Als der Berliner Galerist Jan Linkersdorff erfährt, dass der künstlerische Nachlass seines ehemaligen Zeichenlehrers unter den Hammer kommt, macht er sich sofort auf den Weg. Die Mission: die Werke des einst bekannten DDR-Künstlers Jürgen Wittdorf sichern.
An einem freundlichen Tag Ende Mai 2019 fährt Jan Linkersdorff in der Nähe des Tempelhofer Damms direkt auf ein Industriegebiet zu. Komisch, denkt er, kein gediegenes Ambiente wie sonst bei Kunstauktionen üblich. Auch im Gebäude warten Überraschungen: „Ich schaute auf meterlange Regalreihen, vollgestopft mit allem, was das Trödlerherz begehrt." Dazwischen irgendwo verbirgt sich das, wofür er den Ausflug in letzter Minute angetreten hat: die Kunst Jürgen Wittdorfs. Hastig löst er für fünf Euro seinen Bieterausweis, damit er überhaupt ins Geschäft kommen kann. Schnell wird ihm klar: „Hier werden ganze Nachlässe an meistbietende Trödler verkauft". Letztere drücken sich bereits um die Regale. Zum Glück sind auch einige Kunstfreunde da. Sie sind verabredet, um den Wittdorfschen Nachlass zu ersteigern.
Zügig nimmt die Auktion ihren Lauf, bald schon werden drei Positionen aufgerufen: Arbeiten, die gerahmt jahrzehntelang in Wittdorfs Wohnung hingen, schön in Mappen verstaute Zeichnungen und Keramikteller. Für Letztere interessiert sich Linkersdorff besonders und will mitbieten. Zu Gesicht bekommt er die Keramiken nicht. Zunächst sind die gerahmten Bilder dran. Einer der Bekannten soll sie ersteigern. Die Trödelhändler „riechen Lunte", bieten kräftig mit und treiben damit den Preis in die Höhe. Der Kunstfreund bekommt kalte Füße und steigt unerwartet aus. Im Bruchteil einer Sekunde, gerade noch rechtzeitig bevor der Zuschlag an einen der Trödler geht, nimmt Linkersdorff all seinen Mut zusammen und bietet beherzt mit. Sein Puls rast. Fieberhaft überschlägt er, wie hoch er mit dem Preis gehen kann. Zum Glück verlieren die Mitbietenden die Lust, bevor seine finanzielle Obergrenze erreicht ist. Während die Republik stark auf den Nachmittagskaffee zusteuert, fällt im „Auktionshaus Ulrich Beier, Versteigerungen aller Art" der Hammer. Ehe Linkersdorff es sich versieht, ist er stolzer Besitzer von 200 Bildern – an sich wollte er zum Andenken an den alten Zeichenlehrer nur eines oder zwei seiner Werke ersteigern. „Dass ich damit einen zeitgenössischen Kunstnachlass vor der Zerschlagung bewahrt habe, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst", sagt er bescheiden.
Wittdorf schuf Kunst in über 50 Jahren
Viel Zeit zum Nachdenken bleibt ihm ohnehin nicht, denn schon sind die Keramiken dran. Auch hier erhält er den Zuschlag. Die Zeichnungen gehen an einen anderen Wittdorf-Fan. Wie sich viel später herausstellt, hat Linkersdorff genau die richtige Entscheidung getroffen. Doch zunächst gilt es, den frisch erworbenen Schatz sicher in heimische Gefilde zu bringen. Wieder wird es hektisch, denn für den Abtransport vor Ladenschluss bleiben ihm etwa drei Stunden. Er mobilisiert Freunde. In Windeseile wird verladen, im Schneckentempo geht es im Konvoi zur Galerie. Alles geht glatt, Bilder und Keramiken werden sicher verstaut. „Zum Glück hatte ich zufällig in den Tagen davor das Lager aufgeräumt", meint er nachdenklich. Für sich im „Keller bunkern" will er Wittdorfs Arbeiten nicht. Viele Menschen aus der ehemaligen DDR verbinden positive Erinnerungen mit Wittdorfs Werken. Sie sollen nicht wie viele andere Kunstwerke aus dem Osten sang- und klanglos irgendwo in der Versenkung verschwinden.
Mit der dann folgenden Sichtung der Bilder wird Linkersdorff bewusst, dass er Wittdorfs Lieblingsstücke ersteigert hat. In über 50 Schaffensjahren hatte der Künstler seine liebsten und besten Arbeiten gerahmt und sie in seiner Wohnung aufgehängt. Zeitlebens konnte und wollte er sich nicht von ihnen trennen. Liebevoll restauriert der Galerist die Rahmen und ersetzt fast blindes Glas. Im KV Ost in Mitte findet er einen geeigneten Ausstellungsort nebst weiterer Interessierter, die sein Anliegen tatkräftig unterstützen. Passenderweise heißt die erste Ausstellung nach Wittdorfs Tod „Lieblinge".
Neben dem eigentlichen Erwerbsvorgang ist bemerkenswert, wie das Leben die Wege der beiden so unterschiedlicher Persönlichkeiten miteinander verwoben hat. Gemeinsam ist beiden, dass sie viele Jahre ihres Lebens in der DDR verbrachten. Voneinander zunächst unbemerkt lebten sie im heute angesagten Berliner Kiez Friedrichshain. Als der Galerist gegen Ende der 1960er-Jahre das Licht der Welt erblickte, widmete sich der Künstler dort der Darstellung junger Menschen. Später wurden diese Arbeiten im Osten unter dem Namen „Zyklus der Jugend" bekannt. Zu sehen sind Jugendliche in alltäglichen Situationen: beim Schwimmtraining, auf dem Motorrad oder nackt am Strand. Für das Regime schien das zu eigenbestimmt und rebellisch. Der Jugend gefiel, was Wittdorf schuf. Sie identifizierten sich mit seiner Arbeit und der für ihn typischen Bildsprache. Dank wachsender Beliebtheit arrangierten sich die Funktionäre letztendlich mit ihm und seiner Kunst.
Anfang der 1980er-Jahre entschied sich Linkersdorff für eine Ausbildung zum Tischler. Wie vielen blieb ihm der Weg zum Abitur verwehrt. Er ergatterte eine begehrte Lehrstelle an der Komischen Oper und schuf damit gute Voraussetzungen für seine heutige Tätigkeit als Galerist. Aus Mangel an einem adäquaten Arbeitsplatz schob er einige Zeit Kulissen am ehemaligen Ausbildungsort. „Eine echte Perspektive war das nicht" meint er in der Rückschau. Erfolgreich bewarb er sich bei der rennomierten Galerie Unter den Linden und machte erste Erfahrungen mit dem Sammeln von Keramik. Im Laufe der Jahre wurde das zur bis heute ungebrochenen Herzensangelegenheit.
Die Schwester schlug das Erbe aus
Die Arbeit in der Galerie inspirierte ihn zu eigenen künstlerischen Ambitionen. Er belegte Zeichenunterricht im Haus der jungen Talente. Wittdorf wurde sein Lehrer, die Lebenswege kreuzten sich zum ersten Mal. Etwa eineinhalb Jahre arbeiteten sie miteinander, dann hatte der Jüngere andere Pläne. „Das Talent für die Kunst reichte nicht", sagt Linkersdorff und orientierte sich in Richtung Kommunikation und Mediengestaltung. Die Wende wirbelte das Leben der beiden ordentlich durcheinander. Für Linkersdorff begann der Flug in eine nie gekannte Freiheit mit neuen Möglichkeiten. Er genoss das Leben im aufblühenden Berlin. Schließlich landete er für viele spannende Jahre im Verlagswesen. Für den Älteren hingegen brach ein System zusammen, das ihn als anerkannten Künstler in der DDR getragen und gefördert hatte. Aufträge und Ausstellungsmöglichkeiten schwanden, künstlerische Lehreinrichtungen wurden abgewickelt.
Bis etwa 2011 malte Wittdorf weiter, doch langsam ließen seine körperlichen und geistigen Kräfte nach. Essen musste er trotzdem. Täglich ging er die wenigen Meter von seiner Wohnung vorbei an der Studio Galerie bis zur Garbe in der Frankfurter Allee. Das Restaurant ist eine soziale Einrichtung, die auch heute noch günstigen Mittagstisch anbietet. Weil er nicht bezahlen konnte, kam es zu einem „Deal": Bilder gegen Mittagessen. Das Ergebnis können Gäste nach wie vor an den Wänden im Restaurant bestaunen. Im Herbst 2012 fiel der Künstler auf seinem Weg auch in der Studio Galerie auf. Linkersdorff hatte die Galerie etwas früher im Jahr übernommen. Zunächst konnte er die sich langsam am Schaufenster vorbeibewegende, etwas korpulente Figur in dunkler Lederkluft nicht zuordnen. Später deuchte ihm: „Das muss mein alter Zeichenlehrer gewesen sein". Bei nächster Gelegenheit kamen sie ins Gespräch. Sie stellten fest, dass Wittdorf in Sichtweite und nur wenige Meter hinter der Galerie wohnte.
Im Dezember 2018 starb der Künstler in Berlin: dement, verarmt, verschuldet und mit ungeregeltem Nachlass. Die betagte Schwester schlug das Erbe aus, die Stadt Berlin wurde aktiv. Sie regelte diese Angelegenheit, wie das in derartigen Fällen üblich ist: Die gesamte Hinterlassenschaft landete beim Auktionshaus. Durch Zufall erfuhr Linkersdorff von der Versteigerung und fuhr hin. „Dass ich am Abend einen bedeutenden Teil des Lebenswerks meines alten Zeichenlehrers mit nach Hause bringen würde, hätte ich mir morgens nicht träumen lassen" sagt er zufrieden. Nun lagert er sicher unweit des Orts seiner Entstehung und wartet auf die nächste Ausstellung. So schließt sich ein Kreis – diese Geschichte ist für den Erhalt zeitgenössischer Kunst aus der DDR gut ausgegangen.