Zeitgleich mit der Bundestagswahl am 26. September wählen die Berliner auch ein neues Abgeordnetenhaus. Die Aussicht, dass alles so weitergeht wie bisher, ist eher gering: Rot-Rot-Grün könnte zu Grün-Rot-Rot werden.
Kompetenzgerangel, große soziale Unterschiede und viel Migrationshintergrund. Berlin ist kein Land, aber mehr als ein Stadtstaat. Fast jeder der zwölf Bezirke ist so groß wie eine Großstadt in Westdeutschland. Alles in allem sind 3,7 Millionen Einwohner aus 191 Nationen zu regieren, mehr als in Thüringen.
SPD
Ende April hat die SPD offiziell ihre Landesvorsitzende Franziska Giffey (42) mit 86 Prozent der Stimmen zur Spitzenkandidatin für die Abgeordnetenhauswahl gewählt. Der gleiche Parteitag stellte auch die Landesliste für die Bundestagswahl zusammen. Der bisherige Regierende Bürgermeister Michael Müller bekam Listenplatz 1. Das war die Bedingung dafür, dass er den Weg frei macht. Die populäre ehemalige Neuköllner Bürgermeisterin gilt als Zugpferd. Programmatisch hat Giffey ihre Partei auf einen Kurs getrimmt, der „Keine Experimente" heißen könnte. Sie hat dafür den Slogan „Die fünf B’s" in die Welt gesetzt: Bauen, Bildung, beste Wirtschaft, Bürgernähe und Berlin in Sicherheit. Die SPD ist die Partei, die am längsten (West-) Berlin regiert hat, und das zeitweise mit absoluter Mehrheit. Nach der jüngsten Umfrage käme sie auf nur 17, die Grünen auf 27 und die Linke auf 14 Prozent. Die SPD müsste sich also womöglich mit einer grünen Bürgermeisterin abfinden. In der Partei streiten die Flügel um die Verkehrspolitik, den Wohnungsbau und die Identitätsfrage. Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert hatte den Partei-Oldie Wolfgang Thierse angegriffen, weil der die selbstbezogene Debatte über Minderheiten kritisierte. SPD-Fraktionschef Raed Saleh, der zweite Mann hinter Giffey, wird immer wieder wegen seines autoritären Führungsstils kritisiert – angeblich unterdrückt er jede offene Aussprache. Und noch ist die neue Prüfung der Doktorarbeit von Giffey nicht abgeschlossen. Alles in allem tritt die SPD also nicht bestens aufgestellt den Wahlkampf an.
Bündnis90/Die Grünen
Endlich soll es klappen: 2016 hatte ihnen die SPD mit knapp 22 Prozent der Stimmen den Rang abgelaufen (Grüne 15 Prozent). Jetzt wollen sie die „alten" Volksparteien auf die Plätze verweisen und das Rote Rathaus erobern. Die Umfragen geben das her: Seit Monaten liegen die Grünen konstant vorne. Jetzt nehmen sie mit der bisher eher unbekannten Bettina Jarasch (52) einen neuen Anlauf. Sie ist seit 2016 Mitglied des Abgeordnetenhauses, war Landesvorsitzende der Grünen, leitete als Mitglied im Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen die Religionskommission und ist praktizierende Katholikin. Nach der Abstimmung auf dem Landesparteitag, die sie mit fast 98 Prozent der Stimmen gewann, gratulierten ihr Ramona Pop, die Wirtschaftssenatorin, die als Realo selbst gerne Spitzenkandidatin geworden wäre, und Antje Kapek, die zu den „Fundis" zählende Fraktionsvorsitzende. Die beiden hatten sich, bevor es zum Machtkampf kam, auf Jarasch als Konsenskandidatin geeinigt. Das Programm, mit dem die Grünen antreten, ist eher pragmatisch und von etlichen Jahren Regierungserfahrung geprägt: Berlin ohne Autos mit Verbrennungsmotor? Ja, aber erst ab 2030. Mietendeckel? War richtig, jetzt müssen gemeinwohlorientierte Wohnungen auf anderen Wegen entstehen. Wohnungsbaukonzerne enteignen? Nur als letztes Mittel. „Es geht darum, unseren Planeten zu retten und gleichzeitig Berlin lebenswerter, sozialer, schöner, weltoffener und gerechter zu machen", beschreibt Grünen-Landeschef Werner Graf die Mission seiner Partei.
CDU
Der Spitzenkandidat der Berliner-CDU heißt Kai Wegner. Im Bundestag kennt man den 48-jährigen Politiker, doch den Berlinerinnen und Berlinern ist der CDU-Landesvorsitzende meist kein Begriff, obwohl er seit über 30 Jahren CDU-Mitglied ist. Gegenkandidaten gab es keine. Der gebürtige Spandauer –
er bezeichnet sich als „Berliner aus Leidenschaft" – präsentiert sich als Macher und Zuhörer. Sein Credo: Zusammenhalt statt Streit, gesunder Menschenverstand statt Ideologie. Die Wohnungsnot will er mit dem Neubau bezahlbarer Wohnungen mildern. Bei der Mobilität soll jeder das Fortbewegungsmittel wählen können, das er bevorzugt. Verbote und Einschränkungen für Autofahrer lehnt er ab. Sicherheit und Ordnung stehen für ihn nicht im Widerspruch zu einer weltoffenen, bunten und toleranten Stadt. Freiheit dürfe aber nicht auf Kosten der Sicherheit gehen. Die Berliner CDU gilt in der öffentlichen Wahrnehmung als wenig modern und „großstadttauglich". Angesichts der Dringlichkeit klingt das Ziel, Berlin bis 2040 zur führenden Umweltmetropole in Europa zu machen, wenig ambitioniert. Konkret sollen Tausende neue Bäume gepflanzt, mehr Dächer und Fassaden begrünt, weniger Müll produziert und der ÖPNV emissionsfrei werden. Aktuellen Umfragen zufolge liegt die Partei bei ungefähr 17 Prozent, etwa gleichauf mit der SPD, aber deutlich hinter den Grünen. Ein Zweier-Regierungsbündnis mit den Grünen gilt als unwahrscheinlich.
Die Linke
Wie schon 2016 geht der jetzige Bürgermeister und Kultursenator Klaus Lederer für die Berliner Linke ins Rennen. Knapp 88 Prozent der Delegierten stimmten beim letzten Landesparteitag für den 47-Jährigen. Lederer zählt zu den erfahrensten und bekanntesten Politikern der Partei und kommt bei Umfragen regelmäßig auf hohe Sympathiewerte. Der Koalitionspartner von SPD und Grünen gilt jedoch als angeschlagen, nachdem das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel für nichtig erklärt hat. Ein herber Rückschlag, galt doch das Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen als wichtigstes Projekt der Linken in der laufenden Legislaturperiode. die sich nun für eine Bundeslösung stark machen will. In der Wohnungspolitik setzt die Linke auf mehr Neubau von bezahlbarem Wohnraum und auf eine intelligente Verdichtung. Sie fordern zudem eine Mietenregulierung, ein Bodensicherungsgesetz für Bauland und Ankäufe von Wohnungsbeständen. Zudem unterstützt sie das Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co. enteignen". Die Partei will den „sozial-ökologischen Umbau" der Stadt voranbringen. Nicht mehr benötigte Infrastrukturen einer autogerechten Stadt sowie überzählige Gewerbeflächen sollen rückgebaut werden. Stattdessen soll es mehr Radwege geben und einen attraktiveren ÖPNV. Niemand soll weiter als 400 Meter von einer S- oder U-Bahn, Bus- oder Tramhaltestelle mit attraktiver Taktung entfernt wohnen. In Umfragen kommt die Linke auf 14 Prozent der Wählerstimmen. Demnach wäre eine Neuauflage der jetztigen rot-rot-grünen Koalition möglich, aber unter Fürhung dr Grünen.
FDP
Die Berliner FDP kürte auf ihrem Parteitag Sebastian Czaja mit fast 94 Prozent der Delegiertenstimmen zu ihrem Spitzenkandidaten für die Wahl zum Abgeordnetenhaus. Für den 37-jährigen gebürtigen Berliner ist die Aufgabe nicht neu. Schon bei der letzten Wahl 2016 war er Spitzenkandidat. Damals führte er die Partei nach fünf Jahren Abstinenz zurück ins Abgeordnetenhaus. Seither prägt er dort als Vorsitzender das Gesicht seiner Fraktion. Er hat jahrelang für die Offenhaltung des Tegeler Flughafens gekämpft, letztendlich vergeblich. Die Wohnungspolitik bildet auch im Wahlprogramm der FDP einen Schwerpunkt. Wie die CDU lehnt auch die FDP staatlich verordnete Regulierungen, Enteignungen oder die Deckelung der Mieten ab. Die FDP will Berlin zur „Chancenmetropole" machen, in der Bildung und Forschung, Wirtschaft und Wohnungsbau, Verwaltungsmodernisierung und Digitalisierung Priorität genießen. Die FDP strebt eine Regierungsbeteiligung an; im Wahltrend liegt sie bei ungefähr acht Prozent.
AfD
Die AfD Berlin wird von Kristin Brinker (49) als Landesvorsitzender geführt. Sie hat sich erst Mitte März auf einem Landesparteitag mit zwei Stimmen Mehrheit gegen Beatrix von Storch durchgesetzt. Die AfD trat 2016 mit Georg Pazderski als Spitzenkandidaten erstmals zur Wahl an und zog mit 14 Prozent der Stimmen als fünftstärkste Fraktion in das Berliner Abgeordnetenhaus ein. Aktuell liegt die AfD laut Meinungsumfragen bei zehn Prozent. Georg Pazderski, der Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus, ist eigentlich der starke Mann in der Berliner AfD. Er will wieder als Spitzenkandidat antreten, aber das hat Kristin Brinker auch vor. Die AfD Berlin will den Verkehr entzerren, tritt für mehr Wohnungsbau ein und prangert die „Geldverschwendung" durch den Senat an. „Deutschland. Aber normal" heißt für die Rechtsaußen-Partei: gegen die CO2-Abgabe, die Testpflicht für Schüler, die Ausgangssperre. Vom Berliner Verfassungsschutz wird die AfD mit nachrichtendienstlichen Mitteln als extremistischer „Verdachtsfall" beobachtet.