Die Menschen brauchen in der Pandemie eine Perspektive. Die Frage ist nur: Kam diese zum richtigen Zeitpunkt? Und gibt es den überhaupt? Dr. Jürgen Rissland, Chefvirologe an der Uni-Klinik Homburg, über Impfstoffe, Strategien und Modelle zur falschen Zeit.
Herr Rissland, die Impfkampagne läuft seit Ende 2020. Welche Auswirkungen auf die Pandemie kann man bereits feststellen?
Insbesondere bei den über 80-Jährigen sowie in Alten- und Pflegeheimen, wo viele Ältere auf engstem Raum leben, sehen wir ganz deutlich eine rückläufige Entwicklung bei den Infektionen mit Sars-CoV-2 und der damit verbundenen Sterblichkeit. Das zeigt, dass die Priorisierung der Ständigen Impfkommission (Stiko) richtig gewesen ist, bei diesen vulnerablen Personengruppen mit der Impfung zu beginnen.
Derzeit beobachten wir ein weitaus größeres Infektionsgeschehen bei den Jüngeren und Personen mittleren Alters, die aufgrund der empfohlenen Priorisierungsreihenfolge bisher weitaus weniger beziehungsweise noch gar nicht geimpft wurden. Wir sehen zudem, dass jüngere Menschen einen schweren Covid-19-Verlauf und im Vergleich zu älteren Personen eine höhere Liegedauer in Krankenhäusern haben können. Ob die höheren Infektionszahlen und die damit verbundene längere Verweildauer in Kliniken auf die ersten Öffnungsschritte im März im Saarland oder auf die weitaus gefährlichere und ansteckendere britische Virusvariante B.1.1.7 zurückzuführen sind, lässt sich Stand Mitte April noch nicht eindeutig beantworten.
Großbritannien ist in Europa vom anfänglichen Prügelknaben in der Pandemiebekämpfung zum Musterknaben „mutiert" dank der konsequenten Impfstrategie. Warum funktioniert das in Deutschland weniger gut?
In Großbritannien hat die Impfkampagne etwa drei Wochen früher begonnen als hierzulande. Premierminister Boris Johnson hat zudem sehr früh eine Entscheidung getroffen, wie die Kampagne zum Beispiel mit größeren zeitlichen Abständen zwischen zwei Impfungen umzusetzen ist, als noch gar nicht so viele verlässliche Daten vorlagen. Im November und Dezember 2020 hatte ja kaum jemand Erfahrungen, wie die neuen mRNA Impfstoffe wie Biontech oder die vektorbasierten Impfstoffe wie Astrazeneca gegen Coronaviren tatsächlich wirken. Er ist also zu dem Zeitpunkt sicherlich auf Anraten seiner Fachleute ein gewisses Risiko eingegangen, das zugegebenermaßen belohnt wird.
In Deutschland hat man mittlerweile die Abstände zwischen den beiden Impfungen deutlich vergrößert und somit ebenfalls für mehr Flexibilität beim Einsatz von Impfstoffen gesorgt. Das Problem aber bleibt, dass Impfstoffe zurzeit weltweit eine knappe Ressource sind.
Die Virus-Mutationen erschweren die Eindämmung der Pandemie. Wie schützen die derzeitig verfügbaren Impfstoffe?
Es ist eine Eigenschaft der RNA-Viren, zu mutieren. In einem weltweiten Monitoring werden diese Entwicklungen ständig beobachtet, analysiert und festgehalten. HI(V)-Viren beispielsweise mutieren vergleichsweise oft, Influenza-Viren deutlich weniger als HIV und Sars-Viren wiederum seltener als Grippeviren.
Derzeit ist die britische Virus-Variante B.1.1.7 im Saarland mit über 90 Prozent am Infektionsgeschehen klar auf dem Vormarsch, während die südafrikanische Variante rückläufig ist.
Das Gute daran ist zumindest, dass wir anhand der belastbaren Zahlen sehen, dass die Impfungen gegen die britische Variante schützen. Ziel einer Impfung ist es, schwere Krankheitsverläufe oder den Tod bestmöglich zu verhindern. Alle derzeit in Deutschland zugelassenen Impfstoffe erreichen das, und das ist eine positive Botschaft. Außerdem sind nach Aussagen der Hersteller die derzeitigen mRNA-Impfstoffe schnell, sprich in wenigen Wochen, an Veränderungen anzupassen.
Wie sehen Sie aus virologischer Sicht die Verabreichung von zwei komplett unterschiedlichen Impfstoffen bei Erst- und Zweitimpfung?
Ich sehe das eher gelassen, denn im Kern basieren alle Impfstoffe auf dem Impf-Antigen des Spike-Proteins des Corona-Virus. Am Ende eines komplexen Prozesses steht die gleiche Wirkung. Natürlich laufen derzeit noch entsprechende Studien und die Verabreichung von zwei verschiedenen Impfstoffen bei der Erst- und Zweitimpfung konnte in dieser Form zuvor nicht geprüft werden. Hier sollte man trotzdem nach der Empfehlung der Stiko vorgehen. Nach dem Motto „jede Impfung zählt".
Ab wann rechnen die Wissenschaftler damit, dass eine Auffrischungsimpfung nötig ist?
Belastbare und zuverlässige Daten können aufgrund der geringen Zeit noch gar nicht vorliegen. Die Impfstoffhersteller schauen aber schon seit Beginn der klinischen Studien vor der Zulassung auf die Langzeit-Wirksamkeit. Es ist davon auszugehen, dass im Laufe des zweiten Halbjahres die Diskussion um eine Auffrischungsimpfung an Fahrt gewinnt. Dann sollten aber auch die meisten impfwilligen Menschen geimpft sein und ausreichend Impfstoffe zur Verfügung stehen, so dass es zu keinen Engpässen mehr kommt.
Bei Menschen mit bereits durchlaufener Infektion schützen Antikörper übrigens mindestens sechs Monate, sagt die Stiko.
Kritiker verweisen bei der schleppenden Impfkampagne oftmals auf die hohe Bürokratie. Warum reichen Name, Geburtsdatum, Sozialversicherungs- oder Steuer-ID-Nummer bei der Impfung nicht aus?
Diese Ansicht teile ich so nicht. Vor dem Start der Impfkampagne wurde sehr viel über Sicherheit und Wirksamkeit von Impfstoffen gegen das Coronavirus diskutiert. Die erhobenen Daten sind für das Monitoring absolut wichtig, um Risikosignale frühzeitig zu erkennen. Die entsprechende Aufklärung gehört ebenfalls dazu.
Die Überwachung der Impfstoffe funktioniert in Deutschland, das hat der Umgang mit Astrazeneca gezeigt. Aus fachepidemiologischer Sicht wird richtig gehandelt, auch wenn das für viele Menschen auf den ersten Blick sehr bürokratisch wirkt.
Sie begleiten wissenschaftlich das bundesweit viel beachtete, aber auch kritisierte Saarland-Modell zur Bekämpfung der Corona-Pandemie bei gleichzeitigen Öffnungsschritten. Was läuft Ihrer Meinung nach gut, was hätte man besser machen können?
Grundsätzlich ist ein anderes Denken in der Pandemiebekämpfung sinnvoll, also ein Konzept, das nicht nur auf Eskalation setzt, sondern auch auf Deeskalation. So wie es mein virologischer Kollege aus Bonn, Hendrik Streeck, formuliert hat: „Anstatt eines Hammers brauchen wir ein Skalpell."
Angesichts der hohen Infektionsdynamik und der Größe des Modells, es betrifft schließlich das ganze Saarland, stellt sich allerdings die Frage, ob der Start des Saarland-Modells ein günstiger Zeitpunkt war. Es ist ja kein böser Wille, wenn Fachleute darauf hinweisen.
Ein Modellprojekt braucht klare Rahmenbedingungen, klare Spielregeln und klare nachvollziehbare Indikatoren. Das scheint mir noch zu wenig ausgereift und nicht zu Ende gedacht zu sein. Während die grüne und gelbe Phase in diesem Modell nachvollziehbar sind, sehe ich nicht genau, wann genau die kritische Grenze erreicht ist, um die Ampel auf Rot zu stellen. Es gibt einen Stufenplan des RKI und eine Reihe von Indikatoren, die zu einem Set zusammengestellt werden können. Aspekte wie Infektionszahlen, Belegung der Intensivstationen, dynamische Entwicklungen, differenziertes Vorgehen bei Schließungen, all das muss in dieses Modell einfließen.
Worin liegt die Gefahr eines solchen Modells?
Von einem Modellprojekt geht in der Regel eine Signalwirkung aus, verbunden mit gewissen Erwartungen. So etwas weckt bei den Menschen die Hoffnung auf ein Stück weit mehr Normalität, die letztendlich enttäuscht werden, wenn wieder alles geschlossen werden muss.
In einer idealisierten Welt bräuchten wir gar keine Modelle. Aber Menschen verhalten sich auch in Pandemiezeiten nun einmal nicht durchgehend rational, halten Abstand und beachten alle Regeln. Das ist eine Illusion. Die handelnde Politik kann eigentlich immer nur reagieren, um uns vor uns selbst zu schützen.
Trotz Impfungen und Tests werden wir mit dem Virus leben lernen müssen. Nur Lockdowns helfen nicht weiter, Menschen brauchen Perspektiven. Welche Hoffnung können Sie uns mit auf den Weg geben?
Wir haben mittlerweile viel mehr Informationen über das Virus und befinden uns auf einem guten Weg in der Pandemiebekämpfung. Die Impfquote könnte sicherlich besser sein, aber ich bin optimistisch, dass das in einem halben Jahr anders aussieht und der Weg zurück in die Normalität gelingt.