Anmutig, edel und so inspirierend: Die neue, von der Frührenaissance geprägte sommerliche Haute-Couture-Kollektion des Luxuslabels Dior entführt in eine fantastische Welt, fernab der Realität.
Der große Modeschöpfer Christian Dior (1905 – 1957) war sehr abergläubisch. Schon im zarten Alter von 14 Jahren nahm er erstmals Kontakt mit einer Wahrsagerin auf. Später pflegte er stets diverse Glücksbringer in seinen Jackentaschen mit sich zu führen. Und vor wichtigen Lebensentscheidungen oder Modeschauen hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, sich persönlichen Rat durch das Legen von Tarotkarten zu holen. Dass auch seine aktuelle Nachfolgerin an der Kreativspitze des noblen Fashion-Labels namens Maria Grazia Chiuri ein ähnlich stark ausgeprägtes Faible für dieses Kartenspiel hat, dessen Herleitung aus ägyptisch-hebräisch-kabbalistischen Ursprüngen reine Spekulation ist, das sich aber nachweislich seit dem Ende des 14. Jahrhunderts in Europa immer weiter ausgebreitet hat, hatte sich schon bei ihrer Tätigkeit für den früheren Arbeitgeber Valentino ganz dezent angedeutet.
Nachdem Chiuri 2016 das Dior-Ruder übernommen hatte, wagte sie schon in den beiden Folgejahren einen ersten Ausflug in modische Tarot-Fantasiewelten, beispielsweise mit Abendkleidern aus Taft oder dem sogenannten Schicksalsradkleid. Beim Stöbern in den Tiefen des Hausarchivs war sie auf entsprechende Vorlagen von Christian Dior aus den Jahren 1951 und 1952 gestoßen, beispielsweise auf sein Glückssternkleid. Und hatte offenkundig bei der Ideenfindung für die Haute-Couture-Kollektion Sommer 2021 die Zeit für gekommen angesehen, sich ganz dem Thema Tarot zu widmen und nahezu sämtliche Entwürfe nach diesem mystischen Sujet auszurichten. Weil schon lange nicht mehr die Sehnsucht nach einer besseren, heileren Welt so groß war wie in aktuellen Corona-Tagen. Und da Traumwelten auch fantastische Kleider erfordern, wandte sich Maria Grazia Chiuri bereitwillig wieder ab von einem in den letzten Jahren auf den Haute-Couture-Schauen zu beobachtenden Trend hin zu mehr tragbaren oder gar alltagstauglichen Kreationen. Und kehrte stattdessen zu modischen Kunstwerken zurück, mit denen die damit betrauten ehrwürdigen Pariser Meisterschneider-Ateliers ihre handwerkliche Meisterschaft bei der Verarbeitung kostbarster Stoffe und Materialien unter Beweis stellen konnten.
Digitale Präsentation fand in toskanischem Schlösschen statt
Da die hochwertigsten, handbemalten, sündhaft teuren Tarotkarten im italienischen Quattrocento in den mächtigen herzöglichen Stadtstaaten rund um Mailand oder Florenz entstanden waren, ist es nicht weiter verwunderlich, dass Chiuri als Inspirationsquelle für die 45 Looks der Haute-Couture-Kollektion ein ganz spezielles, wegen seiner fast Vollständigkeit weltberühmtes Kartenset ausgewählt hatte. Nämlich das sogenannte Pierpont-Morgan-Bergamo Tarocchi, das auch unter dem Namen „Visconti-Sforza-Tarocchi" bekannt ist. Es wird meist dem Frührenaissance-Maler Bonifacio Bembo Mitte des 15. Jahrhunderts im Auftrag der Herzöge von Mailand zugeschrieben. Zwar strömen die meisten Kleider oder Capes aus Brokat, Shantungseide, Taft oder Devoré-Samt samt überreichlichen Goldzierfäden und aufwendigen Stickereien ein Frührenaissance-Flair à la Botticelli aus. Aber im Dekor oder der Ornamentik hat sich Chiuri nicht direkt an die Tarot-Vorgaben gehalten, sondern in Zusammenarbeit mit dem römischen Künstler Pietro Ruffo eine Neuinterpretation der im Original aus Gold und Emaille bestehenden Flora und Fauna geschaffen. Wobei auf figürliche Darstellungen, die die Trumpfkarten des Spiels geziert hatten, beispielsweise in Gestalt des Narrs, des Magiers oder des Herrschers, komplett verzichtet wurde.
Zur digitalen Präsentation der modischen Fantasywelt wurde ein Château du Tarot erschaffen, wofür ein toskanisches Schlösschen als Location ausgewählt wurde. Visuelles Ergebnis einer dreimonatigen Kooperation Chiuris mit dem italienischen Regisseur Matteo Garrone war ein 15-minütiger Film, in dem die auch als Model tätige römische Schauspielerin Agnese Claisse als junges Mädchen in ständig wechselnden Roben und Personifizierungen durch die Hallen und Räume des Schlosses wandelt und dabei auf verschiedenste mystische Wesen aus dem klassischen Tarotspiel trifft. Laut den Interpretationsanleitungen aus dem Hause Dior unternimmt sie dabei eine spirituelle Reise zur Selbsterkenntnis und überschreitet laut Regisseur Garrone die Grenzen zwischen den Geschlechtern, was in der Schlusssequenz in einem homoerotischen Nackt-Finale in einer steinernen Wanne mündet. Der Film ist ruhig, um nicht zu sagen langweilig, weil auf jegliche dramaturgische Spezialeffekte wie überraschende Hell-Dunkel-Einlagen verzichtet wurde.
Dior-Klassiker werden sachlich-androgyn
Die Story beginnt zudem ziemlich unkonventionell mit dem Besuch der in einem klassischen Dior-Kostüm samt Pillbox-Hut und Fascinator-Netz bekleideten Protagonistin bei einer Tarot-Wahrsagerin. Was eigentlich nicht gänzlich zum Dior-Bezug auf die Tarotkarten aus dem Mailand des 15. Jahrhunderts passt, weil Wahrsagerei und Esoterik erst im 18. Jahrhundert bei den Karten Einzug gehalten hatten. Die Verwandlung der Frau in ein junges Mädchen beginnt nach dem Ziehen der Tarotkarte der Hohepriesterin und nach der Frage nach dem eigenen Ich: „Wer bin ich?" Die Unsicherheit der Hauptdarstellerin bezüglich der eigenen Persönlichkeit wird im Laufe des Films auch durch den überraschenden Wechsel zwischen historischen Kleidungsstücken/Gesamtlooks samt weißem Pferd und zeitgemäßen Neuinterpretationen von Dior-Klassikern auf sachlich-androgyner Mädchengestalt samt entsprechend burschikosem Pixie-Kurzhaarschnitt zum Ausdruck gebracht. Statt Brokatroben oder Plisseekleidern tauchen dann plötzlich ein schwarzer figurbetonter Samtanzug, eine Kombination aus Cropped-Jacket und High-Waisted-Hosen oder auch Diors Bar-Jacke auf.
Regisseur Matteo Garrone drehte den Film
Aber atemberaubend sind natürlich die bodenlangen Kreationen im Renaissancestil, die nicht nur von der Protagonistin getragen werden, sondern auch die weiblichen Tarot-Figuren-Darstellerinnen umhüllen. Etwas aus dem Rahmen heraus springt die Närrin mit ihrem bunt-schillernden, kurzen und weit ausgestellten Kleidchen, das wie aus der Comedia dell’arte entliehen daherkommt. Die Närrin taucht ganz zu Anfang des Films auf und gibt dem Mädchen pantomimische Hilfestellung beim Auftreten vor dem Thron der Gerechtigkeit. Die Roben von Teufelin, Tod, Mond, Stern, Sonne, Richterin oder der Gehängten wirken, als seien sie direkt aus der Garderobe einer Caterina de’ Medici entliehen. Auch wenn der Ausschnitt der Teufelin für das Quattrocento natürlich viel zu offenherzig ausgefallen ist. Nicht zu vergessen der spektakuläre Kopfschmuck mit reichlich Perlen und stilisierten Blumen sowie ein grazil geflochtenes Stiefel-Schuhwerk in leuchtendem Silber und Gold. „In Zeiten, in denen wir oft alleine sind und viele Momente des Reflektierens haben", so Maria Grazia Chiuri, „kann die Magie, die man hinter Tarotkarten findet, neue Hoffnung schenken."
Der Tarot-Film war übrigens schon die zweite Zusammenarbeit Chiuris mit dem Regisseur Matteo Garrone. Denn dieser hatte auch für Diors Haute-Couture-Präsentation Winter 2020 einen märchenhaften Streifen gedreht, bei dem als Pagen verkleidete Hauptdarsteller Miniaturkleider in einem kleinen, portablen Dior-Köfferchen zu Fabelgestalten transportiert hatten. Die dann nach Begutachtung der kaum 20 Zentimeter großen Entwürfe ihre Bestellungen aufgegeben hatten. Damit wurde an ein Stück Modegeschichte erinnert, schließlich wurden früher Mannequins getaufte Modepuppen mit den neuesten Kreationen von den Schneidern oder Putzmachern zu vermögenden Kundinnen mitgenommen oder gar in einer Art Wanderausstellung rund um die Welt verschickt.