Welche Menschen sind besonders suizidgefährdet? Und welche Gründe gibt es für Selbsttötung? Diese Fragen und viele mehr hat Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, beantwortet.
Herr Prof. Dr. Hegerl, wie viele Menschen begehen jährlich in etwa Suizid und Suizidversuche?
Wir haben in Deutschland jedes Jahr etwa 9.000 Suizide und es wird geschätzt, dass es etwa zehn- bis 20-mal mehr Suizidversuche gibt.
Ist die Anzahl der Suizide in den letzten Jahren gestiegen oder hat sie abgenommen?
In den letzten 40 Jahren gab es einen wunderbaren Rückgang der Suizidzahlen in Deutschland von jährlich etwa 18.000 auf jetzt circa 9.000 Suizide. Dies ist immer noch eine schrecklich hohe Zahl.
Woraus schließen Sie auf die gesunkenen Zahlen?
Die Zunahme der Diagnosen psychischer Erkrankungen (Vervielfachung bei Depression) und der Behandlungen sind die naheliegendste Erklärung. Die Menschen kommen aus der Isolation heraus.
Sind Frauen und Männer gleichermaßen betroffen? Und welche Unterschiede gibt es bezüglich des Alters?
Die meisten Suizide erfolgen im mittleren Lebensalter. Die Suizidraten nehmen jedoch mit dem Alter zu, in besonders bedrückender Weise bei den Männern. Das mit Abstand höchste Suizidrisiko haben alte Männer (Suizidraten bei Menschen älter als 85 Jahre: Männer circa 70 und Frauen circa zwölf Suizide pro 100.000 Einwohner). Männer haben zudem ab der Pubertät über alle Altersgruppen hinweg ein gegenüber Frauen mehrfach erhöhtes Suizidrisiko. Bezüglich der Suizidversuche ist es umgekehrt. Hier sind die Raten am höchsten bei jungen Frauen und Frauen haben auch insgesamt ein höheres Suizidversuchsrisiko als Männer. Diese verlaufen aber deutlich weniger tödlich, was sowohl an der Wahl weniger tödlicher Suizidmethoden als auch an der weniger tödlichen Ausführung liegt.
Wie werden Menschen nach gescheitertem Selbsttötungsversuch behandelt?
Alle Menschen nach einem Suizidversuch sollten von einem Facharzt für psychische Erkrankungen, das heißt von einem Psychiater, gesehen werden. Die meisten suizidalen Handlungen erfolgen im Kontext von psychiatrischen Erkrankungen, wobei die mit Abstand häufigste Ursache die Depression ist. Wir finden jedoch auch ein erhöhtes Suizidrisiko bei einer Reihe weiterer psychischer Erkrankungen wie zum Beispiel Suchterkrankungen, Essstörungen, schizophrenen Erkrankungen, manisch-depressiven Erkrankungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen.
Welche kritischen äußeren Ereignisse kommen für eine Selbsttötung infrage?
Äußere Faktoren werden als Ursache für Suizide in der Regel deutlich überschätzt. In den allermeisten Fällen liegt eine psychische Erkrankung zugrunde, die zu einer Fehleinschätzung der Lebenssituation, zu hohem Leidensdruck und Hoffnungslosigkeit führt. In der Depression werden in der Regel bestehende Probleme vergrößert wahrgenommen und ins Zentrum gerückt und dann fälschlicherweise als Ursache für die suizidale Handlung fehlinterpretiert. In einer größeren Studie in England wurden die Patientenakten von Millionen von Hausarztpatienten gesammelt. Im Laufe der Jahre kam es hier zu knapp 873 Suiziden. Es bestand nun die Möglichkeit, zu untersuchen, wie viele der Suizidopfer eine schwere körperliche Erkrankung hatten. Hier gab es eine Liste von Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Epilepsie und so weiter. Das Ergebnis war, dass 39 Prozent der Suizidopfer mindestens eine schwere Erkrankung hatten. Interessanterweise war jedoch die Zahl bei den Kontrollen – das heißt bei mehr als 17.000 hinsichtlich Alter und Geschlecht vergleichbaren Hausarztpatienten, die keinen Suizid begangen hatten – mit 37 Prozent fast genauso hoch. Dies bedeutet, dass diese schweren Erkrankungen keinen wesentlichen Einfluss auf das Suizidrisiko gehabt haben können. Bezüglich Krebsdiagnose wurde herausgefunden, dass diese bei 3,4 Prozent der Suizidopfer vorlag, jedoch auch bei 3,2 Prozent der Kontrollen. Wenn ein Patient angibt, dass er wegen der schweren Diagnose Krebs den Lebensmut verloren habe und sich das Leben nehmen möchte, so ist in der Regel davon auszugehen, dass nicht die Diagnose Krebs hier die Ursache der suizidalen Impulse ist, sondern vermutlich eine zugrundeliegende Depression. Dies ist eine Quelle häufiger Missverständnisse und Fehlzuordnungen der Ursachen suizidaler Handlungen.
Sind die meisten Suizide geplant oder gibt es viele Menschen, die sich spontan – etwa aufgrund einer akuten Krisensituation – umbringen?
Wie sich Impulse entwickeln und wann suizidale Handlungen durchgeführt werden ist sehr unterschiedlich. Hier gibt es Patienten im Rahmen schizophrener Erkrankungen, bei denen suizidale Impulse ganz plötzlich einschießen und weder für die Umgebung noch für den Patienten selbst ausreichend vorhersehbar und kontrollierbar sind. Bei anderen Menschen besteht oft seit vielen Wochen, manchmal auch Monaten, ein Suizidimpuls und der suizidalen Handlung geht eine lange Planung voraus.
Ist jeder, der nicht mehr leben möchte, automatisch anfällig für Suizid?
Unterscheiden muss man in diesem Zusammenhang zwischen Suizidgedanken und suizidalen Handlungen. Suizidgedanken kennt ein großer Prozentsatz der Allgemeinbevölkerung. Diese sind meist eine nicht krankhafte Reaktion auf schwierige Lebensumstände und gehen in aller Regel nicht in eine suizidale Handlung über.
Bei Suiziden und Suizidversuchen ist das anders. Etwa 90 Prozent aller Suizide erfolgen im Kontext psychiatrischer Erkrankungen. Dies haben sogenannte psychologische Autopsiestudien ergeben, für die bei Suizidopfern in systematischer Weise bei Hausärzten, Angehörigen oder Freunden nachgefragt wird, ob es Hinweise auf eine psychiatrische Erkrankung gegeben hat.
Gibt es Anzeichen, dass jemand an Selbsttötung denkt?
Für Ärzte gilt die Regel, dass man bei jedem Menschen mit einer Depression aber auch anderen schweren psychiatrischen Erkrankungen immer die Suizidalität abfragen muss, da viele Menschen darüber nicht spontan berichten und dann eine Suizidgefährdung leicht übersehen werden kann. Manche Menschen vertrauen sich mit ihren finsteren Gedanken aber auch ihren nahestehenden Menschen an. Dann ist es leichter, die Suizidgefährdung zu erkennen. Manchmal ist auch völliger Rückzug und andere Verhaltensauffälligkeiten, die wie ein Abschiednehmen aussehen, ein Hinweis darauf, dass möglicherweise eine Suizidgefährdung vorliegt.
Was kann man tun, wenn jemand aus dem Umfeld davon spricht, nicht mehr leben zu wollen?
Macht man sich Sorgen um einen Bekannten oder Angehörigen bezüglich einer Suizidgefährdung, so ist zum einen wichtig, diese Sorge auch anzusprechen und mit diesem Menschen ein Gespräch zu führen. Falls sich diese Sorge bestätigt, ist das Wichtigste, professionelle Hilfe hinzuzuziehen.
Manchmal ist der depressiv Erkrankte oder ein Mensch mit einer anderen psychischen Erkrankung nicht bereit oder in der Lage, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, trotz Unterstützung durch Angehörige, die anbieten, einen Termin zu vereinbaren oder den Erkrankten mit zum Arzt zu begleiten. Hier entsteht oft eine Situation mit großer Hilflosigkeit. Ein entscheidender Aspekt ist hier, ob eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht.
Ist dies der Fall, dann sollte man auch gegen den Willen des Betroffenen Hilfe organisieren. Das heißt, den Notarzt anrufen und bei ganz akuter Lebensgefahr auch die Polizei. Diese entscheiden dann vor Ort, ob eine stationäre Behandlung nötig ist.
Wie ernst sollte es genommen werden, wenn jemand – etwa nach der Beendung einer Beziehung durch den Partner – den eigenen Selbstmord androht?
Jede Suizidankündigung sollte ernst genommen werden, auch wenn man nicht ausschließen kann, dass von einzelnen Personen Suizidankündigungen als psychologisches Druckmittel verwendet werden. Aber auch in diesem Fall dürfte dies in der Regel Ausdruck von großer innerer Not sein.
Welche Präventionsmaßnahmen gibt es?
Entscheidend ist, dass Menschen mit Suizidgefährdung im Rahmen einer psychiatrischen Erkrankung konsequent diagnostiziert und behandelt werden. Hier ist wichtig zu wissen, wer Ansprechpartner ist. Facharzt für psychische Erkrankungen ist der Psychiater, wobei es hier auch Fachärzte für Psychosomatik und Psychotherapie gibt, und für jüngere Menschen Kinder- und Jugendpsychiater. Auch Hausärzte und psychologische Psychotherapeuten können erste Ansprechpartner sein. Psychologische Psychotherapeuten sind Psychologen mit einer Spezialausbildung, die wie Ärzte auch über die Kasse abrechnen können.