Er ist Kabarettist, Regisseur, Schauspieler und Musiker: Serdar Somuncu. Der Deutsch-Türke spaltet mit gezielter Provokation die Gemüter. Nach monatelangem Lockdown und abgesagten Tourneen kommt er mit seiner neuen Show „XStream – Latenight" ausschließlich als Livestream auf die Bühne.
Herr Somuncu, wir führen dieses Interview per Telefon. Wie kommen Sie als Publikumsmagnet mit der derzeitig nötigen Distanz klar?
Meine Tour ist jetzt zum vierten Mal verschoben worden und zwar auf Herbst 2022. Aber im Sommer spiele ich bereits ein paar kleinere Auftritte. Gott sei Dank habe ich die letzte Vorstellung aufgezeichnet und kann sie auf anderem Wege anbieten. Manchmal bin ich deprimiert, und dann fehlt es mir wirklich sehr, auf die Bühne gehen zu können. Und manchmal bin ich froh und nehme die Zwangspause wie einen Urlaub wahr. Aber eigentlich spornt Corona mich an. Ich habe viele neue Ideen, die ich sonst vielleicht nicht gehabt hätte. Oft denke ich: „Wenn ich jetzt auf die Bühne könnte, was würde ich da alles sagen!" Dann knallt es eben nach innen statt nach außen.
Ihr neuestes Format „XStream – Latenight" soll vorerst vierteljährlich als Livestream zu sehen sein. Ist das Konzept so extrem, dass alle Fernsehsender aus Angst abgewunken haben?
Es ist gar nicht dazu gekommen, dass die Fernsehsender Angst haben durften, weil ich es präventiv niemandem angeboten habe. Ich will mich nicht mehr beschränken lassen von irgendeiner Blase, in der vermeintliche Meinungsführer entdecken, was man sagen darf und was nicht. Mich dem auszusetzen trotz aller redlichen Absichten ist mir zu anstrengend. Gott sei Dank habe ich mittlerweile die Möglichkeiten, solch eine Show im Internet unabhängig von Sendern und Reaktionen zu präsentieren. Ein Kabarettist und Satiriker braucht dafür auch die Freiheit, manchmal ironisch zu sein, selbst wenn er dafür in Kauf nehmen muss, missverstanden zu werden. Wer diesen Kontext allerdings absichtlich nicht versteht oder weil ihm das Vermögen dazu fehlt, tut der Sache unrecht. Diese ganze Übersensibilität nervt nur noch.
Über Kabarett und Satire in Deutschland wird gerade viel gestritten. Darf man zum Beispiel ohne Rücksicht auf Verluste Witze über Minderheiten machen oder ist es gerade Diskriminierung, wenn man keine Witze über Minderheiten macht?
Will jemand auf der Bühne einfach nur einen Lacher erzeugen, ohne eine Absicht damit zu verfolgen, ist das meist ein schlechter Witz mit einem üblen Nachgeschmack. „Wir fackeln heute die Bude ab, also quasi ’ne Chris-Tall-Nacht", ist zum Beispiel kein Witz für mich. Ich mache mich auch nicht über brennende Affen im Krefelder Zoo lustig. Oder darüber, dass ich eine Freundin habe, die im Originaltext mit dem Z-Wort bezeichnet wird und mich beim Sex angeblich nach Wertsachen abtastet. Nach einem Amoklauf wie dem in Halle würde ich zum Beispiel auch keinen Judenwitz erzählen. Es kommt also vor allem darauf an, wer ihn macht, warum und wann der Witz gemacht wird. Man darf Aussagen aber auch nicht aus ihrem Kontext reißen, um damit seine eigene Empörung zu transportieren. Diejenigen, die solche Vorwürfe äußern, verhalten sich selbst oft widersprüchlich. Meine Rolle wurde zum Beispiel häufig von älteren weißen Frauen als Macho oder Kerl bezeichnet, so als würde ich im Moment meiner angeblichen Verfehlungen auf mein Geschlecht und meine Herkunft reduziert werden dürfen. Das ist mindestens genauso rassistisch und sexistisch. Das ärgert mich. Erst dann, wenn sich niemand mehr angesprochen fühlt, weil er sich zu einer Minderheit zugehörig fühlt, ist die Gesellschaft wirklich frei von Rassismus.
Was wollen Sie als Gastgeber anders machen als Maischberger, Illner, Will, Plasberg und Lanz, deren Talkshows einander ähneln?
Wir machen erst mal keine Talk-, sondern eine Late-Night-Show. Bei uns gibt es einen Stand-up, Gäste und eine Band, aber keine Schere im Kopf, sondern wir brechen aus dem Standardmuster des Fernsehprinzips aus.
Im Internet gelten andere Regeln. Vor allem gibt es bei uns niemanden, der ängstlich im Hintergrund sitzt und alles mitschreibt, um bloß die nächste Anzeige zu vermeiden. Wir wollen uns darauf verlassen, dass unsere Zuschauer uns verstehen. In meinen Shows gibt es immer das Schenkelklopfen und das Aufklärerische. Wobei ich es manchmal sogar riskiere, diejenigen zu verlieren, die nur lachen wollen.
„XStream Latenight" versteht sich als interaktive Show, in der die Zuschauer vom Sofa aus live in die Interviews eingreifen können – und sollen. Welchen Mehrwert hat das?
Ich kann die Zuschauer sehen und hören, und sie können mit mir sprechen, aber es wird kein heilloses Durcheinander sein. Es geht uns darum, eine möglichst authentische Atmosphäre zu erschaffen. Man soll das Gefühl haben, persönlich dabei zu sein.
Welche Menschen möchten Sie in Ihre Show einladen?
Meine Zielgruppe ist von acht bis 80, von deutsch bis türkisch. Meine Sätze sind sicher nicht immer leicht zu verstehen, aber manchmal auch zu einfach. So wie den einen das brachial herausgeschleuderte Fäkalwort stört, so irritiert den anderen der Schachtelsatz. Deshalb kann unser Publikum nicht unterschiedlich genug sein.
Gibt es wichtige Stimmen, die derzeit nicht gehört werden?
Ich habe da keine Vorbehalte, ich würde auch Attila Hildmann, Michael Wendler oder Ken Jebsen einladen. Auch alle drei auf einmal. Ob die dann sinnvollere Dinge sagen, ist eine andere Frage.
Wie würden Sie sich auf ein Gespräch mit diesem Trio Infernale vorbereiten?
Die Vorstellung ist verlockend, ich merke das gerade. Ich habe schon in meiner Sendung auf N-TV gezeigt, wie man mit solchen Leuten umgehen kann. In einer Episode redete sich zum Beispiel der AfD-Mann Stephan Brandner um Kopf und Kragen. Er wusste nicht mal, wie viele Menschen hierzulande nicht deutscher Herkunft sind und sagte einfach „zu viele". Auch konnte er nicht die Anzahl der Flüchtlinge nennen, die im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen sind. Ich habe den Vorteil, dass ich das als Theatermensch sehr formlos machen kann, ich bin ja kein Journalist. So kann ich eine Behauptung aufstellen, die ich im nächsten Moment wieder ändere.
Was wollen Sie damit erreichen?
Dieses Irritierende ist ein sehr gutes Tool, um aufzuzeigen, wie Demagogie funktioniert, wenn man sie nicht so ernst nimmt. Die meisten Talk-Moderatoren scheitern an ihrer eigenen Ernsthaftigkeit, während die Nazis, die in diesen Shows sitzen, richtig aufblühen. Mit allem, was sie sagen, können sie so ambivalent sein, dass sie damit ihr Gegenüber erschrecken. Wenn ich mich als Moderator aber nicht erschrecken lasse, weil ich selbst ambivalent bin, fängt das Gegenüber an zu rudern. Ich glaube, das würde auch bei Hildmann, Jebsen und Wendler passieren. In dieser Währung ergeben übrigens drei Verschwörungstheoretiker eine Alice Weidel. Die würde mir als Gast schon reichen.
Sie planen auch ein Special zur Bundestagswahl am 26. September. Welche unbequemen Fragen würden Sie gern der AfD stellen?
Ich würde mich gar nicht so sehr auf die AfD fixieren. Im Moment kann man unbequeme Fragen auch gern den Volksparteien stellen. Dann sieht man, wie sehr es die AfD verpasst, von dieser Krise zu profitieren. Wenn sie sich zur richtigen Zeit auf die Seite der Querdenker gestellt hätte, hätte sie viel gewinnen können. Gott sei Dank hat sie es verpasst. Wir können froh sein, dass sie sich gerade zersetzt und ihre Sogwirkung verliert. Wir müssten den Blick mal auf die CDU richten.
Was läuft bei der CDU alles schief?
Sie ist maßgeblich in Regierungsverantwortung und bekommt es seit einem Jahr nicht hin, die Basics zu organisieren. Warum kosten verpflichtende FFP2-Masken immer noch Geld? Warum ermöglicht man Leuten, mit Masken Profit zu machen und macht den Schwarzhandel auf? Warum gibt es nicht an jeder Ecke kostenlose Schnelltests? Warum brauchen die Impfstoffe so lange? Warum wird Astrazeneca plötzlich infrage gestellt? Warum ist die Bundesregierung nicht in der Lage, die brachliegenden Branchen mit einer Perspektive auszustatten? Auf der anderen Seite haut sie neun Milliarden Euro für die Lufthansa raus, die im selben Atemzug 5.000 Mitarbeiter entlässt.
2016 wollten Sie der erste türkische Bundeskanzler Deutschlands werden. Haben Sie heute noch politische Ambitionen?
Politik ist mir zu schmutzig. Da muss man viel lügen, korrupt sein und ein ganz dickes Fell haben. Dafür bin ich zu sensibel. Ich streite mich gern um die Wahrheit.
Aber wenn ich mir selbst etwas vormachen muss und mich dabei fühle wie eine Prostituierte für die Anliegen anderer Leute, bin ich fehl am Platz. Die Kunst ist für mich ein viel sichereres Feld als die Politik.
Die Corona-Pandemie ist verheerend für die Subkultur der Städte. Viele Musikclubs kämpfen gegen Verdrängung und Gentrifizierung. Haben Sie noch Hoffnung für den Underground?
Ich sehe da düstere Zeiten auf uns zukommen. Die Subkulturszene ist ja jahrelang mühsam aufgebaut worden. Zum Teil war sie dann so etabliert, dass sie subventioniert wurde. Kulturzentren liegen aber seit zwölf Monaten still. Und der Staat zahlt noch nicht einmal die Novemberhilfe aus. Auf der anderen Seite hat er bereits Gelder ausgezahlt an Leute, die er jetzt für Terroristen hält. Die Verteilungsgerechtigkeit ist nicht genug durchdacht worden. Stattdessen rät der Bundesgesundheitsminister den Menschen, zu Hause zu bleiben, geht aber selbst auf einen Spendenempfang, wo er 9.999 Euro für die CDU einsammeln will – und infiziert sich da mit Corona. Und dann wundert man sich, dass Leute, die zu Verschwörungstheorien neigen, auf die Straße gehen und „Lügenpresse" brüllen. Die Politik spaltet im Moment die Bevölkerung.
Wie lautet Ihr Reformvorschlag für die politische Kultur in Deutschland?
Ich würde zuerst einmal die Widersprüche aufdecken. Die gegenwärtigen Inzidenzzahlen sind höher als im November, Tendenz steigend, aber alle sprechen von Lockerungen. Das ist absurd. Im Augenblick ist das Ganze so chaotisch, dass die am lautesten schreiende Lobby die meisten Rechte bekommt. Die Politik agiert momentan sehr kopflos. Sie sollte dafür sorgen, dass es flächendeckend Möglichkeiten gibt, um dieser Krankheit aus dem Wege zu gehen. Dazu gehören Schnelltests und kostenlose FFP2-Masken.
Wie schaffen Sie es bei all den Ungerechtigkeiten, nicht Ihren Humor zu verlieren?
Ich bin in den letzten Monaten viel humorloser geworden. Aber der Glaube an meine Arbeit richtet mich immer wieder auf. Sie ist wahrhaftig und appelliert im Kern an das Gute im Menschen. Ich bin seit Jahren im Sinne der Aufklärung für Toleranz und ein friedliches Miteinander und gegen Faschismus und Antisemitismus unterwegs. Was ich aber seit einigen Monaten erlebe, ist erschreckend: Faschistoide Strukturen bei Twitter, wo Leute in ihrer eigenen Blase sind, und sich innerhalb von Sekunden Shitstorms auftürmen. Müssen die sich untereinander beharken, wo doch so viele echte Faschisten unterwegs sind, und man die Kräfte eigentlich sinnvoll bündeln könnte? Das führt dazu, dass derjenige Gehör bekommt, der am lautesten schreit und Leute, die eine intensive, aber leise Arbeit machen, nicht mehr gehört werden.
Hass und Hetze sind im Netz allgegenwärtig. Hat Ihre Bühnenfigur Hassias die Fähigkeit, negative Energie in positive umwandeln?
Ganz sicher. Ich bin in den Startlöchern für das neue Programm „Das Vierte Reich". Ich werde jetzt Seelenheiler. Das habe ich mir unter anderem von dem kroatischen Wunderheiler Braco abgeguckt. Er stellt sich einfach nur auf eine Bühne und schweigt zehn Minuten. Dafür kriegt er 30.000 Euro. Bhagwan sagte, wir müssen uns von allen materiellen Zwängen befreien, während er am linken Arm eine Million Euro teure Uhr trug. Sadhguru hält in Indien große Kongresse und vermittelt den Menschen etwas Spirituelles. Das ist eine Marktlücke. Wir brauchen wieder mehr Vertrauen in die Liebe. Ich bin der geeignete Mann für den liebevollen Umgang miteinander, weil ich weiß, wodurch Hass entsteht.
Ist das Altersmilde?
Das ist eher ein Coming-out. Die Zeiten ändern sich. Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir klarere Ansagen brauchen. Wir haben es gar nicht mehr nötig, auf unterschiedlichen Metaebenen unterwegs zu sein. Die Zeit der einfachen Satire ist vorbei. Wir müssen jetzt unsere Stimmen einsetzen, um vielleicht sogar Politik mit unseren Mitteln zu machen. Das zu erkennen, ist Aufgabe des Publikums – und sei es noch so intellektuell.
Verstehen Sie sich auch ein bisschen als Therapeut Ihres Publikums?
Als Selbsttherapeut und als Therapeut des Publikums. Der Schauspieler, der sich durch seine Rollen analysiert,
analysiert auf gewisse Weise auch sein Publikum.
Verschmelzen Sie immer mehr mit Ihrer Bühnenfigur, dem Hassias?
Nein, das driftet immer weiter auseinander. Wenn ich mich auf der Bühne heute authentisch vertreten wollte, gäbe es so viele Fettnäpfchen, in die ich treten würde. Deshalb würde ich viel zu viel nachdenken, sodass die Figur immer unauthentischer werden würde. Meine Aufgabe besteht eher darin, diese beiden unterschiedlichen Kräfte zusammenzuhalten, ohne dabei Angst zu haben. Vor zehn Jahren konnte ich noch unbefangener auf die Bühne gehen und voraussetzen, dass die Menschen mich verstehen. Heute gibt es so viele Möglichkeiten, Dinge absichtlich misszuverstehen, dass wir zum Teil absurde Diskussionen führen. Wenn Intellektuelle nicht mehr unterscheiden können zwischen einem echten Nazi und Dieter Nuhr, dann haben sie diese Bezeichnung nicht verdient.
Welche Entzugserscheinungen haben Sie nach monatelangem Lockdown und abgesagten Tourneen?
Man wird wütend. Der Moment, 6.000 Leuten sagen zu müssen, dass heute Abend keine Vorstellung stattfindet, ist sehr schmerzhaft. Implodierende Energie ist keine gute Energie. Aber ich weiß, dass ich zum Beispiel durch einen Podcast meine Möglichkeiten erweitern kann. Ich wäre ein schlechter Kabarettist, wenn ich immer nur repetieren würde, was ich schon kann. Ich lasse mir von niemandem vorschreiben, was ich auf der Bühne sage. Der Zeitgeist interessiert mich nicht. Mir geht es um Glaubwürdigkeit in einer immer orientierungsloser werdenden Welt des Affekts.
Wie sieht bei Ihnen derzeit ein lustiger Abend aus?
Ich kann überhaupt nicht lachen über deutsche Comedy. Aber bestimmte Filme finde ich sehr lustig. Ich kann auch über schlichte Dinge lachen wie den „Musikantenstadl". Oder wenn ich sehe, wie Florian Silbereisen den Kapitän auf dem „Traumschiff" spielt und dabei Tattoos auf dem Unterarm hat, gedreht in einer Kulisse auf Greenscreen. Das ist der beste Witz der letzten zehn Jahre. Harald Schmidt war letztes Mal nicht dabei. Schade. Er ist jemand, den ich durchaus witzig finde. Er ist nach wie vor ein feinfühliger und kluger Mensch, aber die jugendliche Energie scheint ihm etwas abhandengekommen zu sein.
Fänden Sie es reizvoll, anstelle von Schmidt beim „Traumschiff" mitzuspielen?
Das ist ehrlich gesagt der wahre Rassismus. Diese Serien werden stets nach Gendergerechtigkeit besetzt, und man sieht immer einen Farbigen, einen Asiaten und zwei Deutsche. Aber ich dürfte niemals Kapitän des „Traumschiffs" werden oder Tatort-Kommissar sein, sodass ich vielleicht mal Chef von Til Schweiger bin. Da gibt es viel aufzuarbeiten.
Helfen Sie uns bei der Aufarbeitung?
Also, ich will nicht Unbelehrbaren helfen, die sollen unbelehrbar bleiben und selbst entscheiden, wie weit sie gehen, um klüger zu sein. Sondern ich lasse mich gern auf Menschen ein, die Lust auf mich haben. Aber wenn das irgendwann zu viel Kraft kostet, mache ich es nicht mehr. Ich habe schon genug in meinem Leben geleistet.