Die Corona-Krise zwingt die deutsche Bildung auf die nächste Stufe. Dazu trägt auch Prof. Armin Weinberger bei. Der Spezialist für digitale Lernumgebungen entwickelt mit europäischen Partnern eine Suchmaschine für hochwertige, frei verfügbare Lehrmaterialien für Lehrkräfte.
Herr Prof. Weinberger, der Digitalpakt für die Schulen hat mittlerweile ein Volumen von 7,15 Milliarden Euro. Sind wir tatsächlich vorangekommen?
Tatsächlich ja. Wir sind in der Corona-Krise auf Stufe zwei von drei gelangt – weil wir keine Wahl mehr hatten. In der ersten Stufe begreift man, dass Schüler Medienkompetenz benötigen. In der zweiten Stufe sehen wir, dass wir uns der Medien, des Internets bedienen können, um dort Lehrmaterialien zu finden und mithilfe von Medien lernen können. Die dritte Stufe wäre, dass ich nicht nur digitale Lehrmittel einsetze, sondern sie auch selbst erstellen, modifizieren und auf meine Bedürfnisse, auf die Bedürfnisse meiner Schüler anpassen kann. Sprich, Lernumgebungen zu erstellen und ganz unterschiedliche Lernarrangements – zu Hause, in der Schule, alleine oder in der Gruppe beispielsweise – miteinander zu orchestrieren.
Die deutsche Bildungslandschaft hat sich im Eiltempo in den vergangenen 16 Monaten digitalisiert. Aber wird das Geld aus Ihrer Sicht derzeit richtig eingesetzt?
Nordrhein-Westfalen hat kürzlich für mehr als 2,6 Millionen Euro eine Drei-Jahres-Lizenz des digitalen Brockhaus angeschafft. Da könnte man sich schon fragen, ob man dort schon von Wikipedia gehört hat. Wenn die öffentliche Hand so viel Geld ausgibt, weckt dies natürlich Begehrlichkeiten. Aber die Schulbuchverlage müssen sich fragen, wie ihr Geschäftsmodell in Zukunft angesichts von offen verfügbaren Lehrmaterialien aussieht, die es eben schon jetzt und in großer Zahl und Bandbreite gibt.
Zum Beispiel?
Virtuelle Simulationen, virtuelle Labore, Lernspiele wie „Kahoot!" oder die Khan Academy sind Beispiele für die mittlerweile sehr breite Auswahl an offenen Lehrmaterialien oder OER (Open Education Resources). Dazu gehören aber auch Youtube-Videos und die bereits erwähnte Wikipedia.
Sie entwickeln derzeit mit Partnern eine Open-Teach-Plattform. Was für ein Projekt ist das?
Es ist ein EU-gefördertes Projekt, das nun mit dem Lernsoftware-Hersteller IMC, einer deutsch-griechischen Schule und einer portugiesischen Initiative entwickelt wird – eine Metasuchmaschine für gutes Lehrmaterial. Dieses kann man bewerten, miteinander teilen und modifizieren.
Open Teach stellt keine eigenen Lehrmaterialien zur Verfügung. Wozu braucht es also diese Technologie?
Es gibt mittlerweile unzählige Plattformen, die Content für Lehrer wie Aufgaben, Lernspiele, Podcasts, Grafiken und so weiter zur Verfügung stellen – die Open Education Resources, die unter einer Creative Commons License erstellt wurden. Das heißt, sie hat Urheber, kann aber geteilt und je nach Stufe der Lizensierung modifiziert werden. Wir entwickeln nun eine Metasuchmaschine, die dieses Lehrmaterial findet. Wir kuratieren es. Sie können sich dies wie die Fünf-Sterne-Bewertung bei Amazon oder die Restaurant-Bewertungen bei Google Maps vorstellen. Die Community der Lehrkräfte soll dann die Bewertungen vornehmen.
Wie und nach welchen Kriterien bewerten die denn die Materialien?
Wir haben systematisch andere Plattformen analysiert, die international Lehrmaterialien bewerten, und möchten dies im europäischen Kontext handhabbarer machen. Das heißt also schneller, einfacher, transparenter für die Lehrkräfte.
Profitieren von offenen Lehrmaterialien auch Wirtschaftsunternehmen, die eigene Inhalte für Schüler ins Internet stellen können?
Es gibt sehr gute Lehrmaterialien, die von Verbänden, Stiftungen oder Wirtschaftsunternehmen erstellt wurden. Wenn aber eine Einflussnahme der Schüler feststellbar ist, können Lehrer dies auch über Open Teach transparent machen und entsprechend markieren, damit diese erst gar nicht weiter verbreitet werden.
Wie sieht denn das Klassenzimmer in fünf Jahren aus?
Ich befürchte, dass einiges wieder zurückgedreht wird. Ich erhoffe mir aber, dass man größere Wertschätzung für unterschiedliche Lern-Arrangements, digital oder in Präsenz, an den Tag legt. Lernende bilden eine Gemeinschaft, aber nicht alle müssen immer nach vorne zur Tafel, zum Lehrer schauen. Einige können auch Lerngruppen bilden, die mobile Geräte selbstverständlich verwenden: für Lernspiele und Hausaufgaben auf dem Smartphone zum Beispiel, die man dann untereinander begutachten kann. Dazu gehört auch, dass es nicht mehr kategorisch heißen muss: „Handy weg, es ist jetzt Unterricht."