Wo das Vertrauen in alles Offizielle schwindet, sprießen in Nischen-Welten neue Gemeinschaften. Am Ende haben diese aber mehr miteinander zu tun, als es auf den ersten Blick scheint.
DJ Captain Future ist ein echter Routinier, was den Party-Auftritt auf der Ladefläche seines Kleinlasters angeht. Im Frühling vor einem Jahr veranstaltete er zum ersten Mal seine „Freedom-Parade". So eine Art Hommage an die Love-Parade von früher, nur heute eben in Corona-Zeiten. Dabei muss die „Freedom-Parade" selbstverständlich als politische Demonstration angemeldet werden, wie damals in den 90er-Jahren. Captain Future hat begriffen, dass er (aus demo-technischen Gründen) zuerst einmal eine Ansprache halten muss, bevor sein „DJ-Zirkuswagen" vor allem mit viel deutschem Schlager und ein bisschen Techno loszuckelt. „Irgendwas mit politischen Inhalten", das ist die Auflage der Polizei, ansonsten wäre es keine Demonstration. „Dabei bin ich eher ein unpolitischer Mensch. Ich kämpfe seit einem Jahr darum, dass ich endlich wieder normal arbeiten darf, dass die Clubs wieder aufmachen und ich irgendwann mal wieder Geld mit meinen Scheiben verdienen kann."
Captain Future macht jetzt Demo
Captain Future lebt vom Musik spielen und vor allem von tanzenden Menschen, die es seit einem Jahr so nicht mehr gibt. Außer bei seiner Demonstration. Was auffällt: Der Demonstrationszug scheint offensichtlich aus einer Horde von Asthma- und sonstigen Atemwegserkrankten zu bestehen, die von der Maskenpflicht befreit sind, denn die Maske ist eher selten zu sehen. Die Polizei ist dagegen machtlos. „Die haben alle eine Bescheinigung ihres Hausarztes dabei, dass sie aus gesundheitlichen Gründen weder medizinische noch FFP2-Masken tragen dürfen", gibt sich ein Polizeisprecher gegenüber FORUM betont nüchtern. Eine realistische Chance, die Echtheit der Atteste zu überprüfen, haben die Beamten vor Ort bei dem „Musik-Bums" oder den „Hygiene-Spaziergängen" beinahe nicht. „Ab und zu sind echte Dilettanten dabei, wo meine Kollegen schon von weitem sehen, dass hier was nicht stimmen kann. Etwa Männer, die plötzlich in ihrer ärztlichen Bescheinigung weibliche Vornamen tragen. Aber selbst das ist ja heutzutage keine Seltenheit mehr", lacht der Hundertschaft-Führer. Und schon gar nicht bei dieser bunten Truppe, die seit einem Jahr beinahe jedes Wochenende gegen die Corona-Maßnahmen in der Berliner Innenstadt demonstriert. Da sind die Aktivisten von Wir sind viele, die dann auf Nicht ohne uns treffen und hinter DJ Captain Futures Wagen herlaufen. Wobei Wir sind viele wiederum eine Vereinigung von verschiedenen Berliner Gruppen ist, die gegen die Corona-Maßnahmen protestieren: Straßenaufklärung Treptow, Karlshorst steht auf, Berliner Kommunarden, Anwälte für Aufklärung, Mutigmacher, Querdenken 30, Freie Linke oder Freiheitsboten. Wer in so einem Demonstrationszug nun wohin gehört, ist so gut wie gar nicht auszumachen. Es handelt sich um eine völlig durchmischte Truppe: Viele, die man eher dem bürgerlichen Lager zuordnen wollte. Dazu ein paar „Flippis" aus der Tanzszene, kostümierte Künstler, die auch immer dazugehören, wie der Corona-Supermann, der hinter den Maßnahmen selbstverständlich dunkle Mächte vermutet. Was das aber für dunkle Mächte sind und woher sie kommen, wird in seinem Vortag nicht so ganz klar, auch nach dem zehnten Mal Zuhören nicht.
Unter den „Demonstrant*Innen" ist auch Rebecca. Auf die Genderansprache legt die 49-Jährige wert, sie ist eigentlich Fundamental-Grüne, oder glaubt es zumindest zu sein. „Seit Annalena Baerbock und Robert Habeck haben die Grünen einen derart brutalen bürgerlichen Schwenk durchgezogen, dass ich die Partei beinahe nicht mehr wiedererkenne. Vor allem, nachdem die beiden dafür sorgen, dass alle Corona-Maßnahmen von der Bundestagsfraktion voll mitgetragen werden." Die Endvierzigerin ist politisch sichtlich schwer enttäuscht. Vor allem, weil aus ihrer Sicht über Staatsbürgerrechte überhaupt nicht mehr gesprochen wird und alles dem Infektionsschutzgesetz untergeordnet wird. „Jetzt bräuchten wir einen Christian Ströbele im Bundestag, der das mal anspricht." Auch Rebecca trägt bei der Demonstration selbstverständlich keinen Mund-Nasenschutz, wegen ihrer Atemwegserkrankung, wie sie sagt. Als die Foto-Truppe der Polizei kommt, zieht sie sich schnell ihren roten Schal über Mund und Nase. Über den Kundgebungsplatz im Berliner Wedding weht schließlich ein recht kalter Wind an diesem letzten Sonntag im März, da möchte sie sich nicht erkälten. Und dann rückt sie ihre große Sonnenbrille noch mal zurecht.
Viele sehen dunkle Mächte am Werk
Auf die Frage, was sie denn nun bei der Bundestagswahl wählen wird, wirkt die zierliche Frau beinahe etwas hilflos, „das wird wohl in Richtung Linke gehen, wobei ich nicht mal sagen kann, wer überhaupt ihre Spitzenkandidatinnen sind." An dieser Frage würden vermutlich viele bei der Demonstration scheitern. Etwas absurd wird die Situation, als die Mitglieder der Antifa Berlin auftauchen, die auf der Suche nach Sympathisanten von AfD, Reichbürgern und sonstigen Rechten sind. Die sind, zumindest äußerlich erkennbar, nicht dabei. Die Teilnehmer, die in diese Richtung mit etwas fragwürdigen Mutmaßungen zur Pandemie argumentieren, sehen zumindest nicht so aus, als würden sie AfD wählen oder gar bei den Reichsbürgern mitmachen. Einer der Organisatoren von „Querdenken 30", Dietmar Lucas, ist darauf besonders stolz. „Wir haben es wirklich geschafft, uns von diesen Gruppierungen komplett abzusetzen. Übrigens ein Grund, warum wir nicht mehr am Brandenburger Tor oder an der Siegessäule unsere Aufzüge organisieren", so der diplomierte Psychologe im FORUM-Gespräch. Beim Berliner Verfassungsschutz ist man da etwas vorsichtiger, ob dem tatsächlich so ist. Immer wieder tauchen stadtbekannte Gesichter aus der rechten Szene auf und versuchen, die Anti-Corona-Demos zu infiltrieren. Inwieweit es tatsächlich rechte Verbindungen zu den mindestens 30 Veranstaltern gibt, darüber schweigen sich die Staatsschützer aus. Aber laut einer internen Bewertung der Berliner Staatsschützer scheint es tatsächlich Rüdiger Hoffmann, Atilla Hildmann und sonstigen Reichsbürgern immer schwerer zu fallen, zumindest in Berlin, die Corona-Demos zu unterlaufen. Was natürlich kein staatlicher Sicherheitsexperte abschätzen kann, ist, ob sich die rechtsextremen Teilnehmer der Anti-Corona-Demos, zumindest in der Bundeshauptstadt, nur extrem klug zu verstecken wissen oder tatsächlich „nur" Maskenmuffel sind.
Doch in den letzten Wochen hatten die Polizisten obendrein auch mit dem Wetter Glück. Ein relativ langer, kalter und vor allem feuchter Winter und Frühlingsanfang ließen keine rechte Corona-Partystimmung bei den Aufzügen aufkommen. Aber zumindest das wird sich in den kommenden Wochen ändern. Wenigstens die Gewissheit scheint Bestand zu haben.