Der deutsche Boxsport lechzt nach einem neuen Weltmeister, der die am Boden liegende Sportart zurück ins Rampenlicht führt. Artem Harutyunyan schickt sich an, dieser Mann zu werden. Doch der Hamburger will mehr als nur ein erfolgreicher Kämpfer sein.
Artem Harutyunyan will nach langer Corona-Pause und vielen Rückschlägen wieder dick ins Box-Geschäft einsteigen – doch dafür muss er sich zunächst dünne machen. Der Hamburger tritt beim Comeback-Kampf am 24. April im Leichtgewicht an, also eine Gewichtsklasse tiefer als gewohnt. Das bedeutet: Harutyunyans Kampfgewicht musste von 65 auf 61,2 Kilogramm runter, und das ist in diesen Größenordnungen eine Schinderei. „Es ist klar, dass ich dafür ein bisschen hungern muss", sagte der Olympia-Dritte von 2016. Für ihn ist seit ein paar Wochen vegane Ernährung und die FdH-Diät („Friss die Hälfte") angesagt: „Die Teller-Portionen sind deutlich kleiner als vorher."
Die Quälerei soll für Harutyunyan nicht umsonst sein. Zunächst will er im ersten Kampf seit 15 Monaten wieder den Rhythmus aufnehmen und Kontrahent Oliver Flores aus Nicaragua in die Schranken weisen. „Ich freue mich total, das wird geil", sagte der 30-Jährige. Das Duell um den WBA-International-Titel soll in einem Hamburger Gym ohne Zuschauer ausgetragen werden – sofern die Corona-Situation den Plänen keinen Strich durch die Rechnung macht. Flores, 29 Jahre und Nummer acht der WBA-Weltrangliste, ist beileibe kein Fallobst. Doch der in neun Profikämpfen noch ungeschlagene Harutyunyan steigt als Favorit in den Ring – und mit einer großen Motivation. Der Sieger könnte über kurz oder lang eine WM-Chance erhalten, es wäre Harutyunyans erste seit seinem Wechsel von den Amateuren zu den Profis im Oktober 2017. Damals hatten er und sein ein Jahr älterer Bruder Robert sich dem Manager und Berater Ismail Özen-Otto angeschlossen, der heute Geschäftsführer des Universum-Boxstalls ist. Die Harutyunyan-Brüder kündigten schon damals selbstbewusst an: „Wir wollen Weltmeister werden!"
Harutyunyan ist in neun Profikämpfen noch ungeschlagen
Die Chancen dazu sind im Leichtgewicht deutlich größer als im höheren Limit, außerdem seien die Gegner dort attraktiver und die Kämpfe dadurch besser zu vermarkten, glaubt Promoter Özen-Otto: „Da findet man die Champions League." Ob sich sein Schützling aber dauerhaft auf das Leichtgewicht „runterhungert", ist noch offen. „Ich muss die neue Gewichtsklasse erst mal probieren", sagt Harutyunyan. „Aber ich habe ein gutes Gefühl."
Das hatte er auch vor dem IBO-Eliminator im vergangenen Oktober gehabt, als er sich gegen Timo Schwarzkopf um die Chance auf einen WM-Fight duellieren sollte. Das ZDF wollte den Kampf live übertragen und betrieb im Vorfeld reichlich Werbung – unter anderem mit einem Besuch des Kämpfers im aktuellen Sportstudio. „Ich will den Ring in Flammen setzen. Es wird knallen", hatte Harutyunyan bei einer Pressekonferenz voller Selbstbewusstsein und Vorfreude getönt – zwei Tage später war der Boxer am Boden zerstört. Eine Hand-Verletzung im Training zwang ihn zur Absage: Fraktur des linken Zeigefingers. „Ich bin sehr traurig. Dass man so viel Pech haben könnte, habe ich nicht geglaubt", hatte der in Armenien geborene und als Kleinkind nach Deutschland gekommene Athlet damals geklagt. Inzwischen kann Harutyunyan darüber sogar wieder Witze reißen. Dass nach einer Operation eine kleine Titan-Platte den Knochen stabilisiert, kommentierte der Athlet so: „Wer weiß, vielleicht kann ich damit noch härter zuschlagen."
Die Schlaghärte dürfte kein großes Problem sein. Harutyunyan hat einen ziemlichen Punch, der eine Gewichtsklasse tiefer sogar noch mehr zum Tragen kommt. Problematischer könnte es werden, wenn ihm mit zunehmender Kampfdauer die Puste ausgehen sollte. Die 15 Monate Pause seit seinem letzten Fight in Hamburg gegen den Argentinier Miguel Cesario Antin könnten ihm noch in den Knochen stecken, auch wenn er im Training immer Vollgas gegeben hat. Mitunter mussten ihn sein Trainer und Schwiegervater, Artur Grigorian, und sein Bruder sogar bremsen. „Artem ist ein Arbeitstier", sagte Robert Harutyunyan, der mittlerweile bei Universum auch als Sportdirektor fungiert: „Er kommt ins Gym und gibt immer hundert Prozent. Er ist sehr diszipliniert, sehr ehrgeizig und willensstark. Das alles hat ihn dahin gebracht, wo er heute ist."
2016 mit silbernem Lorbeerblatt ausgezeichnet
Harutyunyan ist mehr als nur ein erfolgreicher Boxer. Er ist inzwischen auch ein Vorzeige-Athlet für gelungene Integration, der 2016 vom Bundespräsidenten mit dem Silbernen Lorbeerblatt ausgezeichnet wurde – die höchste staatliche Auszeichnung für Spitzenleistungen im deutschen Sport. „Diese Erfahrung ehrt mich", sagt Harutyunyan, „ich möchte deswegen Dinge weitergeben und nicht nur Boxer sein. Ich wäre gerne auch Integrationsbeauftragter." Angesichts der weiterhin aktuellen Flüchtlings-Problematik könne er „den Menschen nur nahelegen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen". Man müsse bereit sein, „sich weiterzuentwickeln und Neues zu lernen". Er selbst habe seinen Weg „durch den Boxsport gefunden" und wolle daher „ein Vorbild sein". Daran war sicher noch nicht zu denken, als der einjährige Artem 1991 mit seiner Familie aus dem armenischen Bürgerkrieg nach Deutschland floh. Die harten Jahre, unter anderem in einem Asylantenheim in Hamburg, haben Harutyunyan geprägt, auch wenn er damals noch klein war. „Ich weiß aus Erzählungen meiner Eltern, wie schwierig es war", erzählte er einmal. „Wir haben am Hamburger Hafen in Containerschiffen gelebt, mehrere Jahre lang auf engstem Raum. Ohne die deutsche Sprache zu beherrschen, ohne Ausbildung, ohne Jobkenntnisse." Aber seine Eltern fanden sich nicht damit ab und taten alles, um aus dieser misslichen Lage herauszukommen. Diese Charaktereigenschaft habe er „auch in die Wiege gelegt bekommen", sagt Harutyunyan.
Die Eltern schickten Artem und Robert früh zum Sport, wo sie ihre Aggressionen, ihre Wut kanalisieren und positiv umsetzen konnten. Zuerst tobten sie sich im Taekwondo aus, Artem kann heute den 2. Dan (Schwarzgurt) vorweisen und war mehrfacher Deutscher Meister im Jugendbereich. Doch dann zog es die Brüder zum Amateurboxen, wo ihr Talent schnell erkannt wurde. Artem wurde 2013 EM-Dritter im Halbweltergewicht – doch sein größter Sportmoment sollte drei Jahre später folgen. Bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro holte Harutyunyan die Bronzemedaille. Dieser Erfolg brachte ihm die bislang größte Aufmerksamkeit, plötzlich wollten alle von seinem ereignisreichen Lebensweg erfahren. Harutyunyan erzählte seine Geschichte bereitwillig, sympathisch und alles andere als aufgesetzt. Politiker luden ihn ein und ehrten ihn, Medien porträtierten seinen Weg vom Flüchtlingskind zum Medaillengewinner für Deutschland. „Auf Wladimir Klitschkos Spuren", lautete eine Überschrift in der ARD, und in der Tat gibt es ein paar Parallelen zwischen dem einstigen Schwer- und dem heutigen Leichtgewicht. Beide sind ganz eng mit einem ebenfalls boxenden Bruder verbandelt, sie haben ihrer Mutter versprechen müssen, niemals gegen den Bruder zu kämpfen, und beide haben bei Olympia eine Medaille gewonnen.
Mit einem Sieg wäre er in der Top Ten der WBA-Weltrangliste
„Die Olympischen Spiele sind wirklich das Höchste, was man im Sport erreichen kann. Das war ein Erlebnis für mich", sagt Harutyunyan heute.
Und Olympia hat ihm auch gezeigt, dass er es in seinem Sport nach ganz oben schaffen kann. Weil er im entscheidenden Moment mental voll auf der Höhe war. Im Viertelfinale lag enormer Druck auf seinen Schultern, weil alle anderen deutschen Boxer bereits in der ersten Runde ausgeschieden waren und der deutsche Verband seine Zielvorgaben zu verpassen drohte, was harte finanzielle Einschnitte zur Folge gehabt hätte. Doch Harutyunyan lieferte. „Wenn es um alles geht, setzt das bei Artem noch mal zusätzliche Kräfte frei", sagt sein ehemaliger Trainer Michael Timm. „Im Ring ist Artem wie ein Krieger." Und Harutyunyan ist extrem ehrgeizig. „Dem Boxsport geht es gerade nicht so gut, ich will wieder Weltmeisterschaften nach Deutschland bringen", sagt er. Das Zeug dazu habe er, glaubt Bruder Robert: „Er kann Großes erreichen." Sollte er am 24. April gegen Flores gewinnen, würde Harutyunyan in der WBA-Weltrangliste in die Top Ten klettern, vielleicht sogar unter die besten fünf. „Dann stehen vor ihm nur noch die Superstars", sagte Robert Harutyunyan. Interimschampion Rolando Romeras (USA), der Ukrainer Wasili Lomaschenko, der Mexikaner Isaac Cruz Gonazels – „das sind die Leute, zu denen Artem aufsteigen möchte. Und die kochen auch nur mit Wasser."
Zuerst aber muss Harutyunyan den unbequemen Flores aus dem Weg räumen. Alle Beteiligten bescheinigen ihm eine starke Grundlagen-Vorbereitung. „Ich habe ein sehr gutes Team an meiner Seite", so Harutyunyan. Aber den letzten Schritt müsse er alleine gehen. „Im Ring heißt es Mann gegen Mann. Der, der am meisten Herz zeigt und sich besser vorbereitet hat, gewinnt." Und Mentalität und Trainingseifer gehören zu Harutyunyans großen Stärken. Dazu ist der Hamburger ein sehr variabler Boxer, der sich in 235 Amateurkämpfen ein großes Repertoire angeeignet hat und im Ring eigentlich nicht mehr zu überraschen ist. „Er kann während eines Kampfes sehr gut improvisieren", sagt sein Bruder, „er kann aus der Distanz boxen oder in den Infight gehen. Er macht das, was gerade gebraucht wird."
Und wenn der mögliche Erfolg im neuen Kampfgewicht einen Verzicht auf volle Teller bedeutet, dann zieht Harutyunyan auch das konsequent durch. „Schlapp fühle ich mich nicht", sagt er, „ich fühle mich stark, alle Muskeln gucken raus." Doch Harutyunyans wahre Stärke kommt von innen.