Der Mensch Napoleon Bonaparte fasziniert die Menschen auch noch 200 Jahre nach seinem Tod. Für die einen war er ein Schöngeist und Reformer, für die anderen ein grausamer Kriegstreiber. Der Versuch eines Porträts.
Beim schwäbischen Oberelchingen, bloß ein paar Steinwürfe von der A8 entfernt, ist es gelegen. Besonnt und friedlich, an einer bildschönen Klosterkirche. Vor deren Pforten ein riesiges gelbes Rapsfeld – getränkt mit unzähligen Litern menschlichen Blutes und unsäglichem Leid. 1805, in der Schlacht bei Elchingen, kamen dort an die 2.800 österreichische und französische Soldaten um, wobei die österreichische Seite bei Weitem den höchsten Blutzoll entrichtete. Die Zahl der Verwundeten lag bei 3.000. Die ganze Nacht hindurch waren das Schreien und die Wehklagen der sich unversorgt auf schneebedeckter Erde krümmenden Sterbenden und Schwerverwundeten weithin zu hören. Die seinerzeit 500 Einwohner des Ortes erlebten Pfarrer Baumgartner zufolge in diesen Tagen „nichts als Tumult, Rauben, Plündern, Türen und Kästen zerschlagen, die Leute quälen, das Vieh schlachten". Nachdem auf einem Pulverwagen „Kanonenpatronen in Feuer geraten" waren, sei ein Bauerntöchterlein „noch am gleichen Tag gestorben, weil es am ganzen Leib verbrannt war".
Napoleon reitet heran, legt einem tödlich Verwundeten seiner Kämpfer seinen eigenen Stern der Ehrenlegion in die Hände und hält eine Rede, in der er seinen ihm großteils durchaus innig ergebenen Soldaten in hehren Worten seine Zufriedenheit bekundet. Zwei Tage darauf besucht er die rokokoeske Klosterkirche und gibt sich entzückt von deren weiß-güldener Pracht. Bonaparte zieht weiter nach Austerlitz, wo er in der Drei-Kaiser-Schlacht den entscheidenden Triumph über Russen und Österreicher erringt – seinen bedeutendsten militärischen Erfolg. Errungen um den Preis von etwa 1.300 Toten und 7.000 Verwundeten auf französischer Seite, 15.000 auf Seiten der Alliierten. Den Leichnam von Oberst Morland legt man zur Konservierung kurzerhand in ein Fass Rum, und man erbaut eine Siegessäule auf der Pariser Place Vendôme, gegossen aus 133 feindlichen Kanonen.
Mit 1,68 Meter war er damals keinesfalls klein
Rückblende: 1769 wurde im korsischen, von Frankreich unterjochten Ajaccio ein Kind namens Napoleone Buonaparte geboren, das in den Weltenlauf mit bis heute stark nachwehenden Folgen eingreifen sollte. Dazu musste er allerdings erst einmal Französisch lernen. Der Korse krönte sich 35 Jahre später selbst prunkvoll zum Kaiser der Franzosen und düpierte damit nicht nur den Papst. Doch bereits zehn Jahre danach begab sich die Familie Buonaparte ins Exil und lebte meist unter falschem Namen. Was war geschehen?
Der gar nicht so kleine Napoleone Buonaparte – er maß um die 1,68 Meter, ein damals überdurchschnittliches Maß – besaß brillante geistige Gaben. Obwohl er Französisch zeitlebens nicht akzentfrei zu sprechen vermochte, durchraste er eine atemberaubende militärische Karriere: Mit 24 Jahren wurde er zum Brigadegeneral befördert, bereits mit 26 Jahren wurde er Kommandeur der französischen Armee in Italien, mit 28 Oberbefehlshaber der „England-Armee".
Der französische Historiker Jacques Godechot urteilte später, Napoleon sei ein „ehrgeiziger Despot gewesen, der weder an die Volkssouveränität noch an den Volkswillen geglaubt habe". Nichtsdestotrotz faszinierte dieser Gewaltmensch mit dem filzenen Zweispitzhut nebst roter Kokarde die damalige Welt – darunter friedliebende Geisteskoryphäen wie Goethe, Hegel, Heine und Morgenstern – in einer heute kaum mehr nachvollziehbaren Weise.
Goethe war ein großer Bewunderer
Wie mochte man einen Revoluzzer so anhimmeln, der durch seine aggressive Expansionspolitik auf den Schlachtfeldern dreieinhalb Millionen Tote und unermesslichen, unvergessenen Schrecken hinterließ? Pendeln das seine weittragenden Neuerungen wie der Code civil etwa aus? René Descartes meinte lange zuvor: „Die größten Seelen sind zu den größten Lastern wie auch zu den größten Tugenden fähig." Napoleons Laster war das schlimmste Übel auf Erden: der Krieg. Er focht in kaum 20 Jahren mehr Schlachten als Hannibal, Cäsar und Karl der Große zusammen: 66 persönlich geführte an der Zahl, von seiner ersten in Montenotte bis zur letzten in Waterloo.
Und er war beileibe nicht zimperlich: Beim sogenannten Massaker von Jaffa (das heutige Tel Aviv) ließ Napoleon mindestens 2.000 osmanische Kämpfer niedermetzeln. Die Franzosen hatten ihre Gefangenen, meist Albaner, dazu ans Meer verschleppt, wo sie mit Bajonetten erstochen oder standrechtlich erschossen wurden. Dieser gnadenlos Herrschsüchtige, der sich durch einen Staatsstreich an die Macht putschte – was die meisten Staaten jedoch nicht daran hinderte, ihn als „Kaiser" anzuerkennen – beschäftigte sich indes auch mit Glaubensfragen. „Ich kenne die Menschen und ich sage Ihnen, dass Jesus kein Mensch ist. Alles an Christus erstaunt mich. Sein Feuer beeindruckt mich tief und seine Willenskraft beschämt mich."
Goethes Bewunderung galt weniger dem Schlachtenlenker, vielmehr dem genialen Tatmenschen („Was für ein Kerl") und seinen Wohltaten, seinem Schaffen systemischer Ordnung, auch in der deutschen Kleinstaaterei. Das Wohlwollen beruhte auf Gegenseitigkeit: Napoleon soll „Die Leiden des jungen Werther" dermaßen geschätzt haben, dass er ihn gar auf seine Feldzüge mitnahm. Er lud den Autor zum Frühstück und verlieh ihm das Ritterkreuz der französischen Ehrenlegion.
Indirekt eingeläutet durch den Sieg von Admiral Nelson in der Seeschlacht bei Trafalgar, entzweite sich Napoleon 1812 mit dem russischen Kaiser und marschierte mit einem nie gesehenen Vielvölkerheer aus 500.000 Soldaten gen Moskau – nur rund 30 Prozent davon waren Franzosen. Doch der Russland-Feldzug geriet zum Desaster. 450.000 Soldaten büßten ihr Leben ein; auf russischer Seite schätzt man an die 400.000 Gefallene.
Fernab auf Sankt Helena im Südatlantik – wohin ihn die Briten deportieren und wo er sich übrigens in Englisch unterrichten ließ, seine Vokabelhefte wurden 2011 versteigert – erinnerte sich Napoleon: „Die Schlacht vor Moskau ist die schrecklichste gewesen, die ich je geschlagen habe." Sein Bedauern rührte indes kaum aus Menschenliebe. Womöglich plagte ihn eher, dass er den Feldzug lotterig geplant hatte.
Noch 1789 war Frankreich mit 26 Millionen Menschen das am dichtesten bevölkerte Land Europas. Doch den ungeheuren Blutzoll der vom Korsen entfesselten Angriffskriege, denn solche waren es zumindest aus moderner Warte, hat es bis heute nicht überwunden. Die napoleonischen Kriege forderten zirka 1,8 Millionen Opfer. Vor allem Franzosen, doch eben auch Polen, Deutsche, Belgier.
Der bedeutende Historiker Veit Valentin zürnte düster: „Hatte dies Genie nicht zwei Generationen von Söhnen europäischer Mütter in einen heißen und bitteren Tod hineingehetzt? Konnte man vergessen, mit welcher Verachtung er dies Kanonenfutter aufs Schlachtfeld zwang? Konnte man vergessen, dass er das bisschen Glück und Gut und Zufriedenheit und Behagen, die Arbeit des Bürgers rücksichtsloser, grausamer als irgendein Kriegsgott vor ihm hineinriss in die Orgie seiner Weltherrschaft?"
Ein erbärmlicher, jammervoller Rückzug aus Russland also. Bei extremer Kälte – zeitweise minus 37 Grad, die Napoleons Rotweinvorräte aus Gevrey-Chambertin platzen ließen – litten und starben die Flüchtenden unter unsäglichen Strapazen, verhungernd, in völliger Trostlosigkeit, für sich allein und fern der Heimat. Ein durchnässter Liebesbrief war meist alles an verbliebener Habseligkeit. Die Gesichter wurden durch den Wind blutig geschlagen, Nasen und Ohren fielen durch die eisige Kälte ab. Beim Übergang über die Beresina ritten und stiegen die Ausgezehrten über Berge aus Toten, zerquetschten und aufgeschlitzten Tierkadavern. Doch selbst inmitten des Horrors gab es Menschlichkeit und Heldenmut, wie bewegende Zeugnisse belegen. Von den prächtigen Uniformen, die einst die Kampfmoral steigern sollten, blieben nur Fetzen übrig; manche kamen gar in erbeuteten Pelzmänteln zurück, die ihnen das Leben retteten.
„Man kann keinen Eierkuchen backen, ohne Eier zu zerschlagen"
Jüngst wurden noch die sterblichen Überreste 120 russischer und französischer Soldaten gemeinsam in Viazma, einer westrussischen Stadt, mit militärischen Ehren bestattet. Wenn es denn tatsächlich „Franzosen" waren, denn Napoleon kämpfte buchstäblich bis zum letzten Deutschen. Letztere, vorwiegend zum Kriegsdienst gezwungene Truppen, wurden von den französischen Generälen eher als Kanonenfutter missbraucht. Darunter auch die Württemberger, meist erst 20 bis 25 Jahre jung; sie krepierten in ihren einst schmucken Uniformen. Der württembergische Kavallerie-Offizier Heinrich Vossler entrann dem Tod, doch nicht dem Grauen: „Bald erreichte ich das Schlachtfeld, zuerst einzelne Leichen, darauf ganze Haufen. Kaum fand mein Pferd Raumes genug für seine Tritte, oft musste ich über die Leichname wegreiten. Hier hatte die württembergische Infanterie den härtesten Strauß zu bestehen gehabt, und hier traf ich hunderte von Leichen in württembergischen Uniformen. Lange hielt der grauenvolle Anblick mich gefesselt, und tief prägte sich mir die furchtbare Scene ein. Noch im spätesten Alter werde ich ihrer nur mit Schaudern gedenken."
Nicht jene idealisierenden Historiker haben recht, die die großen Kriegsherren allzu gerne einseitig nach ihren guten Leistungen für die Menschheit beurteilen, sondern – zumindest gleichwertig – jene „kleinen Leute", die nach den Toten in ihrer Familie und den erlittenen Schrecknissen urteilen. Was nützen ihnen das Metermaß und der Rübenzucker, wenn sie drei Klafter tief unter dem Erdboden verwesen? Natürlich hat Brecht völlig recht: „Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte untergegangen war. Weinte sonst niemand?"
Im Gegensatz zum spanischen Monarchen weinte Bonaparte eben nicht. War er es doch, der über seine Opfer zynisch äußerte: „Man kann keinen Eierkuchen backen, ohne ein paar Eier zu zerschlagen." Am Ende verstarb der „Empereur" selbst, verbittert, in der Verbannung, am 5. Mai 1821. Er endete nicht schmählich wie andere Diktatoren, die uns Leichenberge hinterließen. Aber er wurde Opfer von Leichenschändung, durch Arzt und Kaplan, die beide manchem als inkompetent und ungehobelt galten: Sie stahlen etliche Körperteile, die später gar „unter den Hammer" kamen.
Man kann Napoleon als Ex-Kaiser titulieren, aber Ex-Diktator könnte ihm selbst zufolge doch besser passen: „Europa ist eine alte, verrottete Hure, mit der ich mit 800.000 Mann alles tun kann, was mir gefällt." Und er tat es.