Der Historiker Thomas Schuler aus Köln beschäftigt sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Bonaparte und stellt das gängige Bild, das vom Kaiser der Franzosen gezeichnet wird, mit Hinweis auf zahlreiche historische Quellen infrage.
Herr Schuler, was macht Napoleon bis heute für die Menschen so faszinierend?
Er polarisiert bis heute nicht nur in der Weltliteratur, sondern auch in der Geschichtswissenschaft. Goethe und Heine verehrten ihn, Kleist und Tolstoi nannten ihn einen Satan und sprachen ihm alles Menschliche ab. Die Frage ist, wo ist zwischen Dämonisierung und Glorifizierung der echte Napoleon? Es gibt weit über eine Million Bücher zum Thema Napoleon, tatsächlich wurden über niemanden mehr Bücher geschrieben. Das wirklich Faszinierende ist, dass es in einzelnen Gebieten noch immer große Forschungslücken und objektiv überprüfbare Fehldarstellungen gibt, die aber als vermeintliche historische Fakten die offizielle Lehrmeinung bilden.
Woran liegt das, und woran machen Sie das fest?
Ein ganz großes Thema ist die Kriegsschuldfrage. Wer hat den Krieg angefangen? Das ist eine allemal relevante und wichtige Frage. Da ist das weitgehende Geschichtsbild so, dass es heißt, Napoleon sei größenwahnsinnig wie Hitler gewesen, er habe die ganze Welt erobern wollen. Er wird oft als Kriegstreiber und Größenwahnsinniger dargestellt, der kein Maß gekannt hat. Das ist es, was viele Historiker von sich geben und schreiben.
Sie sehen das anders?
Schauen Sie, wer hat denn die Napoleonischen Kriege angefangen? 1801/02 hat Napoleon Frieden mit ganz Europa geschlossen und wollte tatsächlich einen dauerhaften Frieden. 15 Monate zwischen 1802 und Mai 1803 herrschte Frieden in Europa. In dieser Zeit stellten die wichtigen Männer in London fest, mit einem starken Frankreich macht man nicht so gute Geschäfte. Konkret hat Napoleon einen Handelsvertrag abgelehnt, der die zollfreie Einfuhr britischer Waren nach Frankreich erlaubt hätte. Das kann man ihm nicht verübeln. Im Mai 1803 aber hat England 1.600 französische Handelsschiffe gekapert, die friedlich in den Häfen lagen. England hat somit ohne Kriegserklärung den Krieg eröffnet, der bis 1814/15 angedauert hat. Fast alle Koalitionskriege ab dann, mit Ausnahme des Sechsten, sind initiiert und finanziert von England. Alles Angriffskriege gegen Frankreich – mit zwei Ausnahmen von Napoleons Kriegen gegen Spanien und Russland 1812. Auf dieser Grundlage zu sagen, Napoleon sei der Kriegstreiber gewesen, entspricht nicht der historischen Wirklichkeit.
Und was ist mit der Zeit vor 1802?
Auch in der Zeit muss man ganz genau hinschauen. Im Ersten Koalitionskrieg war Napoleon noch ein völlig Unbekannter. Das war ein Angriffskrieg Frankreichs, ja, das revolutionäre Frankreich hat im April 1792 Österreich den Krieg erklärt. Napoleon ist da aber noch kein Entscheidungsträger, sondern einfacher Unteroffizier. Im Laufe des Krieges steigt er auf, tut sich in Toulon hervor, schlägt 1795 einen royalistischen Staatsstreich in Paris nieder. Beim Italienfeldzug 1796/97, immer noch Erster Koalitionskrieg, ist er inzwischen General, gewinnt und beendet den Krieg durch brillante militärische Manöver. Dann herrscht kurze Zeit Frieden. Im Zweiten Koalitionskrieg – ein Angriffskrieg gegen Frankreich – ist er noch immer General und nicht verantwortlicher Entscheider. Erst als er im November 1799 durch einen Staatsstreich die Macht ergreift, ist er ab diesem Zeitpunkt auch verantwortlich für den laufenden Krieg. Er schickt Friedensangebote nach London und Paris, die aber abgelehnt werden. Er war also gezwungen, den Krieg fortzusetzen. Anschließend schloss er Frieden.
Es heißt in der Literatur häufig auch, er habe als Feldherr wenig Rücksicht auf die eigenen Leute genommen…
Das stimmt so nicht. Es gibt Dutzende belegte Quellen, nach denen er nach Schlachten übers Schlachtfeld geritten ist und persönlich dafür gesorgt hat, dass die Verwundeten eingesammelt wurden – einschließlich der feindlichen, die auf gleiche Weise behandelt wurden. Auch hat er das Lazarettwesen allgemein revolutioniert und nach vorne gebracht, indem die Verwundeten schnellstmöglich mit tragbaren Holzkästen eingesammelt und versorgt wurden. Natürlich hat er, heute würde man sagen Blitzkriege geführt und seine Soldaten angetrieben, damit sich die Armeen möglichst schnell bewegten. Und natürlich wollte er seine Kriege gewinnen – wer will das im Krieg nicht? Aber persönlich rücksichtslos gegen die eigenen Soldaten? Die seriösen Quellen sagen da etwas ganz anderes.
Wenn es diese Quellen gibt, wie Sie sagen, wieso wird meist ein anderes Bild von Napoleon gezeichnet?
Es ist nun mal so, dass Geschichte immer von den Siegern geschrieben wird. In den Geschichtsbüchern wird künftig auch nicht stehen, dass die USA den Irak angegriffen haben, um die irakischen Ölreserven unter ihre Kontrolle zu bringen. De facto ist aber genau das passiert. Napoleon war der Verlierer, Europa wurde auf dem Wiener Kongress neu geordnet, und natürlich wurde nach 1815 auch in der französischen Geschichtsschreibung erst einmal anti-napoleonisch geschrieben. Jedes Land hat sich selbst als moralisch im Recht befindlichen Staat sehen wollen, und die Historiker auch. Mit der Zeit manifestiert sich das, und es ist nichts einfacher, als selektiv von anderen Historikern abzuschreiben. Gibt ja wie gesagt genügend Bücher. Es gab zudem nach 1815 eine politisch motivierte Tendenz, Napoleon in der Rückschau klein zu schreiben und sich selbst zu er- oder überhöhen. Das zeigt sich etwa auch im städtischen Denkmalbau – das Eiserne Kreuz in der Quadriga auf dem Brandenburger Tor in Berlin, die Trafalger-Säule in London oder der Triumphbogen auf dem Kutusow-Prospekt in Moskau sind Beispiele dafür. Sie alle sind Ausdruck nationaler Größe im Sieg gegen Napoleon. Dazu war es natürlich nötig, Napoleon jegliche moralische Berechtigung abzusprechen. Unabhängig von den Fakten, die dann eben keine Rolle mehr spielen.
Sie zeichnen demnach ein eher positives Bild von ihm.
Er war ganz sicher nicht nur positiv besetzt, er hat fraglos ganz entschieden menschlich dunkle Seiten gehabt. Beispielsweise hat er Leute erschießen lassen, etwa einen Nürnberger Buchhändler und dreifachen Familienvater 1806 – nur weil dieser eine antifranzösische Flugschrift verlegt hat. Er hatte sie nicht einmal selbst verfasst. Die Wahrheit zur Person Napoleons liegt irgendwo in der Mitte. Unterm Strich ist er aber sicher besser, als er allgemein dargestellt wird.
Sie vertreten auch die Auffassung, Napoleon sei keineswegs an Magenkrebs gestorben, wie das eine Expertenkommission 2007 geäußert hat, sondern er sei angeblich vergiftet worden. Die Vergiftungstheorie ist keineswegs neu, was aber macht Sie so sicher, dass sie die richtige ist?
Ich habe mir schlicht unzählige Quellen und Fachliteratur, einschließlich der Studie von 2007, sehr gründlich angeschaut und ausgewertet. Anhand der Auswertung komme ich in Einbeziehung des gesunden Menschenverstands zu dieser Aussage. Fakt ist, dass Napoleon als er auf Sankt Helena ankam bei bester Gesundheit war. Seine physische Konstitution war legendär. Fakt ist auch, dass es ihm ab Mitte 1816 anfängt, schlecht zu gehen.
Was noch nicht gegen Magenkrebs spricht …
Doch. Der Verlauf eines Magenkrebses von der Diagnosestellung bis zum Ableben ist laut Aussage eines renommierten Internisten in der Regel ein Jahr. Napoleon aber war auf Sankt Helena rund vier Jahre lang krank. Weiter hat der schwedische Forscher Sten Forshufvud vor Jahrzehnten 21 Haarproben Napoleons anonym an verschiedene gerichtsmedizinische Institute zur Untersuchung geschickt, die alle aus der Zeit auf Sankt Helena zwischen 1815 und 1821 stammen. Die Institute wussten nicht, wessen Haare sie untersuchten. Die Untersuchungen haben einen bis zu 65-fach erhöhten Arsenwert ergeben. Die Expertenkommission hat dies 2007 mit dem Hinweis verworfen, man könne ja nicht wissen, ob dies wirklich Napoleons Haar gewesen sei. Das konnte Forshufvud auch nicht zweifelsfrei sagen. Was er sagen konnte, war, dass alle Haarproben von ein und derselben Person stammten. Haare haben die gleiche unverkennbare Struktur, wie ein Fingerabdruck. Wenn man jetzt weiß, dass fast alle der 21 Haarproben von direkten Nachfahren Napoleons stammen, die weltweit verstreut sind, würde das ja bedeuten, dass alle 21 Haarproben von derselben falschen Person stammen müssten. Die Nachkommen leben in Melbourne, New York, London –
das ist an den Haaren herbeigezogen, wenn ich das Wortspiel machen darf.
In der Literatur findet man aber diverse schlüssige Erklärungen für die Arsenwerte, die alle nicht zwangsläufig auf eine absichtliche Vergiftung hindeuten …
Ja, unter anderem die sogenannte Tapetentheorie findet man häufig in der Presse: Napoleon habe das Arsen über die Farbe in der Tapete eingeatmet. Zum einen wären dann aber auch seine Offiziere und deren Familien, die in unmittelbar benachbarten Zimmern mit denselben Tapeten wohnten, betroffen gewesen. Die meisten erfreuten sich noch eines jahrzehntelangen Lebens, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass auch sie erkrankten. Außerdem hat der elsässische Toxikologe Pascal Kintz 2001 in aufwendigen Laboruntersuchungen festgestellt, dass es sich bei den Spuren in Napoleons Haaren „zu 97 Prozent um mineralisches Arsen gehandelt hat und nicht um organisches, das zur damaligen Zeit in Tapetenfarbe enthalten war. Dieses muss ihm also über den Blutkreislauf, etwa über den Magen, verabreicht worden sein."
Okay. Sie haben aber erwähnt, Sie könnten die Vergiftung anhand der Quellen belegen. Welche konkreten Beweise haben Sie für diese Theorie?
Das Magengeschwür streite ich gar nicht ab, das war fraglos da. Aber es war eine Folge der Vergiftung. Arsen, über einen längeren Zeitraum in kleinen Dosen verabreicht, kann zu Magenkrebs führen. Liest man die Quellen der medizinischen Berichte Napoleons (Etwa die Memoiren des Kammerdieners Napoleons, Anm. d. Red.) und die Quellen unzähliger Augenzeugenberichte, so sind dort mehr als 20 von 33 klassischen Symptomen zu finden, die zu erheblichem Teil nicht zu einem Magenkrebs passen, aber zweifelsfrei zu einer Arsenvergiftung. Tatsächlich passen 98 Prozent der Symptome zu einer entsprechenden Vergiftung. Das sind etwa Photophobie, also eine Abneigung gegen helles Licht, Taubheit, extreme Schwäche der Beine, starke Geschwüre an den Knöcheln, ein Erkalten der Gliedmaßen, auch im heißen Sommer und extreme Gewichtszunahme auf Sankt Helena – zu der es allerdings unterschiedliche Aussagen gibt –, um nur einige zu nennen. Doch beides hat ihn letztlich nicht umgebracht.
Also ist er lediglich indirekt an Magenkrebs gestorben?
Ja und nein. Letztlich getötet hat ihn ein Medikamentencocktail, der ihm zwei Tage vor seinem Tod verabreicht wurde. Napoleon litt zu diesem Zeitpunkt nachweislich an einer schweren Verstopfung, wohl auch eine Nebenwirkung der Vergiftung. Verstopfungen wurden damals mit Calomel, einem Quecksilberchlorid, behandelt. Gegen den ausdrücklichen Rat von Napoleons Leibarzt und auf ausdrückliches Drängen des Offiziers Charles-Tristan de Montholon – mutmaßlich Napoleons Mörder – hat ein englischer Militärarzt Napoleon 630 Milligramm Calomel gegeben. Wenngleich eine aberwitzig hohe Dosis, war diese eigentlich harmlos. In Verbindung mit Blausäure allerdings verwandelt sich Quecksilberchlorid zu Quecksilberzyanid, und das ist ein tödliches Gift. Blausäure wiederum befindet sich in Bittermandeln, um deren Beschaffung sich Montholon laut unterschiedlicher Quellen nachweislich bemüht hatte. Dieses Getränk wurde Napoleon verabreicht, zwei Tage später war er tot.
Warum ist dies damals nicht bemerkt worden? Napoleon wurde doch obduziert?
Der Mörder war vorausschauend, wissend, dass eine Autopsie gemacht werden würde. Arsen war dahingehend aber eine ziemlich sichere Methode. Erst seit 1836 ist es gerichtsmedizinisch nachweisbar, eine chronische Arsenvergiftung ist sogar erst seit einer deutschen Studie von 1930 belegbar. Von ihm beabsichtigterweise wurde Montholon zum Haupterben Napoleons eingesetzt – und erhielt zwei Millionen Goldfranc.