Wie ist die dritte Welle zu brechen? Durch mehr Schwung beim Impfen oder durch die Bundesnotbremse? Nötig ist beides, aber bloß keine Halbherzigkeiten.
Die Impfwelle rollt. Die Agenturen melden, dass mehr als 20 Millionen Menschen in Deutschland bereits mindestens eine Dosis bekommen haben, Tendenz steigend. Die Hausärzte drücken aufs Gas und fordern mehr Impfstoff an. Termine sind begehrt, es gibt Menschen, die ein Dutzend oder mehr Praxen anrufen, bis sie einen Termin bekommen. Die Impfgegner bleiben unter sich, laut Robert Koch-Institut (RKI) lag der Anteil derjenigen, die sich „auf keinen Fall" impfen lassen möchten, Ende März bei nur 4,1 Prozent. Doch noch ist Deutschland mit einem Fünftel an Geimpften weit weg von der Herdenimmunität, die bei 60 bis 70 Prozent erreicht wird. Auch weiß niemand so genau, wie wirksam der Schutz nach der ersten Impfung gegen bösartige Mutationsviren ist. Über die Zeit zwischen Erst- und Zweitimpfung wird debattiert: Manche Experten meinen, je schneller, desto besser. Andere finden eine Zeitspanne von drei bis vier Monaten vertretbar. Es wird wohl vom Nachschub an Impfdosen abhängen. Die Millionen Dosen Astrazeneca, die für die zweite Impfung schon mal eingelagert wurden, sollen aufgebraucht werden, damit es voran geht.
Doch das schlechte Image, dass Astrazeneca anhängt wie Mundgeruch, stört selbst gutwillige Impfbefürworter. Auch wenn nach allen Tests keine Gefahr für über 60-Jährige besteht, möchte man gerne auswählen. Das geht gerade deswegen nicht, weil von den vier Vakzinen – Biontech/Pfizer, Moderna, Astrazeneca und Johnson & Johnson – zu wenig da ist (außer von Astrazeneca). Also gibt es keine freie Wahl.
Umgekehrt sind mittlerweile fast alle der 70- bis 80-Jährigen und Älteren geimpft. Jetzt kommen die 60- bis 70-Jährigen dran. Und da hat mancher Hausarzt Probleme, genügend Patienten zu finden, um seine Impfdosen loszuwerden, zumal die Prioritätenliste der Stiko strikt eingehalten werden soll. Impfdosen, die übrig waren, sollen in Rheinland-Pfalz auch schon einmal vernichtet worden sein. Dabei spricht nichts dagegen, einen 50-jährigen Lehrer, der täglich mit Dutzenden Schülern in Kontakt ist, mit Astrazeneca zu impfen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er schwere Nebenwirkungen erleidet, ist weit geringer als die, sich mit Covid-19 anzustecken. Aber eine Behörde in Deutschland weicht nicht so schnell ab, wenn sie einmal etwas geregelt hat.
Gerade bei Lehrern, Kita-Mitarbeiterinnen und Verkäuferinnen hat sich die Impfkampagne von ihrer unflexiblen Seite gezeigt: Ausgerechnet als Jens Spahn Ende Februar diesen Berufsgruppen kostenlose Antigen-Schnelltests und einen vorgezogenen Impftermin in Aussicht stellte, geriet der vorgesehene Impfstoff Astrazeneca in Verdacht, schlimme Nebenwirkungen bei den unter 60-Jährigen auszulösen. Am 15. März wurde das Mittel ausgesetzt. Damit entfiel auch das Versprechen der Kanzlerin, ab 1. April täglich 700.000 Menschen zu impfen.
Ende März zeichnete es sich ab, dass die Konferenzen der Ministerpräsidenten plus Kanzlerin (MDK) keine Lösung bringen, weil jedes Land nach der gemeinsamen Sitzung seinen eigenen Stiefel macht. Merkel setzte kurz nach Ostern die Konferenzen aus, warnte eindringlich vor der dritten Welle, rief zum Handeln auf – aber drei Wochen lang passierte erst einmal praktisch nichts.
Ausgangssperre erhitzt die Gemüter
Inzwischen hat die Bundesregierung unter dem Stichwort Bundesnotbremse ein neues Infektionsschutzgesetz ausgearbeitet und dem Bundestag vorlegt. Was drinsteht, unterscheidet sich kaum von dem, was die letzte MDK verabschiedet hatte – nur dass sich niemand daran hielt. Die von der Regierung vorgesehenen Maßnahmen, die als „Notbremse" bei einer Inzidenz über 100 an drei Tagen hintereinander wirksam werden sollen, landen also noch einmal auf dem Tisch und werden zerpflückt. Am Schluss bleiben: Ausgangssperre ab 22 Uhr statt ab 21 Uhr, Inzidenz beim Einkaufen („Click and meet") 150 statt 100 (mit Test), Schulschließungen statt ab 200 nun ab 165, verbreitete Tests in den Schulen, eine wöchentliche Testpflicht in sämtlichen Betrieben, und Homeoffice, wann immer möglich. Für die Epidemiologen sind alle drei Werte zu hoch: Sie plädieren dafür, die Zahlen erst herunterzudrücken und dann Regulierungen zu treffen. Besonders bei der angedrohten Ausgangssperre erhitzten sich die Gemüter. Was war passiert? Kaum war klar, dass es eine nächtliche Regelung geben wird (damit das Partyvolk zu Hause bleibt), meldeten sich die Aerosol-Forscher zu Wort und erklärten, im Freien sei die Ansteckungsgefahr mit dem Virus eher minimal. Also darf man bis 22 Uhr statt bis 21 Uhr draußen sein, Hundebesitzer und Jogger gar bis 24 Uhr. Tests in den Schulen? Psychologen warnten, dass sich Kinder mit einem positiven Ergebnis diskriminiert fühlen könnten. Also zu Hause? Aber wer bescheinigt das Ergebnis? Kostenpflichtige Angebote kamen von den neuen Testzentren. Sie sprossen aus dem Boden und erwiesen sich als gutes Geschäft. Auch Leute ohne Qualifikation konnten sie betreiben, ein Arzt muss nicht dabei sein. Schließlich meldeten sich auch die gebeutelten Einzelhändler zu Wort. Sie wollten nun auch nicht wieder alles ganz dicht machen, wenn eine bestimmte Inzidenz erreicht war, und setzten das Konzept „Click and meet" durch: Wer nachweist, dass er nicht ansteckend ist, also negativ getestet wurde, kann in jeden Laden einkaufen gehen. Steigt der Inzidenzwert über 150, ist nur noch das Abholen bestellter Waren möglich („Click and collect"). Ausgenommen von Schließungen bleiben der Lebensmittelhandel, Getränkemärkte, Reformhäuser, Babyfachmärkte, Apotheken, Sanitätshäuser, Drogerien, Optiker, Hörgeräteakustiker, Tankstellen, Zeitungsverkäufer, Buchhandlungen, Blumenläden, Tierbedarfs- und Futtermittelmärkte und Gartenmärkte.
Zwischendurch kam die Frage auf, was mit denen ist, die bereits den vollen Impfschutz intus haben. Eigentlich dürften für sie keine Einschränkungen mehr gelten, weder Maskenpflicht noch Kontaktverbote. Schon sind gefälschte Impfpässe zu Preisen von 1.500 Euro und mehr aufgetaucht. Aber statt über „Wiederherstellung der Rechte" wird über die „Abschaffung von Privilegien" diskutiert und eine „Impfpflicht durch die Hintertür" beschworen: Wenn Nicht-Geimpfte auch einmal essen gehen wollten, wären sie gezwungen, sich impfen zu lassen. Diskriminierung! Dabei ist die Sache eigentlich ganz einfach: Den Pikser hinter sich haben doch zum großen Teil die älteren Herrschaften, also die, die meist Geld haben. Und wenn sie in den Restaurants, in die sie hineindürften, kräftig zahlen, dann wäre das ein Beitrag zum Überleben der Gastronomie, mindestens, bis die anderen auch kommen dürfen.
Mit der Zustimmung des Bundesrats und der Unterschrift des Bundespräsidenten sind die neuen Regeln in Kraft. Wie lange sie gelten sollen, ist nicht ganz klar: offiziell solange es eine „epidemische Notlage von nationaler Tragweite" gibt, das bedeutet bis 30. Juni. Sie können aber auch verlängert werden. Auch die Frage, wie es sich auswirkt, wenn der Nachbarkreis so niedrige Grenzwerte hat, dass Geschäfte und Schulen (und womöglich auch Gaststätten) wieder offen sind, während 30 Kilometer weiter sämtliche Einschränkungen strikt eingehalten werden müssen, ist offen. Werden die Bürger brav zu Hause bleiben oder „Shoppingtourismus" betreiben? Bleibt die Hoffnung auf eine große Impfwelle, die der dritten Infektionswelle die Spitze nimmt. Erst wenn das Virus keine Opfer mehr findet, ist es besiegt.