbiss am Rödliner See. Eine geräucherte Forelle bei Stille, Vogelgezwitscher und Seeblick – da will man nie wieder aufbrechen.
Hinter Carpin folgen die Radler dem „Spiegelei" auf einen Sandweg, der sich zwischen Maisfeldern, Wald und Seen schlängelt und sie nach Carwitz bringt. In dem puppigen Dorf in der Feldberger Seenlandschaft suchte sich auch Hans Fallada ein Domizil. Er fand es 1933 in schönster Seelage. Dort gibt es heute ein Fallada-Museum. In seinen Erinnerungen „Damals bei uns daheim" schreibt er 1942 fasziniert über die Eiszeitlandschaft: „Das Land sieht flach aus, ab und zu liegt zwischen den reifenden Feldern ein dunkler Waldstreif". Wer es nicht wisse, schreibt er, könne nicht ahnen, dass jeder dieser dunklen Waldstreifen einen tief ins Land eingeschnittenen langen See bedeutet. „Seen mit dem tiefsten klarsten Wasser, von einem bezaubernden Türkisgrün oder Azurblau. Wir sind in einem Endmoränengebiet."