Einer der bekanntesten Geburtstagssongs wurde vor 40 Jahren als Single veröffentlicht. Dass mit Stevie Wonders Lied „Happy Birthday" eigentlich Martin Luther King Jr. geehrt wird, wissen vermutlich die wenigsten.
Es ist der stimmungsvolle und scheinbar gutgelaunte Abschluss eines Albums, das Stevie Wonder sozusagen als Comeback dient. Doch „Happy Birthday", der letzte Track von „Hotter than July", ebnet dem souligen Funk-Genie nicht nur den Weg in die 80er-Jahre – es hat auch einen ernsten Hintergrund und bringt in den USA gar einen Feiertag hervor: den Martin Luther King Day. Dieser wird in den Vereinigten Staaten seit 1986 jährlich am dritten Montag im Januar gefeiert, King selbst wurde am 15. Januar 1929 geboren. Wonder selbst sagt später einmal: „Seinen Geburtstag als nationalen Feiertag zu bestimmen, würde ein Feiertag für alle Amerikaner sein. Dr. King war ein Sieger für Gerechtigkeit und Freiheit."
Ein Blick zurück: Das 1950 geborene Wunderkind Stevie Wonder veröffentlicht bereits 1962 sein erstes Album: „The Jazz Soul of Little Stevie". Hatten seine ersten vier Alben – alle innerhalb von zwei Jahren veröffentlicht – die Charts noch verfehlt, geht es mit „Up-Tight" 1966 richtig los. Parallel platzieren sich seine Singles immer höher. Zum Superstar wird er endgültig Anfang der 70er-Jahre mit Alben wie „Talking Book" oder „Innervisions" und Evergreens wie „You Are the Sunshine of My Life", „Sir Duke" oder „Superstition". Das Album „Songs in the Key of Life" verkauft sich mehr als elf Millionen Mal, erhält zwei Grammys, unter anderem in der Kategorie Album des Jahres. Es ist das dritte Jahr in Folge – das schafft vor ihm nur Frank Sinatra.
Der Mann ist auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens und veröffentlicht 1979 „Stevie Wonder’s Journey Through ‚The Secret Life of Plants‘". Die ebenso ambitionierte wie sperrige Mischung aus orchestralen Instrumentalstücken, finsteren Orgelpassagen, meditativem Vogelgezwitscher und bedächtigen Soulklängen scheint die Hörer wenig zu interessieren und verkauft nicht mal eine Million Einheiten. Doch dann legt er Ende September 1980 sein neues Album vor – „Hotter than July". Das beinhaltet die Hits „Master Blaster (Jammin’)" und „I Ain’t Gonna Stand for It". „Happy Birthday" schließlich wird im April 1981 als vierte Single veröffentlicht und schlägt voll ein. Es verkauft sich fast 650.000-mal und wird in Deutschland sein zweiter Top-Ten-Hit.
Schon früh ein Bewunderer Kings
Lange bevor Stevie Wonder die Musikbühne betritt, erntet Martin Luther King erste Lorbeeren als örtlicher Koordinator im Zuge des Busboykotts von Montgomery. Dieser wird ins Leben gerufen, nachdem sich Bürgerrechtlerin Rosa Parks 1955 weigert, sich in einem Bus an die Rassentrennung zu halten. Fast 100 Prozent der Afroamerikaner beteiligen sich an dem Boykott im Zuge der Gerichtsverhandlung gegen Parks. Mehr als ein Jahr lang nutzen die Menschen vermehrt Taxis oder gehen einfach zu Fuß, um zu zeigen, welch wichtiger Wirtschaftsfaktor der dunkelhäutige Bevölkerungsanteil ist.
Während dieser Zeit wird Wonder erstmals auf den charismatischen Prediger King aufmerksam, der vor allem wegen seines Ansatzes der Gewaltfreiheit zur Symbolfigur der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung wird. 1964 erhält dieser für sein Wirken sogar den Friedensnobelpreis. In dieser Zeit habe sich Wonder gefragt: „Wieso mögen die keine farbigen Menschen? Was ist der Unterschied?" Und in seiner typischen Selbstironie fügt er hinzu: „Ich kann den Unterschied immer noch nicht sehen." Wonder konnte als Frühgeborener nur in einem Inkubator überleben – seine Blindheit resultiert daraus.
Kein Wunder also, dass er Kings Beisetzung fünf Tage nach dem Attentat beiwohnt, das am 4. April 1968 in Memphis, Tennessee, auf den Bürgerrechtler verübt wird. Und das nur einen Tag, nachdem er in seiner Rede „I’ve Been to the Mountaintop" auch auf Drohungen gegen ihn eingeht und sagt, er wünsche sich ein langes Leben. King ist 29 Jahre alt, als ihn auf dem Balkon des Lorraine Motels ein tödlicher Schuss trifft. Das Motel in Memphis wird 1991 zum National Civil Rights Museum umgebaut und zeichnet den Weg der Bürgerrechtsbewegung nach – von den Anfängen der unmenschlichen Verschleppungen aus afrikanischen Ländern bis hin zu den Protesten gegen die Rassentrennung.
Langer Kampf für einen Gedenktag für Martin Luther King
Gemeinsam mit afroamerikanischen Superstars wie Harry Belafonte, Aretha Franklin, Mahalia Jackson, Eartha Kitt, Diana Ross und vielen Politikern und Pastoren betet Stevie Wonder während der Beisetzung für eine gleichberechtigte Welt und verspricht, sich weiterhin für den Kampf für die Freiheit einzusetzen. In einem Interview mit der „Berliner Zeitung" sagt er später einmal: „Wenn ich rassistische Äußerungen höre, dann muss ich immer lachen. Nicht, weil ich die Unterschiede sowieso nicht sehen kann, sondern weil ich weiß, dass sie Bullshit sind … Hass ist nicht akzeptierbar auf diesem Planeten!"
Auf der Beerdigung trifft er auch auf John Conyers. Das Mitglied der demokratischen Partei ist zu dieser Zeit Mitglied des US-Repräsentantenhauses und vertritt von 1965 bis 2017 den jeweiligen Kongresswahlbezirk des Bundesstaates Michigan. Lange bevor Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen ihn erhoben werden, bringt er einen Antrag in den Kongress ein – es solle ein Gedenktag für Martin Luther King geschaffen werden. Diese Begegnung scheint eine Art Initialzündung für Stevie Wonder zu sein. Seitdem bemüht er sich schier rastlos darum, viele bekannte Persönlichkeiten von Bob Marley bis Michael Jackson dafür zu gewinnen, ihn bei dem Vorhaben zu unterstützen.
Um für diese Kampagne zu werben und um Kings Verdienste gegen die Unterdrückung und die soziale Ungerechtigkeit gegenüber Afroamerikanern in den Vereinigen Staaten zu ehren, schreibt Stevie Wonder sein „Happy Birthday", eine synthielastige Produktion und ein eingängiges Stück Popmusik. Noch heute schallt es für Geburtstagskinder aus allen möglichen Lautsprechern und ist neben „Zum Geburtstag viel Glück" oder Rolf Zuckowskis „Wie schön, dass du geboren bist" auch hierzulande wohl einer der am häufigsten benutzten Songs zum Jubeltag. Doch vorerst veröffentlicht er den Song nicht.
Nach einem Jahrzehnt voll aufgeheizter politischer und sozialer Stimmung erklärt sich erst der damalige US-Präsident Jimmy Carter Ende der 70er-Jahre dazu bereit, den Gesetzentwurf zu unterstützen. Gleichzeitig sieht Wonder die Zeit reif dafür, seinen schon Jahre zuvor komponierten Song nun endlich zu veröffentlichen. Die Innenseite der Plattenhülle von „Hotter than July" ist mit Szenen von Kings Beerdigung, einem Porträtfoto von ihm und einer Aufforderung von Wonder bestückt: „Wir haben immer noch einen langen Weg vor uns, bevor wir die Welt schaffen, die sein Traum war. Wir in den Vereinigten Staaten dürfen weder sein Opfer noch seinen Traum vergessen."
Der Optimismus, mit dem Wonder an die Schaffung eines Ehrentages geht, ist wohl selbst für Coretta Scott King zu viel. Die Witwe von Martin Luther King sagt zu Wonder: „Ich wünsche Dir Glück, wirklich. Wir leben in einer Zeit, in der das aber wohl nicht geschehen wird." Es folgt eine Tour zur Werbung für den Martin Luther King Day mit vielen Tiefpunkten, die jedoch ihren Höhepunkt in Washington, D.C., haben wird. Wo auch sonst? Kurz vor Ronald Reagans Amtseinführung in ebenjener Stadt versammeln sich rund 100.000 Menschen aus dem gesamten Land, um Künstler wie Diana Ross oder Jesse Jackson sprechen zu hören. Als Stevie Wonder die Bühne betritt, jubeln und singen sie: „Happy Birthday!"
„Wer nicht fragt, bekommt auch nichts" als Motto
Ronald Reagan selbst bleibt erst mal unbeeindruckt von all dem. Doch es folgen bewegende Auftritte von Stevie Wonder und Coretta Scott King bei Anhörungen vor dem Kongress auf der einen Seite und auf der anderen hasserfüllte Reden von republikanischen Politikern. Die Stimmung scheint dermaßen aufgeheizt, dass sich im Endeffekt sogar ein großer Teil der Opposition für die Schaffung eines Gedenktages ausspricht – mit 78 zu 22 Stimmen. Reagan unterzeichnet schließlich im November 1983. Bezeichnend für den strukturellen Rassismus ist es wohl, dass der Martin Luther King Day nur langsam in allen 50 Bundesstaaten umgesetzt wird, zuletzt in South Carolina im Jahr 2000.
Stevie Wonder tritt zu dem Gedenktag immer wieder auf. 2014 ehrt ihn Barack Obama mit der Freiheitsmedaille des Präsidenten. Der erste afroamerikanische Präsident der USA und unvergleichlicher Charismatiker erzählt dabei, dass seine erste Platte eine von Stevie Wonder war. Der Multi-Instrumentalist selbst bringt das Ergebnis seines langen Kampfes später mal kurz auf den Punkt: „Wer nicht fragt, bekommt auch nichts." Sicher bleibt er als Musiker vielen Menschen in Erinnerung, doch er gibt auch einmal zu Protokoll: „Deine Fähigkeiten bringen dich vielleicht an die Spitze, aber du brauchst Charakter, um dich dort zu halten." Diesen hat er eindrucksvoll bewiesen.