Nach der coronabedingten Absage fast aller winterlichen Hallenveranstaltungen hatte die Elite der europäischen Spring- und Dressurreiter auf die Freiluftsaison zur Vorbereitung auf die Olympischen Spiele gehofft. Doch dann schlug im Februar das Herpes-Pferde-Virus zu – bis Mitte April war der Reitsport lahmgelegt.
Der Start des gefährlichsten, höchstdotierten und wegen tödlicher Verletzungsgefahr für die Tiere hochumstrittenen Hindernisrennens der Welt namens Grand National war 2021 für den internationalen Reitsport so etwas wie eine Erlösung. Denn mit dem Sieg der 31-jährigen Irin Rachael Blackmore, der ersten Frau überhaupt, die auf dem Aintree Racecourse nahe Liverpool triumphieren konnte, endete am 10. April 2021 ein zweimonatiger Shutdown, der im Februar 2021 durch den Ausbruch des equinen Herpes-Virus EHV 1 bei einem Event im spanischen Valencia ausgelöst worden war. Obwohl Herpes-Erkrankungen bei Pferden eigentlich nichts Ungewöhnliches sind, weil diese meist im Winter oder Frühjahr ohne größere – über etwas Fieber, Appetitlosigkeit oder leichte Atemwegserkrankungen hinausgehende – Gesundheitsbelastungen verlaufen und 70 bis 90 Prozent der Tiere Herpesviren in sich tragen, war in Valencia diesmal alles anders und viel gefährlicher.
Denn beim Reitturnier CES Valencia Tour, wo seit 1. Februar rund 750 Pferde aus ganz Europa zusammengekommen waren, war es laut Angaben des Internationalen Reitsportverbandes FEI rund um den 21. Februar 2021 zum schlimmsten und aggressivsten EHV-Ausbruch der vergangenen Jahrzehnte mit einer neuen Herpes-Variante gekommen. Was vor Ort aber zunächst zu spät erkannt wurde. Die betroffenen Tiere wurden nicht rechtzeitig abgesondert, schon ein Beschnuppern zwischen zwei Pferden genügt zur Virusübertragung. Einige Reiter nahmen daher unwissentlich ihre erkrankten Tiere mit zurück in den heimischen Stall oder zum nächsten Event, beispielsweise ins ferne Doha, wo eines der lukrativsten Springreiter-Turniere der Global Champions Tour vor der Tür stand. Das Doha-Turnier musste nach neun Tagen abgebrochen werden, da einige Pferde Krankheitssymptome aufgewiesen hatten.
Das Turnier in Doha wurde nach neun Tagen abgebrochen
In Valencia selbst spielten sich zehn Tage nach dem Ausbruch dramatische Szenen ab. Von über 100 Pferden in Isolation zeigten 84 starke Symptome, elf Tiere mussten in Kliniken eingeliefert werden, wo Tierärzte um das Leben der Pferde kämpften, mindestens vier Pferde waren nicht mehr zu retten. Die Selbstheilungskräfte der Pferde waren bei dieser aggressiven Herpes-Variante, die das zentrale Nervensystem durch Einblutungen in das Rückenmark befallen hatte, offenbar überfordert. Das hatte neurologische Ausfälle wie die Beeinträchtigung des Gleichgewichtssinns oder Lähmungserscheinungen der Gliedmaßen, des Afters und der Blase zur Folge. Die betroffenen Pferde konnten sich nicht mehr selbstständig auf den Beinen halten, mussten mithilfe von Gurten aufgerichtet werden. Zur Behandlung kam eigentlich nur der Einsatz von Cortison infrage, was zwar einige Tiere vor dem Tod bewahren konnte, aber sie wegen Folgeschäden oder Nebenwirkungen für künftige Teilnahmen an Spitzen-Events untauglich machte.
Zwar gibt es längst Impfstoffe gegen das equine Herpesvirus. Aber eine internationale Impf- oder Meldepflicht war nicht eingeführt worden. Diesbezüglich hatte der deutsche Galopprennsport in Gestalt des Dachverbands Deutscher Galopp Anfang März angesichts der Vorfälle von Valencia eine Vorreiterrolle übernommen und ein Startverbot für ungeimpfte Pferde erlassen. Damit konnte das Ansteckungsproblem aber letztendlich auch nicht aus der Welt geschafft werden, weil die gängigen Vakzine noch keinen absolut sicheren Schutz vor einem tödlichen neurologischen Verlauf der Krankheit bieten können. Und weil in Valencia auch Tiere erkrankt waren, die zuvor gegen Herpes geimpft worden waren. Damit nicht genug stellte sich bald heraus, dass das Virus bei trächtigen Stuten Fehlgeburten oder geschwächten Nachwuchs verursachen konnte. Was bei den Pferdebesitzern Panik und einen Run auf Impfseren ausgelöst hatte, von denen es vergleichbar mit der menschlichen Corona-Situation nicht genügend Dosen auf dem Markt gab. Das Impfen machte laut Tierarzt-Experten nur Sinn, wenn der gesamte Stall-Bestand das Anti-Herpes-Vakzin erhalten konnte.
Nachdem sich das Herpesvirus bei Pferden in immer mehr Ländern ausgebreitet hatte und mindestens 14 Tiere verendet waren, zog die FEI am 1. März 2021 die Notbremse und verkündete für Europa einen zunächst bis 28. März befristeten Turnierstopp für sämtliche Disziplinen des Reitsports. Wodurch natürlich die Vorbereitungen für den Saisonhöhepunkt, die Olympischen Spiele, erheblich gestört wurden und damit gewissermaßen eine ganze Sportart lahmgelegt wurde. Die Gefahr, dass die internationale Reiterelite ohne jegliche Wettkampfpraxis in Tokio an den Start gehen müsste, wurde durch die am 12. März von der FEI verordnete Verlängerung der Turniersperre auf dem europäischen Kontinent bis zum 11. April weiter verschärft. Daher musste das schon im Jahr 2020 wegen Corona abgesagte Weltcup-Finale, das heuer vom 31. März bis 4. April in Göteborg stattfinden sollte, zum zweiten Mal in Folge gestrichen werden.
„Die Verlängerung der Sperre ist für alle schwierig", so die FEI-Generalsekretärin Sabrina Ibánez, „und der Verlust des FEI-Weltcup-Finales für ein zweites Jahr ist katastrophal, insbesondere für die qualifizierten Reiterinnen und Reiter. Wir können EHV nicht ausrotten, da es in vielen Ländern endemisch ist, aber wir müssen zusammenarbeiten, um die Übertragung dieses speziellen Stammes zu minimieren. Wir fordern alle in Europa ansässigen FEI-Athleten dringend auf, das Reisen mit den Pferden während dieser längeren Stillstandzeit zu vermeiden, da das Reisen ein sehr klarer Risikofaktor ist. Leider ist diese zusätzliche Sperrung entscheidend, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, damit wir den Rest der Saison erhalten, unsere Athleten und Pferde wieder sicher in den Wettkampf bringen und denjenigen, die nach Tokio streben, so lange wie möglich Zeit geben können, um ihre Pferde auf die Spiele vorzubereiten."
Den deutschen Olympia-Kandidaten wie den Springreitern Marcus Ehning oder Christian Ahlmann blieb nach der FEI-Entscheidung nichts anderes übrig, als ihre Pferde wie schon durch die Corona-Zwangspause bedingt weiter auf dem heimischen Hof in Form zu halten. „Wir versuchen die Pferde im Moment weiter fit und in Kondition zu halten", so Christian Ahlmann. „Aber das Sprung- und Parcours-Training, das speziell für die Turniere ansteht, fällt erst einmal weg." Einen gänzlich anderen Weg ist Springreiter Daniel Deußer gegangen, der sich mit seinen Pferden in den USA durch eine über zehn Wochen dauernde Teilnahme an einer Florida-Turnierserie für Olympia in Bestform bringen konnte. Er konnte dabei sieben Siege erringen und damit auf eine der vordersten Weltranglisten-Positionen vorrücken. „Das war überragend, was er da geleistet hat", so das Resümee von Bundestrainer Otto Becker. „Er spielt bei der Olympia-Planung eine sehr große und zentrale Rolle." Neben Deußer ist mit Andre Thieme ein weiterer deutscher Reiter auf der USA-Tour sehr positiv aufgefallen. Auch wenn Thieme eigentlich nur dem Perspektiv-Kader für Tokio angehört, so könnte er durch seine Leistungen plötzlich eine realistische Chance auf einen Tokio-Startplatz erhalten.
Die FEI vermeldete 18 Pferde-Todesfälle
Die Daheimgebliebenen rund um Ehning, Ahlmann oder Maurice Trebbel konnten aber schon Ende März 2021 durchatmen, weil die Deutsche Reiterliche Vereinigung beschlossen hatte, „nationale Pferdesport- und Zuchtveranstaltungen ab 29. März wieder zuzulassen – allerdings bis zum 11. April unter der Voraussetzung, dass dabei keine Pferde vor Ort eingestallt werden oder übernachten." Der Start in die hiesige Freiluftsaison könne laut dem nationalen Verband verantwortet werden, weil laut eigenen Erkenntnissen das Virus sich nicht über die Ställe der Valencia-Rückkehrer hinaus ausgebreitet hatte. Die FEI zog wenig später nach und hob das Verbot internationaler Turniere zum 12. April wieder auf. Offiziell vermeldete die FEI 18 Pferde-Todesfälle infolge einer Herpesvirus-Erkrankung. Eine exakte Zahl totgeborener Fohlen wurde nicht genannt. Welche hochkarätigen Events in den kommenden Monaten bis zu den Olympischen Spielen stattfinden werden, dürfte von der Entwicklung der Corona-Pandemie abhängig sein. Aktuell werden auf der offiziellen FEI-Liste Nations-Cup-Turniere beispielsweise für Vancouver-Langley oder Rotterdam geführt. Die schwerste und lukrativste Turnierserie im Springreiten namens Global Champions Tour hat bis zu den Olympischen Spielen Stationen in Madrid (21. bis 23. Mai), Ramatuellet/St. Tropez (27. bis 29. Mai), Cannes (3. bis 5. Juni), Stockholm (18. bis 20. Juni), Paris (25. bis 27. Juni) oder Monaco (1. bis 3. Juli) vorgesehen. Die deutschen Olympia-teilnehmer werden mit ihren Pferden vor dem Abflug nach Japan in Aachen ein Quarantäne-Quartier beziehen, was schon vor Ausbruch der equinen Herpes-Infektion beschlossen worden war.