Jackie Brenston und Tina Turners Ex-Mann Ike nahmen vor 70 Jahren in Sam Phillips Studio in Memphis/Tennessee „Rocket 88" auf. Der Song erschien im April 1951 als Single. Die erste richtige Rock’n’Roll-Platte der Welt markiert die Geburtsstunde der modernen populären Musik.
In den 1950er-Jahren sind Antikommunismus, Verschwörungstheorien und Rassentrennung in den USA allgegenwärtig. Die Fiftys stehen aber auch für die Kultur des Aufbegehrens. Der Drang nach Freiheit und die Rebellion gegen die bürgerliche Moral sorgen für den Urknall einer neuen musikalischen Bewegung, den Rock’n’Roll.
Als der farbige US-Sänger Jackie Brenston (21) und der farbige Pianist Ike Turner (19) am 3. oder 5. März 1951 die Memphis Recording Service und späteren Sun Studios des weißen Produzenten Sam Phillips (28) betreten, ahnen sie nicht, dass sie Musikgeschichte schreiben werden. Der elektrisierende, urwüchsige Zwölf-Takt-Blues „Rocket 88" aus ihrer Feder hat bereits alles, was den Rock’n’Roll einmal auszeichnen soll: ungewöhnlich schnelle 170 Beats pro Minute, lasziven Gesang, eine raue Spielweise inklusive lauter, übersteuerter und verzerrter E-Gitarrenklänge, die unbeabsichtigt auf den kaputten Röhrenverstärker Willie Kizarts (19) zurückgehen.
Aus dieser Transistorverzerrung soll später eine eigene Musikrichtung entstehen, die mal Garage Rock, mal Psychedelic Rock genannt wird. „(I Can’t Get No) Satisfaction", der größte Hit der Rolling Stones, ist das bekannteste Beispiel für den sogenannten Fuzz-Effekt. 1956 kopiert Little Richards zudem Ike Turners prägnantes Piano-Intro für seinen Hit „Good Golly, Miss Molly".
Als „Rocket 88" im April 1951 bei Chess Records als Single Nr. 1.458 erscheint, verschweigt das in Chicago ansässige Label die Mitwirkung von Bandleader Ike Turner und dessen Rhythm Kings. Auf dem Cover werden der Sänger Jackie Brenston und die Gruppe „Delta Cats" genannt. Das und der große Erfolg der Single bei einer weißen Hörerschaft (Nummer eins der Rhythm & Blues-Charts) führen schließlich zu einem Zerwürfnis der Musiker. Turner soll an der innovativen Platte nur 40 Dollar verdient haben. Sie führt den Themenkomplex Autos, Sex und Alkohol in die Popularmusik ein. Insbesondere der Cadillac soll eine immense Bedeutung für die US-amerikanische Jugendkultur bekommen. Doch erst 1991 würdigt die Rock and Roll Hall Of Fame „Rocket 88" als ersten Rock-’n’-Roll-Song überhaupt.
Sam Phillips entdeckte den jungen Elvis
Ausgerechnet ein übergewichtiger Familienvater aus Michigan ist der erste Weiße, der den vulgären, rebellischen und lärmenden Musikstil Rock’n’Roll definiert. Sein Name: Bill Haley (29). Äußerlich ist er alles andere als Elternschreck, Jugendidol oder Krawallmacher. Die gemeinsam mit den Comets eingespielte LP „Rock Around The Clock" ist das erste Rockalbum, das in die US-Charts gelangt. Die gleichnamige Single erschien bereits im Mai 1954 und ist die erste Rock-’n’-Roll-Nummer an der Spitze der Billboard-Pop-Charts. Im Zuge seines massiven Erfolgs wird Bill Haley von den Medien als „Vater des Rock’n’Roll" tituliert.
Zum größten Star dieser neuen Bewegung wird allerdings ein 19-jähriger Lkw-Fahrer aus Tupelo/Mississippi: Elvis Presley. Im Frühjahr 1954 macht er in Memphis/Tennessee die Bekanntschaft des bereits erwähnten Sam Phillips. Der Besitzer des winzigen Sun Records Studios an der Union Avenue ist auf der Suche nach einem weißen Countrysänger mit einer Rhythm-’n’-Blues-Stimme. Im Sommer 1954 trifft Presley im Tonstudio erstmals auf den Gitarristen Scotty Moore (22) und den Bassisten Bill Black (28). Als er in einer Pause am Mikrofon herumalbert und spontan die Blues-Nummer „That’s All Right (Mama)" von Arthur Crudup intoniert, steigen Black und Moore nacheinander in die Session mit ein. In dem Moment entdeckt Phillips in Elvis’ Stimme das gewisse Etwas: eine geheimnisvolle erotische Anziehungskraft.
Sam Phillips kommt es mehr aufs Gefühl als auf technische Perfektion an, und so sucht er stets nach der perfekten unperfekten Aufnahme. Der Produzent erweist sich als Innovator, indem er beim Abmischen Elvis’ Stimme zurücknimmt zugunsten der Instrumente, was damals absolut unüblich ist. Zudem verwendet er bei den Aufnahmen einen Echoeffekt, indem er das Tonband durch einen zweiten Recorder laufen lässt. 1956 wechselt der junge Star Elvis Presley schließlich vom regionalen Sun- zum nationalen RCA-Label. Seinen neuen Produzenten gelingt es jedoch nicht, den charakteristischen Sun-Records-Sound zu imitieren.
Seine nächste Single „Heartbreak Hotel" entwickelt sich zum größten Hit des Jahres 1956. Der Rolling Stone wählt sie in seiner Liste der 500 besten Singles der Musikgeschichte auf Platz 45. Am 23. März 1956 erscheint das Album „Elvis Presley". Für sein LP-Debüt greift der inzwischen 21 Jahre alte Sänger auf Rock-’n’-Roll- und Rockabilly-Songs aus der Sun-Zeit und neuere Titel zurück. Für RCA wird es der erste Millionenseller in seiner Geschichte. Noch im selben Jahr tut Presley sich mit Johnny Cash (24), Carl Perkins (22) und Jerry Lee Lewis (21) zum Million-Dollar-Quartett zusammen. Ein Schlüsselmoment in der Geschichte des Rock’n‘Roll.
Chuck Berry wurde anfangs betrogen
Seither ist der (weiße) Sänger Elvis Presley unzählige Male kopiert worden. Der (schwarze) Chuck Berry hat das Nachahmen hingegen nicht nötig. Seine erste Aufnahme macht der Gitarrist und Sänger mit 18 Jahren im Spätsommer 1954 in den Premiere Studios im schwarzen Elendsviertel von St. Louis/Missouri. Die Songs werden noch unter seinem bürgerlichen Namen Charles Berry veröffentlicht.
Im April 1956 nimmt er als Chuck Berry „Roll Over Beethoven" auf. Die Single verkauft sich millionenfach und hält als einer von 50 historisch bedeutsamen Titeln Einzug in die Forschungsbibliothek des US-Kongresses. Berrys Manager will ihn zum schwarzen Elvis aufbauen, aber dieser macht lieber sein eigenes Ding.
Mit harten, lauten und ungeschliffenen Gitarrensongs wie „Rock’n’Roll Music", „Johnny B. Goode" oder „Sweet Little Sixteen" vollzieht er den nahtlosen Übergang vom Rhythm and Blues zum furiosen, provozierenden Rock’n’Roll. Seine neuartigen Lieder gehen ins Rock-’n’-Roll-Gedächtnis ein, weil sie Schlachtrufe mit Anheizer-Potenzial sind. Doch im rassistischen Amerika der 1950er-Jahre ist ein eigenwilliger schwarzer Jugendheld wie Chuck Berry nicht gefragt. Seine Songs werden gerade wegen ihrer unverwechselbaren Gitarrenriffs später zwar von den Beatles und Rolling Stones aufgenommen, aber er selbst wird immer wieder von windigen Geschäftsleuten und Managern betrogen.
Das macht Berry mit der Zeit zu einem übellaunigen, misstrauischen Zeitgenossen. Nichtsdestotrotz gilt der 2017 verstorbene Musiker heute als der wahre Gott des Rock’n’Roll.
30 Millionen verkaufte Platten binnen zwei Jahren
Einer der wenigen Farbigen, die ab 1955 in der ersten Liga der Rock’n’Roll-Künstler mitspielen dürfen, ist Little Richard (23). Der Sänger und Pianist aus Macon/Georgia ist anders als seine musikalischen Zeitgenossen, bekennt sich offen zu seiner Homosexualität und tritt ungemein exzentrisch auf. Ob mit ondulierter schwarzer Tolle, grellem Make-up oder glamourösem Spiegelscherbenanzug – als besessener Zeremonienmeister macht Little Richard von Anfang an eine gute Figur. Ein rebellischer und kantiger Geist, dessen selbstzerstörerische Konzerte Orgien gleichen. Richard selbst nennt sich überkandidelt „King of Rock". Tatsächlich werden seine aggressiven Songs wie „Tutti Frutti" oder „Long Tall Sally" Dekaden später häufig gecovert. David Bowie sah sich selbst in Richards Nachfolge.
Innerhalb von zwei Jahren bringt Little Richard sagenhafte 30 Millionen Platten an den Mann. Genauso plötzlich wie sein Auftauchen ist sein Abgang: Ende 1957 beschließt er nach Sichtung eines Feuerballs am Himmel mit dem „bösen Rock’n’Roll" radikal zu brechen und vorübergehend Prediger zu werden. Er stirbt 2019 im Alter von 87 Jahren.
Rock-’n’-Roll-Pioniere wie Plattenfirmengründer Art Rupe (103), Sänger Jerry Lee Lewis (85) oder Gitarrist James Burton (81), der mit seinem „Hot-Tele-Sound" die Musik Elvis Presleys und Ricky Nelsons prägte, sind mittlerweile deutlich ruhiger. Aber eines ist sicher: Ohne sie gäbe es heute keine Rockmusik.