Rosa Lyenska ist ohne die jüdische Religion und ihre Traditionen aufgewachsen. Heute spielt ihre jüdische Identität eine wichtige Rolle in ihrem Leben – auch wenn sie sich selbst als „nicht gläubig" bezeichnet.
Auf den blank geputzten Stolpersteinen liegen rote Rosenblätter. Die Teelichter daneben hat der kalte Novemberwind längst ausgepustet. Die messingfarbenen Pflastersteine erinnern an die Familie Adler, die bis Anfang der 1940er-Jahre in der Großen Hamburger Straße im Berliner Bezirk Mitte lebte. Eine junge Frau bleibt neben der Gedenkstätte stehen und zündet eine rote Grabkerze an. Ihre langen blonden Haare fallen ihr nach vorne über die Schultern. Sie holt zwei von Klarsichtfolien geschützte Zettel aus ihrer schwarzen Handtasche. Dann kniet sie sich auf den Gehweg und klebt die Lebensgeschichte der Familie mit breitem Paketklebeband auf den Boden. Eine ältere Dame hält an, fragt, wer dort gewohnt hat. Die junge Frau liest die Namen vor, lässt keinen aus. Acht Menschenleben, fünf endeten im Vernichtungslager Auschwitz.
Die junge Frau ist Rosa Lyenska, 22, die den Vornamen ihrer Urgroßmutter trägt. Sie ist eine von geschätzten 200.000 Jüdinnen und Juden, die heute in Deutschland leben. Das Land des Holocausts, in dem Menschen jüdischen Glaubens zumeist als Opfer oder Mahnmal betrachtet werden, nicht aber als Lebende in der Mitte der Gesellschaft. Auch von Rosas Familie mütterlicherseits ist ein Großteil im Holocaust gestorben. „Als der Krieg anfing, haben meine Urgroßeltern in der Ukraine gelebt. Wir hatten eine große Verwandtschaft. Wohlhabende Familien, die sich alles selbst erarbeitet hatten." Während Rosas Urgroßmutter mit ihrer Tochter nach Aserbaidschan floh, blieb der Rest der Familie zurück. „Die Deutschen haben sich nicht mal die Mühe gemacht, die Juden in ein KZ zu bringen. Sie haben sie einfach erschossen und in Massengräber geworfen." Ein Ort des Gedenkens gibt es nicht.
Rosa blickt auf die aufgeklebten Zettel. „Jetzt stolpern die Menschen wirklich darüber." Die junge Studentin, die im Oktober an einer Berliner Hochschule ihr Filmstudium begonnen hat, ist Mitglied in der Jüdischen Studierendenunion, die mit dem Putzen und Schmücken der Stolpersteine die Blicke der Passanten auf sie lenken will. „Die Erinnerung an die Verstorbenen hat einen großen Wert im Judentum", sagt Rosa. Ihre eigene Familiengeschichte hat sich die junge Frau, die in Kassel aufgewachsen ist, erst nach und nach erschlossen. „Als Kind war mir lange nicht klar, dass ich Jüdin bin. Ich weiß nicht, wie meine Eltern das geschafft haben, aber wir haben nie darüber geredet." Ihre Eltern kamen 1997 als Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland. Erst die jüdische Mutter, später durfte auch der Vater nachkommen.
„Religion war in der Sowjetunion verpönt", sagt Rosa. Ihre Urgroßmutter, die fließend Jiddisch sprach, trat später in die Kommunistische Partei ein und entfernte sich nach und nach vom Judentum. Ebenso ihre Großmutter, die als Kind antisemitische Anfeindungen erfahren musste und für ihre Tochter ein anderes Leben wollte. „Ich bin genau wie meine Mutter ohne Religion aufgewachsen", sagt Rosa. Ihre Lebensgeschichte teilt sie mit vielen jüdischen Freunden, die ebenfalls aus atheistisch lebenden Familien kommen. Heute haben die jüdischen Gemeinden knapp 95.000 Mitglieder, mindestens 90 Prozent sind Migranten aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Ohne sie gebe es jüdisches Leben hierzulande wohl nur noch in Großstädten. Die Gemeinden könnten noch größer sein: Doch mehr als die Hälfte der rund 200.000 Menschen jüdischer Abstammung, die seit 1989 nach Deutschland eingewandert sind, haben nicht den Weg zurück in die jüdischen Gemeinden gefunden oder wurden abgewiesen, weil nur der Vater Jude war.
Rosa möchte aufklären
Rosa ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Berlin. Ihre Verbundenheit zum Judentum kam für ihre Familie überraschend. Ihrer Mutter ist das Judentum fremd, ihr Vater wettert gegen Religionen, „er denkt, dass sie nur dazu da sind, die Menschen zu unterdrücken". Als Kind lernte Rosa Russisch in einer Synagoge. „Für mich war es einfach die Russischschule", sagt sie heute. Als Rosa zehn Jahre alt war, schickten ihre Eltern sie zum ersten Mal ins jüdische Ferienlager in der Nähe von Frankfurt. „Dort haben wir zwar gebetet, aber mir war nicht klar, dass ich selbst jüdisch bin." Als sie kurz danach erfuhr, dass sie zum Volk Israels gehört, erzählte sie allen, sie sei Halbjüdin. Ein Begriff, den sie im Geschichtsbuch aufgeschnappt hatte. „Erst viel später habe ich erfahren, dass man immer jüdisch ist, wenn die Mutter jüdisch ist." In den Jahren danach erwachte die Neugierde in ihr. Die Suche nach ihrer jüdischen Identität begann. Sie las zahlreiche Bücher, stellte Fragen und nahm an Ferienfreizeiten teil, die die jüdische Gemeinde organisierte, „aber der spirituelle Zugang fehlte mir." Daran hat sich bis heute nichts geändert.
„Im Judentum ist es dir überlassen, an was du glaubst", sagt Rosa, „es gibt kein Glaubensbekenntnis. Niemand hat Gott gesehen, keiner kann dir sagen, was oder wie Gott ist." Das Judentum überdauere vielmehr durch seine Traditionen und seine Werte. Und dem Gefühl, der Gemeinschaft der Juden verpflichtet zu sein, das auch Rosa fühlt. „Wenn ich mich vom Judentum abwende, enden mit mir 2.000 Jahre Familiengeschichte." Sie spürt einen Druck, empfindet ihn aber nicht als Last. Sie möchte das jüdische Leben in Deutschland fortführen, weil es ihr Leben bereichert, ein Anker ist. Und sie tut es für ihre Vorfahren, für die Opfer des Holocausts und für die Überlebenden.
Rosa möchte aufklären, den Blick auf das Judentum erweitern, Nähe schaffen. Auch durch Aktionen wie heute. „Sie bleiben wirklich stehen", freut sich Rosa und blickt auf ein Pärchen, das sich über die Zettel beugt. Rosa engagiert sich vielseitig – im jüdischen Jugendzentrum, im deutschlandweiten Begegnungsprojekt „Meet a Jew", in Umweltschutzprojekten. Ihre jüdische Identität bestehe darin, die Werte des Judentums weiterzugeben. Sie will Verantwortung übernehmen, nicht nur für sich, sondern auch für andere. Und sie setzt sich für die Umwelt ein, beispielsweise indem sie jüdische Gemeinden zu mehr Nachhaltigkeit aufruft. „Das an sich ist schon sehr jüdisch und um einiges jüdischer, als für sich selbst Gott anzubeten." In die Synagoge geht Rosa trotzdem. Jeden Freitag steht sie in der Pestalozzistraße vor der grauen Tür des kameraüberwachten, roten Backsteingebäudes und klingelt beim Pförtner, der den Durchgang für sie öffnet. „In der Synagoge sind fast nur noch alte Menschen. Wenn wir Jungen nicht mehr hingehen, gibt es die Synagogen bald nicht mehr."
Es habe nie jemanden gegeben, der ihr dieses Verantwortungsbewusstsein aufgezwungen hat, sagt Rosa mit Nachdruck. „Und ich fühle mich auch nie fake in der Synagoge." Jeder könne auf seine eigene Art und Weise Jude sein. „Die orthodoxen Juden sagen, jeder Jude ist ein Juwel, der mit seinem Potenzial irgendetwas zum Judentum beiträgt." Rosa hat viele orthodoxe Freunde, die nach strengen religiösen Regeln leben. „Sie tragen lange Röcke, beten jedes Mal, bevor sie etwas trinken, würden am Sabbat nie irgendwelche elektrischen Geräte benutzen", sagt Rosa, „und das akzeptiere ich." Wenn sie am Sabbat bei ihnen zu Besuch ist, hält sie sich an die dort geltenden Regeln, benutzt keine Lichtschalter, reißt kein Papier, isst koscher. „Zwischen uns als Menschen sehe ich keine Unterschiede." Manchmal diskutieren sie über die Auslegung des Judentums, etwa über die Kleidungsvorschriften. „Ich finde es einfach nicht gut, wenn man die Religion auf Kleidung reduziert", sagt Rosa, „und ich verstehe nicht, warum Rabbiner, die etwas vor 500 Jahren gesagt haben, heute einen höheren Stellenwert haben als ein Rabbiner, der jetzt eine völlig neue Interpretation für sich gefunden hat."
Ein Richtig oder Falsch gibt es für Rosa nicht. „Es ist ein Verbot im Judentum, darüber zu urteilen, wer ein richtiger Jude ist und wer nicht", sagt sie mit ruhiger Stimme. Für ihr Alltagsleben hat Rosa ihren eigenen Kompass entwickelt. Sie will jüdische Traditionen fortführen, „immer dort, wo es meinen Alltag nicht einschränkt." So verzichtet sie am Sabbat zwar nicht auf den Fahrstuhl oder ihr Handy, dafür kauft sie bewusst keine plastikverpackten Produkte, sondern die teuren unverpackten Alternativen. „Auf solche Kleinigkeiten achte ich am Sabbat bewusst." Es sei der höchste Feiertag im Judentum, der Tag an dem der Schöpfung gedenkt werde, „und das ist meine Interpretation". Natürlich gebe es Juden, für die es nur die eine Wahrheit gibt. „Ich habe auch schon mitbekommen, wie sich orthodoxe Juden über das liberale Judentum lustig machen." Andere gehen subtiler vor, verschenken beispielsweise Bücher über Kleidungsvorschriften. Doch Rosa will sich nicht beeinflussen lassen. Über die Sorgen ihres Vaters, der befürchtet, dass sich seine Tochter eine Perücke aufzieht und nach Israel auswandert, kann die junge Frau nur lachen.
„Nicht nur Juden sind gestorben"
Einzig der Gedanke, den Glauben nicht authentisch und glaubwürdig an ihre späteren Kinder vermitteln zu können, betrübt sie. Rosa glaubt weder an einen Gott noch an ein Leben nach dem Tod. „Es wäre vielleicht schön, wenn man das Gefühl hätte, dass nach dem Leben noch etwas kommt", sagt sie, aber der Glaube lasse sich nicht erzwingen. Das sei zwar schade, „aber es ist nicht so, dass ich in eine existenzielle Krise gerate". Sie werde mit ihren Kindern am Sabbat in die Synagoge gehen, jüdische Lieder singen, am Abend gemeinsam die Thora lesen. Und den Kindern Fragen zum Judentum stellen, ihre Wissbegierde wecken. Auch das sei ganz typisch in der jüdischen Kultur. „Meine Oma hat meiner Mutter immer gesagt, du bist jüdisch, du musst die Beste in der Schule sein, weil du ein Handicap hast." Wenn es wieder zu Pogromen käme, könne sie nichts mitnehmen außer ihrer Bildung.
Wenn Rosa heute auf die Stolpersteine blickt, fragt sie sich, warum niemand den Menschen geholfen hat. Von der Familie Adler haben drei Menschen den Holocaust überlebt. Das Schicksal weiterer Familienangehöriger ließ sich nicht rekonstruieren, steht auf einem der Stolpersteine. Jüdisch war die Familie Adler nicht. Längst erinnern die Stolpersteine auch an die vielen anderen Opfer, die während des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet und vertrieben wurden: Widerstandskämpfer, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Opfer der Euthanasie und Menschen, die als „Asoziale" geächtet wurden. „Ich habe mir eine deutsche Sinti-Familie rausgesucht, weil im Holocaust ja nicht nur Juden gestorben sind", sagt Rosa, die auf der Internetseite der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin auf die Geschichte der Familie Adler gestoßen ist. „Die Sinti waren wie die Juden absolut integriert, man hätte ihnen gar nicht angemerkt, dass sie nicht ursprünglich deutscher Herkunft sind."
Die ältere Dame, die nach den Namen der Familie gefragt hatte, sagt zum Abschied, „wie wunderbar, dass daran gedacht wird". Rosa lächelt.