Die Grünen sind im Höhenflug, Annalena Baerbock hat das Kanzleramt im Blick. Zumindest sieht es nach derzeitiger Stimmungslage danach aus. Doch der Kurs der Partei birgt nicht unerhebliche Gefahren und Unwägbarkeiten.
Schlechter hätte der wichtigste Mann bei den Grünen es nicht timen können. Drei Tage vor der Präsentation von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock muss sich Michael Kellner in der Parteizentrale wegen Corona-Verdachts abmelden. Der Verdacht bewahrheitet sich, doch der politische Geschäftsführer von Bündnis90/Die Grünen hat Glück im Unglück, der Krankheitsverlauf geht glimpflich über die Bühne, mit ein bisschen Fieber und Schnupfen. Doch sein Landhaus in der brandenburgischen Uckermark wird er frühestens in der zweiten Maiwoche, zwei Tage nach seinem 44. Geburtstag wieder verlassen können.
Aber Kellner lehnt sich nicht zurück und lässt alles mal laufen, er hat buchstäblich „Hummeln im Hintern", wie er seinen Mitarbeitern lachend am Telefon gesteht. Kein Wunder, denn derzeit läuft es bei den Grünen wie geschmiert, und das ist zu einem erheblichen Teil sein Werk. Seit acht Jahren ist Kellner der Chef in seiner Partei für die politische Kommunikation. Seit 1998 begleitet er die Bundestagswahlkämpfe seiner Partei, die letzten drei Urnengänge im Bund und die letzte Europawahl hat er direkt geleitet. Als Kellner im FORUM-Interview vor knapp drei Jahren prophezeite, der nächste Wahlkampf könnte ein Kopf-an-Kopf-Rennen der Grünen mit der Union werden, gab es selbst von Parteimitgliedern ein mitleidiges Lächeln. In diesem Frühling müssen sich CDU/CSU fast schon Sorgen machen, dass sie den Anschluss zu den Grünen nicht verlieren. Denn je nach Umfrage liegt die Öko- und Klimapartei vier bis fünf Prozentpunkte vor den Christdemokraten und kratzt schon an der 30-Prozent-Marke.
Dem Chefstrategen bei den Grünen ist natürlich klar, dass sich solche Stimmungslagen schnell ändern können. Erinnerungen an den „Schulz-Zug" der SPD vor genau vier Jahren werden da wieder wach. SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz hatte nach einem furiosen Umfrage-Peak von 35 Prozent Ende April/Anfang Mai 2017 bei der Bundestagswahl im September mit 20,5 Prozent gerade noch ein Ergebnis mit einer Zwei vorne gerettet. Darum warnt der Bundesgeschäftsführer: „Jetzt bloß nicht übermütig werden." Auch wenn die Mitgliederzahlen auf 110.000 geradezu explodiert sind und es auch an üppigen Parteispenden derzeit nicht fehlt.
„Bloß nicht übermütig werden"
Wie immer im politischen Geschäft ist die eigene Stärke auch immer der Schwäche der Parteien-Konkurrenz zu verdanken, so Kellner. Die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz kommt aus dem 13- bis 15-Prozentkeller nicht raus, und die Union hat sich im April in der Kanzlerkandidatenfrage komplett selbst zerlegt und dazu den Imageschaden der Maskenskandale am Hals. Mit diesem offenbaren Machtvakuum bei der direkten Konkurrenz hat auch bei den Grünen niemand gerechnet.Die K-Frage der Union ist geklärt, die Partei könnte sich also wieder berappeln, und das könnte dann auf Kosten der Grünen geschehen. Es ist eine einfache Rechnung, die Union hat innerhalb eines Jahres in den Umfragen gut zehn Prozent verloren, die Grünen ungefähr zehn Prozent dazugewonnen.
Die Grünen grasen schon lange im bürgerlichen Milieu der Union und haben in den letzten knapp drei Jahren eine wahre Rosskur ihrer politischen Ausrichtung hinter sich. Der öko-fundamentale, linke Flügel existiert in der Parteiführung beinahe nicht mehr. Diese Strömung hatte es noch auf dem Bundesparteitag im Sommer 2017 fertiggebracht und den Grünen-Wahlsieger von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, wegen seiner vermeintlich autofreundlichen Klientelpolitik ausgepfiffen. Heute scheint so ein Verhalten bei den Grünen fast nicht mehr möglich zu sein. Wobei sich gezeigt hat, dass diese Strömungen, zumindest auf Landesebene, nicht gänzlich verschwunden zu sein scheinen. So forderten Unterstützer nach der letzten Landtagswahl in Baden-Württemberg den zum dritten Mal wiedergewählten Kretschmann auf, keine erneute Koalition mit der CDU als Juniorpartner einzugehen, was der bislang erfolgreichste Grünen-Landespolitiker rundheraus ablehnte – und den internen Richtungsstreit und Machtkampf schnell beendete. Dabei war klar, dass die Koalitionsentscheidung in Baden-Württemberg auch als Signal Richtung Berlin interpretiert werden würde.
Genau diesen bürgerlichen Kurs werden die Grünen vermutlich auch auf Bundesebene fahren, laut derzeitigen Umfragen sogar als Verhandlungsführer. Zwar betont Co-Parteichef Robert Habeck unermüdlich, wenn es nach ihm ginge, würde er lieber mit den Sozialdemokraten um Olaf Scholz regieren – doch das geben die Umfragewerte bei Weitem nicht her. Zwar will Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ohne jegliche Koalitionsaussage in den Wahlkampf gehen, doch stehen sowohl sie als auch ihr politischer Geschäftsführer Kellner klar für ein Bündnis mit der Union, auch wenn sie dies nicht so deutlich sagen – noch nicht. Denn der Kurs birgt auch Gefahren. So könnten ehemalige grüne Hochburgen unter dem Kurs der bürgerlichen Mitte in Mitleidenschaft gezogen werden. Damit wäre auch das bislang einzige Direktmandat der Grünen-Bundestagsfraktion in Gefahr.
„Grün" muss man sich leisten können
Bereits vor vier Jahren schaffte es die Berliner Direktkandidatin in Kreuzberg/Friedrichshain, Canan Bayram, nur knapp mit einem Vorsprung von 1,4 Prozent der Erststimmen vor dem Kandidaten der Linken, Pascal Meiser, während die Linke ihrerseits in dem Berliner Szene-Bezirk bei den Zweitstimmen mit acht Prozent deutlich vor den Grünen lag. Geht man nach der Stimmung in dem Bundestagswahlkreis 83 mit seinen über 225.000 Wahlberechtigten, findet der neue, offensiv bürgerliche Kurs von Bündnis90/Die Grünen nur wenig Freunde. Darauf angesprochen bringt es eine junge Mutter in der Marheineke Markthalle im eigentlich gutbürgerlichen Bergmannkiez auf den Punkt: „Das ist nur noch peinlich. Jetzt geht es bei den Grünen auch nur noch um den Machtanspruch und Personenkult, wie bei der CDU."
Was die Frau, Anfang 30, besonders umtreibt, sind die explodierenden Mieten: „Ein zweites Kind können wir uns gar nicht leisten, weil wir dann eine größere Wohnung bräuchten, und da gibt es nichts Bezahlbares hier in unserem Kiez." Womit die ehemalige Grünenwählerin auch schon bei der Linkspartei gelandet ist, die sich als einzige klar für eine radikale Mietpreisbremse und damit dem gerade vor dem Bundesverfassungsgericht gescheiterten Mietendeckel eingesetzt hat.
Die Angst vor einem sozialen Abstieg hat gerade nach fast 14 Monaten Corona-Maßnahmen in Deutschland erheblich zugenommen, so die Analyse mehrere Umfrageinstitute.
Ähnliche Stimmen wie aus Berlin-Kreuzberg hört man auch aus anderen deutschen Ballungsgebieten. Grün wählen heißt heutzutage offensichtlich, dass man sich das auch leisten können muss. Denn viele grüne Umweltprojekte werden auf jeden Fall die Energiepreise steigen lassen und sollen so, unter anderem, den individuellen Autoverkehr vor allem mit Verbrennern unattraktiver als bisher machen. Sicherlich ein grünes Leuchtturmprojekt, was aber in letzter Konsequenz an der Wahlurne auch den ein oder anderen gutverdienenden Wähler doch noch abschrecken könnte.